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1. Dem Charmides aber, dem Sohn des Glaukon, von welchem er sah, daß er zwar ein sehr fähiger Mann und viel tüchtiger war als die, welche damals die Staatsgeschäfte leiteten, daß er aber zauderte, vor dem Volke aufzutreten und sich um die Staatsangelegenheiten zu bekümmern, sagte er: Sage mir, Charmides, wenn jemand im Stande wäre, in den Wettkämpfen um Kränze den Sieg davonzutragen und dadurch nicht nur sich selbst zu ehren, sondern auch seine Vaterstadt in Griechenland angesehener zu machen, trotzdem aber nicht mitkämpfen wollte, für was für einen Mann würdest du diesen halten? – Offenbar, sagte Charmides, für einen Weichling und Feigling. –
2. Wenn nun aber einer im Stande wäre, Staatsgeschäfte zu übernehmen und dadurch den Staat sowohl in Blüte zu bringen, als auch sich selbst Ehre einzulegen, aber sich nicht dazu entschließen könnte, würde man auch den nicht mit vollem Rechte für einen Feigling halten? – Wohl möglich, aber wozu fragst du mich dieses? – Weil mir scheint, antwortete Sokrates, daß du zwar im Stande wärest, aber dich nicht dazu entschließen kannst, Staatsgeschäfte zu besorgen, an denen du doch als Staatsbürger nothwendig Theil nehmen mußt. –
3. Bei welchem Geschäfte aber, sagte Charmides, hast du meine Fähigkeiten kennen gelernt, daß du diese Meinung von mir hast? – Bei den Zusammenkünften, die du mit Staatsmännern hast; denn wenn sie sich mit dir über etwas berathen, sehe ich, daß du gute Rathschläge ertheilst, und wenn sie einen Fehler machen, daß du richtig tadelst. –
4. Es ist aber doch, Sokrates, nicht dasselbe, ob man sich privatim unterredet, oder unter einer Masse streitet. – Und doch, sagte Sokrates, rechnet ein Rechenmeister wenigstens vor der Menge nicht schlechter, als allein, und die, welche für sich allein am besten Zither spielen, sind auch vor der Menge die besten. –
5. Aber siehst du nicht, daß Befangenheit und Furcht den Menschen angeboren sind und sich weit eher in den Volksversammlungen als in Privatunterredungen einstellen? – Ich möchte dich gerade belehren, sagte Sokrates, daß du, während du vor den Verständigsten keine Scheu und vor den Mächtigsten keine Furcht hast, doch dich schämst, vor den Unverständigsten und Schwächsten zu reden.
6. Schämst du dich denn vor den Walkern unter ihnen, oder vor den Schustern, Zimmerleuten, Schmieden, Bauern, Kaufleuten oder vor denen, welche auf dem Markte Handel treiben und nur darauf sinnen, was sie wohlfeil kaufen und wieder theuer verkaufen sollen? Denn aus solchen Leuten bildet sich doch die Volksversammlung.
7. Glaubst du denn nicht, daß dein Thun um nichts besser ist, als das eines Menschen, der den Geübten überlegen ist und doch die Ungeübten fürchtet? Denn mit den ersten Männern des Staates, von denen einige dich über die Achsel ansehen, unterredest du dich mit Leichtigkeit und bist denen, welchen das öffentliche Reden nicht eigentlich ein Geschäft ist, weit überlegen, und vor Leuten, die sich nie um Staatsgeschäfte gekümmert und dich noch niemals über die Achsel angesehen haben, kannst du dich nicht entschließen zu sprechen aus Furcht, du möchtest ausgelacht werden! –
8. Wie, antwortete Charmides, scheinen dir nicht die Leute in der Volksversammlung oft die, welche richtig reden, zu verlachen? – Nun, sagte Sokrates, das thun ja auch andere; deshalb muß ich mich über dich wundern, daß du, während du mit den letzteren, wenn sie dies thun, leicht fertig wirst, mit den ersteren aber auf keine Weise zu Stande zu kommen glaubst.
9. Mein Bester, vergiß nicht, dich selbst zu erkennen, und mache nicht den Fehler, den die meisten Menschen machen! Denn die meisten sind darauf aus, vor den Thüren anderer zu kehren und kommen nicht dazu, vor ihrer eigenen zu kehren. Versäume also dieses ja nicht, sondern bemühe dich vielmehr, auf dich selbst zu achten und vernachlässige ja nicht den Staat, wenn du etwas zu seiner Besserung beitragen kannst. Denn wenn es mit diesem gut steht, so werden nicht nur die übrigen Bürger, sondern auch deine Freunde und du selbst den meisten Nutzen davon haben.