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1. Daß seine Freunde redefertig, brauchbar für das thätige Leben und gewandt würden, damit eilte Sokrates nicht; er glaubte vielmehr, vorher noch eine vernünftige Erkenntnis ihnen einflößen zu müssen. Denn wer diese Fähigkeiten, meinte er, ohne Vernunft besitze, dem könnten sie nur dazu dienen, ihn in Ungerechtigkeiten zu stärken und ihn in der Ausführung seiner schlechten Handlungen zu unterstützen.
2. Zuerst nun suchte er seinen Freunden eine richtige Erkenntnis der Götter beizubringen. Andere, die bei Unterredungen zugegen waren, wo er in der Weise zu einer solchen richtigen Erkenntnis hinleitete, haben dieselben bekannt gemacht. Ich war bei folgender Unterredung, die er mit Euthydemos hielt, zugegen.
3. Sage mir, Euthydemos, ist dir schon einmal eingefallen, darüber nachzudenken, mit welcher Fürsorge die Götter alles, was die Menschen nöthig haben, eingerichtet haben? – Nein, in der That bis jetzt noch nicht, antwortete jener. – Weißt du nicht, daß wir zuerst des Lichtes bedürfen, welches uns die Götter gewähren? – Freilich; denn wenn wir dies nicht hätten, wären wir ja wie die Blinden, trotz unserer Augen. – Aber da wir auch der Ruhe bedürfen, so geben sie uns die Nacht, die schönste Zeit der Ruhe. – Auch dieses ist sehr dankenswerth. –
4. Und noch mehr; die Sonne läßt uns durch ihr Licht die Tageszeiten und alles übrige erkennen, während die Nacht dunkel und ohne bestimmte Merkmale ist. Deshalb lassen die Götter in der Nacht die Gestirne leuchten, welche uns die Nachtzeiten anzeigen, und vermöge dessen können wir das, was wir nöthig haben, verrichten. – So ist es. – Aber noch mehr; der Mond macht uns nicht nur die Theile der Nacht, sondern auch die des Monats kenntlich. – Allerdings. –
5. Da wir ferner der Nahrung bedürfen, so lassen sie dieselbe aus der Erde herauswachsen und schenken uns passende Jahreszeiten dazu, die uns nicht nur für unser Bedürfnis, sondern auch zu einem angenehmen Genüsse vieles und mannigfaltiges geben – wie siehst du das an? – Auch dies, sagte er, ist sehr menschenfreundlich gehandelt. –
6. Ferner schenken sie uns auch das Wasser, das von so unschätzbarem Werthe ist, das im Verein mit der Erde und den Jahreszeiten alles uns nützliche hervorbringt und entwickelt, uns selbst ernähren hilft und alle unsere Nahrung durch sein Hinzukommen verdaulicher, gesunder und schmackhafter macht, und sie geben es uns im reichlichsten Maße, weil auch das Bedürfnis desselben so groß ist – wie siehst du das an? – Auch das ist ein Zeichen ihrer Fürsorge. –
7. Und wie denkst du darüber, daß sie uns auch das Feuer gaben, ein Schutzmittel gegen die Kälte, ein Gegenmittel gegen die Finsternis, ein Mitarbeiter bei jeder Kunst und bei allem, was die Menschen zu ihrem Nutzen verfertigen? Denn mit einem Worte, ohne Feuer bringen die Menschen sonst nichts von dem, was zum Leben nothwendig, ist, zu Stande. – Auch hierin erkenne ich ihre übermäßige Menschenliebe. –
8. Und daß die Sonne, nachdem sie im Winter sich gewendet hat, sich uns nähert und einiges zur Reife bringt, anderes, wenn seine Zeit vorüber ist, dörrt, und wenn sie dies zu Stande gebracht hat, nicht näher rückt, sondern umkehrt, damit sie uns nicht durch ihre allzu große Hitze schadet, und wenn sie wieder so weit sich entfernt hat, daß wir selbst merken, wir müßten vor Kälte erstarren, wenn sie noch weiter sich entfernte, daß sie dann sich wieder wendet und näher kommt und in der Gegend des Himmels ihren Kreislauf vollzieht, wo sie am meisten uns nützen kann? – Beim Zeus, sagte Euthydemos, auch dies sieht ganz so aus, wie wenn es um der Menschen willen vor sich gehe. –
9. Und daß sie endlich, da wir offenbar weder die Kälte noch die Hitze ertragen könnten, wenn sie plötzlich hereinbräche, daß die Sonne deswegen erst ganz allmählich sich nähert und ganz allmählich sich wieder entfernt, daß wir, ohne es zu merken, in beiden den höchsten Grad erreichen – wie siehst du das an? – Ich, sagte Euthydemos, erwäge schon das, ob überhaupt die Götter etwas Anderes thun, als für die Menschen sorgen; nur das eine verursacht mir noch Bedenklichkeiten, daß auch die andern lebenden Wesen an diesen Wohlthaten Theil nehmen. –
10. Ist es denn nicht klar, erwiderte Sokrates, daß auch diese der Menschen wegen geschaffen und groß gezogen werden? Denn welches andere Geschöpf hat von den Ziegen, Schafen, Rindern, Eseln und den übrigen Thieren so viele Vortheile zu genießen, als der Mensch? Denn, wie ich glaube, nützen sie mehr als die Pflanzen; wenigstens nährt und bereichert er sich von jenen so gut wie von diesen. Viele Menschen gebrauchen die Gewächse der Erde gar nicht als Nahrung, sondern leben, indem sie sich von der Milch ihrer Heerden, von Butter und Fleisch nähren. Darin aber stimmen alle Völker überein, daß sie die nützlichen Thiere zähmen und bändigen und sich zum Kriege und zu vielen andern Verrichtungen ihrer Hilfe bedienen. – Auch hierin stimme ich dir bei, sagte Euthydemos, denn ich sehe, daß selbst solche Thiere, die uns an Stärke weit überlegen sind, dem Menschen so gehorsam werden, daß er sie gebrauchen kann, wozu er nur will. –
11. Denke aber auch ferner daran, daß sie für das viele Schöne und Nützliche, weil es so verschieden unter einander ist, für jedes uns die geeigneten Sinneswerkzeuge gegeben haben, vermittelst deren wir alle Güter genießen; daß sie uns die Vernunft eingepflanzt haben, vermöge welcher wir, indem wir die sinnlichen Wahrnehmungen zu Gegenständen des Denkens und der Erinnerung machen, ermitteln können, wozu ein jedes Ding nützlich ist, und allerlei Mittel erfinden, das Gute zu genießen und das Böse von uns fern zu halten;
12. endlich daß sie uns auch die Fähigkeit, uns einander verständlich zu machen, gegeben haben, mittelst welcher wir alles Gute durch Belehrung einander mittheilen und gemeinsam genießen, uns über Gesetze einigen und in Staaten leben. – Ja, ja, Sokrates, die Götter müssen sehr für die Menschen besorgt sein. – Auch bedenke noch, daß sie, da wir nicht im Stande sind, auch für die Zukunft für das uns Zuträgliche zu sorgen, selbst uns Hilfe leisten, indem sie denen, welche sie um Auskunft bitten, mittelst der Weissagekunst den Ausgang der Unternehmungen verkündigen und sie über die besten Maßregeln belehren. – Dir aber, Sokrates, scheinen sie noch weit mehr als andern hold zu sein, wenn sie, ohne von dir befragt zu sein, dir bedeuten, was du thun sollst, und was nicht. –
13. Daß ich aber die Wahrheit sage, wirst du dann erst erfahren, Enthydemos, wenn du nicht erst wartest, bis du die Götter in sichtbarer Gestalt siehst, sondern damit zufrieden bist, ihre Werke zu sehen, um sie anzubeten und zu verehren. Bedenke, daß auch die Götter selbst darauf hindeuten; denn auch die übrigen von ihnen kommen bei Ertheilung ihrer Güter ebenso wenig für uns zum Vorschein, wie diejenige Gottheit, welche das ganze Weltall, den Inbegriff alles Schönen und Guten ordnet und zusammenhält, die alles, obwohl es immerfort gebraucht wird, unversehrt, gesund und nie alternd erhält und es befähigt, schneller als ein Gedanke fehlerlos ihren Willen auszuführen – diese, sage ich, vollbringt zwar vor unfern Augen die größten aller Werke, sie selbst aber, die Ordnerin von allem diesen, bleibt unsern Blicken verborgen. Die Worte: »Bedenke, daß auch die Götter – – – unsern Blicken verborgen« haben viele Herausgeber und Uebersetzer, weil sie dunkel und unverständlich sind, für unecht gehalten. Mir (hoffentlich meinen Lesern auch) sind die Worte ganz verständlich, und ich habe dieselben deshalb nicht aus der Uebersetzung entfernen können Kühner, Breitenbach, Sauppe u.a. finden in den Worten nichts Dunkles.
14. Bedenke ferner, daß selbst die Sonne, die doch für jedermann sichtbar zu sein scheint, den Menschen nicht erlaubt, sie scharf ins Auge zu fassen, sondern jedem, der sich unterfängt, sie frech anzublicken, die Sehkraft nimmt. Und so wirst du auch finden, daß die Diener der Götter unsichtbar sind. Daß der Blitzstrahl von oben herabfährt und alles niederschmettert, was ihm in den Weg kommt, ist klar; aber man sieht weder, wenn er kommt, noch wenn er eingeschlagen hat, noch wenn er geht. Auch die Winde selbst sind nicht sichtbar, nur ihre Wirkungen sind uns sichtbar und ihr Wehen läßt sich empfinden. Ja auch die menschliche Seele, die mehr als irgend ein anderes Besitzthum des Menschen, etwas vom Göttlichen hat, ist zwar durch ihre Herrschaft in uns erkennbar, aber selbst nicht sichtbar. Dies beherzigend, muß man das Unsichtbare nicht verachten, sondern aus den Erscheinungen seine Macht erkennen und die Gottheit verehren. –
15. Ich, Sokrates, sagte Euthydemos, weiß genau, daß ich nie im geringsten die Götter mißachten werde; nur das eine macht mir Sorgen, daß mir scheint, auch nicht ein Mensch könne je im Stande sein, mit würdigem Danke die Wohlthaten der Götter zu erwidern. –
16. Verliere deshalb den Muth nicht, Euthydemos! Du weißt ja, wenn man den Gott in Delphi fragt, wie man sich den Göttern gefällig zeigen könne, so antwortet er: »Nach den Gesetzen des Staates.« Und Gesetz ist es doch sicher überall, nach Kräften durch Opfer sich die Götter geneigt zu machen. Wie könnte nun einer würdiger und ehrerbietiger die Götter ehren, als wenn er thut, was sie selbst gebieten?
17. Aber hinter seinen Kräften darf man durchaus nicht zurückbleiben; Als Gegensatz ist zu ergänzen: Wohl aber darf man hinter dem zurückbleiben, was andere (reichere) opfern. und wenn einer dies thäte, so würde es offenbar sein, daß er in diesem Falle die Götter nicht ehrt. Man darf also nichts versäumen, die Götter nach Kräften zu ehren; dann kann man auch getrost sein und auf die größten Güter hoffen. Denn der wäre nicht bei Verstande, der von andern größere Güter erwartete, als von den Göttern, die uns von allen die größten Wohlthaten erweisen können, und auf keine andere Weise zuversichtlicher, als wenn man ihnen sich wohlgefällig macht. Wie könnte man aber eher ihnen sich wohlgefällig machen, als dadurch, daß man ihnen so viel als möglich folgsam ist?
18. So redete er und so handelte er selbst, und so machte er die, welche mit ihm umgingen, gottesfürchtiger und vernünftiger.