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Erstes Buch.

1. Kapitel.

Vertheidigung des Sokrates gegen die Beschuldigung, daß er nicht die Götter des athenischen Staates verehrt und neue Gottheiten eingeführt habe.

1. Oft habe ich mich darüber gewundert, durch welche Gründe in aller Welt die Ankläger des Sokrates den Athenern überzeugend nachgewiesen haben mögen, daß er den Tod um den Staat verdient habe. Die gegen ihn erhobene öffentliche Klage lautete nämlich ungefähr so:

Sokrates thut Unrecht, einmal dadurch, daß er die Götter nicht anerkennt, welche der Staat anerkennt und andere fremde Gottheiten einführt, sodann aber auch dadurch, daß er die Jugend verführt.

2. Was nun das Erste anlangt, daß er die Götter nicht anerkenne, welche der Staat anerkennt, was für einen Beweis in aller Welt mögen sie da vorgebracht haben? Bekanntlich opferte er oft zu Hause, D. h. in einem das Haus umgebenden und von einer Mauer eingeschlossenen freien Platze, in dessen Mitte der Hauptaltar des Ζευσ Ερχειοσ Greek stand. oft auch auf den öffentlichen Altären der Stadt; Diese befanden sich unter freiem Himmel; auch die Tempelaltäre standen vor dem Tempel, so daß man die Opfernden sehen konnte. auch ganz offenkundig bediente er sich der Weissagungen. Es hat ja genug böses Blut gemacht, daß Sokrates sagte, die Gottheit Das δαιμονιον, die göttliche Stimme, die Sokrates in seinem Innern vernahm, so oft er etwas thun wollte, was nicht gut war; das Schweigen derselben hielt er für ein Zeichen der Billigung. Diese göttliche Stimme aber betrachtete Sokrates nicht als eine ihm allein von den Göttern verliehene Wohlthat, sondern er lehrte, von jedem Menschen, der ein unverdorbenes und reines Gemüth und wahre Frömmigkeit besitze, werde sie vernommen ( Kühner ). (Bei Xenophon ist το δαιμονιον(persönlich) die Gottheit, insofern sie in Sokrates individuell wirkt, nach Platon ist das δαιμονιον (sachlich) eine göttliche (innere) Stimme, die Sokrates zu vernehmen glaubt; Breitenbach, Einleitung § 31.) gebe ihm Andeutungen, weshalb eben ganz besonders sie, wie ich glaube, ihn beschuldigt haben, daß er fremde Gottheiten einführe.

3. Aber er führte damit ebensowenig etwas Neues ein, als all' die andern, welche an die Weissagekunst glauben und sich des Fluges der Vögel, der Vorbedeutungen aus der menschlichen Stimme, des Schauens der Eingeweide der Opferthiere und sonstiger Zeichen bedienen. Denn wie diese annehmen, daß nicht die Vögel, noch die ihnen Begegnenden das den Fragenden Zuträgliche wüßten, sondern daß es die Götter durch diese offenbaren, so dachte auch jener hierüber.

4. Aber die Meisten sagen es, als wenn sie von den Vögeln und Begegnenden ermahnt oder gewarnt würden, Sokrates hingegen sagte so, wie er dachte; er sagte nämlich, die Gottheit gebe ihm Andeutungen. Und vielen seiner Freunde gab er den Rath, dieses zu thun, jenes aber nicht zu thun, weil ihm die Gottheit eine Andeutung gäbe; und denen, die ihm folgten, gereichte es zum Nutzen, diejenigen aber, welche ihm nicht folgten, bereuten es.

5. Und wer wollte fürwahr nicht zugeben, daß er nicht gewünscht hätte, vor seinen Freunden als ein Narr oder Einfaltspinsel dazustehen? Beides aber würde er gewünscht zu haben scheinen, wenn er sich erst als einen Verkündiger göttlicher Offenbarungen und dann hinterher als einen Betrüger gezeigt hätte! Offenbar nun hätte er derartiges nicht vorhergesagt, wenn er nicht an die Erfüllung desselben fest geglaubt hätte. Wer möchte aber hierin wohl einem andern als einem Gotte Glauben schenken? Wenn er aber den Göttern glaubte, wie hätte er da glauben können, daß es überhaupt keine Götter gebe?

6. Aber wahrlich, außerdem that er auch noch Folgendes für seine Freunde. Die nothwendigen Dinge rieth er so zu thun, wie er glaubte, daß sie am besten gethan sein würden; hinsichtlich alles dessen aber, dessen Ausgang unberechenbar war, verwies er sie an das Orakel, um zu fragen, ob sie es unternehmen dürften.

7. Auch diejenigen, welche Haus- und Staatsangelegenheiten gut verwalten wollten, könnten, sagte er, der Weissagekunst nicht entbehren, obwohl er so etwas, wie ein Zimmermann, ein Schmied, ein Landmann, ein Beherrscher der Menschen oder einer, der dergleichen Arbeiten zu prüfen versteht, oder ein Rechenkünstler, ein Hausverwalter, oder ein Heerführer zu werden, für erlernbar hielt und glaubte, es könne auch schon durch menschliche Einsicht gewonnen werden.

8. Das Wichtigste aber von dem, was dabei in Betracht kommt, das, sagte er, haben die Götter sich selbst vorbehalten und den Menschen nicht offenbart. Denn weder könne der wissen, welcher seinen Acker gut bestellt habe, wer die Früchte einernten werde, noch wisse der, welcher sich ein schönes Haus gebaut habe, wer darin wohnen werde, auch wisse ein Feldherr nicht, ob seine Kriegsführung Heil bringen werde, und der Staatsmann wisse nicht, ob er mit gutem Erfolge an der Spitze des Staates stehe; auch wisse der nicht, welcher ein schönes Weib geheirathet hat, um sich desselben zu erfreuen, ob es ihm dereinst nicht Kummer bereiten werde; auch könne der nicht, welcher zu Verwandten einflußreiche Männer im Staate habe, wissen, ob er nicht gerade durch diese des Staates verlustig gehen könnte.

9. Diejenigen aber, welche glaubten, daß nichts von alledem von der Einwirkung der Götter abhängig sei, sondern alles Sache der menschlichen Einsicht sei, hielt er für verrückt; für verrückt aber auch diejenigen, welche Weissagungen in solchen Dingen haben wollten, welche die Götter den Menschen zur Erlernung und zur Beurtheilung übergeben hätten. Wenn z. B. einer fragte, ob es besser sei, einen des Fahrens Kundigen beim Fuhrwerk anzunehmen oder einen Unkundigen, oder ob es besser sei, einen, der das Steuern verstünde auf sein Schiff zu nehmen oder einen, der es nicht verstünde, – ein Solcher, wie auch diejenigen, welche Dinge, die durch Zählen, durch Abmessen oder durch Abwägen man sich aneignen könne, von den Göttern erfragten – alle diese hielt er für Frevler. Er behauptete, daß man alles das, was uns die Götter zur Erlernung und zur Ausführung gegeben hätten, erlernen müsse; das aber, was den Menschen unergründlich sei, müsse man mit Hilfe der Weissagekunst von den Göttern zu erfragen versuchen, denn die Götter gäben denjenigen Zeichen, welchen sie gnädig seien.

10. Aber er verkehrte ja immer vor Aller Augen. Denn des Morgens in der Frühe besuchte er die Säulenhallen Unter solchen Säulengängen spazierte man, um gegen die Sonnenhitze und gegen Unwetter geschützt zu sein, auf und ab. und die Turnplätze, und zur Mittagszeit konnte man ihn dort sehen, und auch zu andern Tageszeiten war er immer da zu finden, wo er mit den Meisten zusammentreffen konnte. Auch sprach er gewöhnlich, und wer wollte, konnte zuhören.

11. Aber keiner hatte jemals von Sokrates etwas Gottloses oder Unheiliges gesehen oder gehört. Auch redete er nicht, wie die Meisten, über die Natur des Weltalls, indem er darüber Betrachtungen angestellt hätte, was es mit dem von den Philosophen so genannten Kosmos (Weltall) für eine Bewandtnis habe und nach welchen Naturgesetzen alle Himmelserscheinungen vor sich gehen, sondern er hielt sogar diejenigen, welche über solche Dinge grübelten, für thöricht.

12. Und zuerst fragte er dabei, ob sie etwa schon wähnten, in menschlichen Dingen genügend erfahren zu sein und deshalb solche Grübeleien vornähmen, oder ob sie wähnten, das Geziemende zu thun, wenn sie die menschlichen Dinge bei Seite ließen und sich mit göttlichen beschäftigten.

13. Er wunderte sich aber, wenn es ihnen nicht klar war, daß es Menschen unmöglich sei, dieses ausfindig zu machen, da ja auch diejenigen, welche sich auf ihre Disputationen über solche Gegenstände sehr viel zu Gute thäten, nicht dieselben Ansichten hätten, sondern wie Wahnsinnige einander gegenüberständen.

14. Denn von den Wahnsinnigen fürchteten die einen nicht einmal das Furchtbare, andere hingegen fürchteten sich selbst vor dem nicht Furchtbaren; den einen scheine es gar nichts Schimpfliches zu sein, unter einem Pöbelhaufen beliebiges zu reden und zu thun, wieder andere scheuten sich, auch nur unter die Leute zu gehen; die einen hätten weder vor einem Heiligthum, noch vor einem Altar, noch vor sonst einem göttlichen Dinge ehrfurchtsvolle Scheu; die andern aber verehrten sogar Steine, die ersten besten Holzblöcke Die schlechtesten Götterstatuen von Stein oder Holz. und Thiere. Ebenso scheine nun auch unter denen, welche über die Natur des Weltalls sich den Kopf zerbrechen, den einen das Seiende nur ein einzelnes Ding, den andern hingegen das Seiende etwas der Zahl nach Unendliches zu sein; Daß alles Seiende nur ein Ding sei, lehrten die Eleaten, besonders das Haupt dieser Schule, Xenophanes (um 530 v. Chr.). Platon behandelt diese besonders im »Parmenides«. Daß die Welt aus unzähligen Atomen bestehe, lehrten die Atomisten, besonders Leukippos (um 500 v.Chr.) und sei« Schüler Demokritos. die einen sagten, alles sei in fortwährender Bewegung, andere, es bewege sich gar nichts; die einen glaubten, daß alles entstehe und vergehe, die andern, daß niemals irgend etwas entstanden oder vergangen sei. Meinungen des Herakleitos aus Ephesos (um 500 v. Chr.) einerseits und der Eleaten (Zenon um 460 v. Chr.) andererseits.

15. Er fragte über sie auch das, ob sich etwa, wie die, welche menschliche Weisheit lernten, das Gelernte im eigenen Interesse oder im Interesse eines beliebigen andern im Leben zu verwerthen beabsichtigten, ebenso auch diejenigen, welche über göttliche Dinge nachdächten, der Hoffnung hingäben, einmal, wenn sie erkannt hätten, welche Naturgesetze alles beherrschten, nach eigenem Gutdünken Winde, Regen, Jahreszeiten und was sie sonst von derartigen Dingen bedürften, machen zu können? Oder ob sie derartiges nicht einmal erhofften, sondern damit zufrieden wären, darüber, was es mit solchen Dingen für eine Bewandtnis habe, nur eine Meinung gewonnen zu haben.

16. Das war seine Ansicht von Leuten, welche sich mit solchen Dingen beschäftigten. Er selbst aber hätte sich immer über menschliche Dinge unterhalten, indem er betrachtete, was fromm, was gottlos, was schön, was schimpflich, was recht, was unrecht sei; was Besonnenheit und Keckheit, Tapferkeit und Feigheit sei; wie ein Staat und ein Staatsmann, wie Regierte und Regent sein müßten und anderes dergleichen, das, wie er überzeugt war, einen jeden, der es weiß, zu einem guten und tüchtigen Menschen macht, den aber, welcher es nicht weiß, mit vollem Rechte zu einem Knechte herabwürdigt.

17. Es ist demnach nicht zu verwundern, daß seine Richter in diesen Dingen, über welche seine Ansichten unbekannt waren, verkehrt über ihn urtheilten; aber sehr zu verwundern ist es, daß sie darauf nicht Rücksicht nahmen, was allen bekannt war.

18. Als er nämlich einmal Senator war und den verlangten Eid geschworen hatte, in welchem auch stand, nach den Gesetzen einen Rath geben zu wollen, da wollte das Volk gerade zu der Zeit, wo er Vorsteher im Demos war, gegen die Gesetze neun Feldherrn, zu welchen Thrasyllos und Erasinides gehörten, durch eine Gesammtabstimmung zum Tode verurtheilen. Sie wurden deshalb verurtheilt, weil sie nach der Schlacht bei den Arginusen (406 v. Chr.), obwohl durch einen Sturm daran gehindert, die Gefallenen nicht beerdigt hatten. Dieser Abstimmung widersetzte er sich, obwohl das Volk ihm zürnte und viele Mächtige ihm drohten; aber er hielt seinen Eid für höher, als gegen Gesetz und Recht dem Volke zu willfahren und sich vor den Drohenden in Acht zu nehmen.

19. Und er war überzeugt, daß die Götter für die Menschen sorgten, aber nicht in der Weise, wie der große Haufe glaubt; denn dieser glaubt, die Götter wüßten manches, manches aber wieder nicht. Sokrates aber glaubte, die Götter wüßten alles, sowohl Reden als Werke, als auch das, was heimlich ausgesonnen wird; ferner, daß sie allgegenwärtig seien und den Menschen in allen menschlichen Angelegenheiten Zeichen geben.

20. Ich wundere mich also, wie in aller Welt die Athener sich haben überreden lassen, daß Sokrates in Betreff der Götter verkehrte Ansichten gehabt habe, da er doch niemals gegen die Götter etwas Frevelhaftes gesagt oder gethan hat, vielmehr nur so geredet und gehandelt hat, wie einer reden und handeln muß, welcher als der Gottesfürchtigste anerkannt wird.


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