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3. Kapitel.

Sokrates ermahnt den Chärekrates, der mit seinem Bruder Chärephon in Uneinigkeit lebt, zu brüderlicher Eintracht.

1. Als Sokrates einmal erfahren hatte, daß Chärephon und Chärekrates, Chärephon war von früher Jugend an einer der treuesten Anhänger und Freunde des Sokrates, so daß Aristophanes (Wolken V. 103) ihn vor allen als Genossen desselben erwähnt. Auch war er es, der die Pythia fragte, ob es einen gäbe, der weiser wäre als Sokrates. Vgl. Verteidigungsrede des Sokrates Kap. 5, Univ.-Bibl. Nr. 895. Sein Bruder Chärekrates stand dem Sokrates in seinem Proceß, welchen Chärephon nicht mehr erlebte, zur Seite. S. Platon a. a. O. zwei Brüder, welche seine Freunde waren, in Streit lebten, sagte er zu Chärekrates, als er ihn sah: Sage mir, Chärekrates, du zählst doch nicht zu denjenigen Menschen, welche Glücksgüter für nützlicher halten als einen Bruder, während doch jene vernunftslos sind, dieser hingegen vernünftig, und jene der Hilfe bedürfen, dieser hingegen zu Hilfe kommen kann, und jene auch sonst noch mehr zu finden sind, dieser dagegen nur einer ist?

2. Wundern muß man sich aber auch darüber, wenn einer seine Brüder für einen Schaden hält, weil er nicht ihr Vermögen mit besitzt, seine Mitbürger dagegen nicht für einen Schaden hält, deren Vermögen ihm doch auch nicht gehört, sondern bei diesen zwar erkennen kann, daß es besser ist, mit vielen zusammenzuwohnen und in sicherer Weise sein Auskommen zu haben, als allein zu leben und alles, was seinen Mitbürgern gehört, unter Gefahren zu besitzen; aber in Betreff der Brüder sieht man eben dies nicht ein.

3. Und Sklaven kaufen die, welche es können, Der Zusammenhang ist: Geld und Gut schätzt man höher als Brüder zu besitzen. Ja manche sehen sogar in ihren Brüdern einen Schaden, weil durch sie ihnen die Erbschaft an Geld und Gut verkürzt sei. Und doch kaufen die, welche Geld und Gut haben, Sklaven u. s. w. ( Breitenbach. )

um Arbeitsgehilfen zu haben, und auch Freunde erwirbt man sich, weil man eines Beistandes zu bedürfen glaubt, die Brüder aber achtet man gering, als ob man sich nur aus Mitbürgern Freunde erwerben könnte, aus Brüdern aber nicht.

4. Und doch trägt viel zur Freundschaft bei, von denselben Eltern geboren und zusammen erzogen worden zu sein, da selbst in den wilden Thieren sich eine Art Sehnsucht nach denen zeigt, welche mit ihnen aufgewachsen sind. Außerdem aber ehren auch die übrigen Menschen diejenigen, welche Brüder haben, mehr als die, welche keine haben, und wagen nicht so leicht etwas gegen sie. –

5. Ja, antwortete Chärekrates, wenn der Streitpunkt nicht von Bedeutung ist, muß man wohl mit dem Bruder Geduld haben und nicht wegen Kleinigkeiten mit ihm brechen; denn du hast ganz Recht, es ist etwas Vortreffliches um einen Bruder, wenn er ist, wie er sein soll; wenn ihm aber daran (daß er ist, wie er sein soll) nicht weniger als alles fehlt, und er das gerade Gegentheil ist, wozu soll man sich da mit dem Unmöglichen abgeben? –

6. Vermag denn Chärephon, wie auch dir nicht, so überhaupt keinem Menschen zu gefallen? Oder gefällt er einigen gar sehr? – Deshalb ja eben, Sokrates, muß ich ihn hassen, daß er zwar gegen andere recht liebenswürdig sein kann, mir aber überall, wo er sich zeigt, durch Wort und That mehr ein Schaden als ein Nutzen ist. –

7. Ist aber nicht vielleicht ein Bruder darin einem Pferde ähnlich, daß er, wie dieses, demjenigen ein Schaden ist, der sich nicht darauf versteht und dennoch mit demselben umzugehen versucht? –

8. Wie sollte ich mich aber nicht darauf verstehen, mit einem Bruder umzugehen, da ich ja mit jedem, der mit mir freundlich redet, freundlich wieder zu reden, und jeden, der mich gut behandelt, nicht minder gut zu behandeln verstehe? Freilich, wer mich durch Wort und That zu kränken sucht, gegen den kann ich unmöglich freundlich und dienstwillig sein; ja ich werde nicht einmal den Versuch machen. –

9. Es ist doch merkwürdig von dir, wenn du z. B. einen Hund, falls du einen für die Heerden brauchbaren hättest, und er würde die Hirten schmeichelnd anwedeln, dich aber, wenn du kämest, anknurren, – wenn du diesen, sage ich, anstatt unwillig zu werden, durch Gutesthun zu besänftigen suchen würdest; von deinem Bruder aber sagst du, daß er ein großes Gut wäre, wenn er sich gegen dich so benähme, wie er sollte, und giebst zu, daß du gutes zu thun und freundlich zu sein verstehest, und willst dich doch nicht bemühen es dahin zu bringen, daß er so freundlich als möglich gegen dich werde? –

10. Ich fürchte, Sokrates, nicht verständig genug zu sein, um den Chärephon so gegen mich zu machen, wie er sein sollte. – Und doch, erwiderte Sokrates, brauchst du dazu keine neuen Kunstgriffe, wie mir scheint, gegen ihn auszusinnen, sondern ich denke, er dürfte schon durch das, was auch du von selbst weißt, sich gewinnen lassen, dich über alles hoch zu achten. –

11. So sage mir doch gleich, wenn du etwa bei mir die Kenntnis eines Liebesmittels wahrgenommen hast, von der ich selbst keine Ahnung habe. – So sage mir denn, wenn du einen deiner Freunde dahin bringen wolltest, dich, wenn er opfert, zur Mahlzeit einzuladen, was würdest du thun? – Ich würde natürlich selbst, wenn ich opferte, ihn zuerst einladen. –

12. Wenn du aber einen von deinen Freunden dahin bringen wolltest, deine Angelegenheiten, wenn du verreisest, zu besorgen, was würdest du thun? – Natürlich, würde ich mich, wenn er verreisen sollte, der seinigen annehmen. –

13. Wenn du aber einen Fremden dahin bringen wolltest, dich aufzunehmen, wenn du in seine Heimat kämest, was würdest du thun? – Natürlich würde ich auch diesen zuerst aufnehmen, wenn er nach Athen käme, und wenn ich ihn geneigt machen wollte, mir das auszuwirken, weswegen ich käme, so würde ich offenbar auch dies zuerst selber an ihm thun müssen. –

14. Du kennst also, sagte Sokrates, längst alle Liebesmittel, die es in der Welt giebt, und du thatest nur geheim damit; oder besinnst du dich, den Anfang zu machen, damit es nicht schimpflich erscheine, wenn du zuerst deinem Bruder gutes erweist? Und doch scheint der Mann des größten Lobes werth zu sein, der zuerst den Feinden böses und den Freunden gutes thut. Wenn ich nun glaubte, daß Chärephon geeigneter wäre als du, in dieser Sache den Anfang zu machen, so würde ich ihn dahin zu bringen suchen, zuerst einen Schritt zu thun, dich zu seinem Freunde zu machen. So aber scheint mir die Sache besser zu gelingen, wenn du den Anfang machen würdest. – 15. Da redest du etwas Sonderbares und keinesweges dir Angemessenes, wenn du meinst, ich als der Jüngere solle den Anfang machen. Ist doch in der ganzen Welt gerade das Gegentheil hiervon Sitte, daß nämlich der Aeltere überall den Anfang macht, sowohl wo es etwas zu thun als wo es etwas zu sagen giebt. –

16. Wie? Ist es nicht überall Sitte, daß der Jüngere dem Aelteren aus dem Wege geht, daß er vor ihm vom Sitze sich erhebt, daß er das weichere Lager ihm überläßt und ihm das Wort läßt? Mein Bester, zögere nicht, sondern versuche es, den Mann zu besänftigen, er wird dir gewiß ganz schnell entgegenkommen. Siehst du nicht, wie ehrliebend, wie edel er ist? Ich sage dir das, denn während man die schlechten Menschen nur dadurch gewinnen kann, daß man ihnen etwas giebt, kann man rechtschaffene Menschen nur durch freundliche Behandlung am besten sich gewinnen. – 17. Wenn ich dies nun thäte, und er würde um nichts besser? – Was hast du dann anders zu befürchten, als daß du gezeigt hast, du seist rechtschaffen und brüderlich gesinnt, jener dagegen schlecht und einer Wohlthat unwürdig? Aber ich glaube, daß es so weit nicht kommen wird, glaube vielmehr, daß er sich beeifern wird, dich durch Freundlichkeit in Wort und That zu übertreffen, wenn er merkt, daß du ihn zu diesem Wettstreit herausforderst.

18. Jetzt steht es mit euch gerade so, wie wenn die beiden Hände, welche die Gottheit zu gegenseitiger Unterstützung geschaffen hat, dieses aufgäben und einander hindern wollten, oder wie wenn die beiden Füße, die nach göttlicher Fügung dazu bestimmt sind, einander zu fördern, statt dessen einander im Wege sein würden.

19. Wäre es nicht eine große Thorheit und ein Wahnsinn, das, was zum Nutzen geschaffen ist, zum Schaden zu gebrauchen? Und doch hat Brüder, wie mir scheint, die Gottheit für einander zu weit größerem Nutzen geschaffen, als ein Paar Hände, Füße, Augen und die übrigen Glieder, welche sie paarweise dem Menschen gegeben hat. Denn die Hände würden, wenn sie zu gleicher Zeit an zwei Dingen arbeiten sollten, die weiter von einander als eine Klafter entfernt wären, es nicht können; die Füße würden nicht einmal zu Gegenständen, welche eine Klafter weit von einander entfernt wären, zugleich gehen; und die Augen, die doch am weitesten zu reichen scheinen, würden nicht einmal von Dingen, die noch weniger Raum einnehmen, die Vorder- und Hinterseite zugleich sehen können. Zwei Brüder aber, die sich lieben, wirken, auch wenn sie noch so weit von einander getrennt sind, zusammen, und zwar für ihr beiderseitiges Wohl.


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