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9. Kapitel

Nähere Bestimmung einiger Begriffe, wie Tapferkeit, Weisheit u.s.w.

1. Als Sokrates ein ander Mal gefragt wurde, ob die Tapferkeit etwas Lernbares oder Angeborenes sei, sagte er: Ich glaube zwar, daß, wie ein Körper von Natur stärker zur Ertragung von Mühen ist als ein anderer, so auch ein Geist von Natur muthiger gegen Gefahren ist als ein anderer, denn ich sehe, daß sich Menschen, die nach denselben Gesetzen und Gebräuchen erzogen werden, sehr von einander unterscheiden.

2. Aber doch glaube ich, daß jede natürliche Anlage durch Unterricht und Uebung zur Tapferkeit gesteigert werden kann. Denn offenbar würden es die Skythen und Thraker nicht wagen, mit Schild und Lanze gegen die Lakedämonier zu kämpfen, und ebenso würden die Lakedämonier keine Lust verspüren, mit kleinen Schilden und Wurfspießen gegen die Thraker, oder mit Bogen gegen die Skythen zu kämpfen.

3. Ich sehe aber, daß auch in allen übrigen Dingen auf gleiche Weise die Menschen nicht nur von Natur unter einander verschieden sind, sondern auch durch Fleiß viel profitiren. Hieraus erhellt aber, daß alle, sowohl die Fähigeren als auch die von Natur minder Begabten das, worin sie sich auszeichnen wollen, auch lernen und üben müssen. –

4. Weisheit aber und Besonnenheit schied er nicht von einander, sondern er glaubte, daß der, welcher das Schöne und Gute kenne, auch danach handle, und der, welcher das Häßliche kenne, sich auch davor in Acht nehme, weise und besonnen sei. Als er aber weiter gefragt wurde, ob er diejenigen, welche zwar wüßten, was sie thun sollten, aber das Gegentheil thäten, für weise und enthaltsam halte, antwortete er: Um nichts mehr als diejenigen, welche unweise und unenthaltsam zugleich sind. Denn ich glaube, alle wählen unter allen möglichen Dingen dasjenige aus, von dem sie glauben, daß es ihnen das Ersprießlichste ist; ich glaube also, daß die, welche nicht recht handeln, weder weise noch besonnen sind.

5. Ferner sagte er auch, daß die Gerechtigkeit und alles, was sonst zur Tugend gehöre, Weisheit sei, denn das Gerechte und alles, was aus der Tugend hervorgehe, sei schön und gut, und weder diejenigen, welche zu dieser Einsicht gekommen seien, dürften etwas Anderes diesem vorziehen, noch die anderen, welche es noch nicht erkannt hätten, vermöchten es zu thun, denn selbst wenn sie es versuchten, machten sie Fehler. So thuen also auch nur die Weisen das Schöne und Gute, die Unweisen dagegen vermögen es nicht zu thun, und selbst wenn sie es wollten, würden sie Fehler machen. Da nun sowohl das Gerechte als auch alles andere, was mit Tugend gethan werde, schön und gut sei, so sei offenbar auch die Gerechtigkeit und alles, was sonst zur Tugend gehöre, Weisheit.

6. Wahnsinn, sagte er, sei zwar das Gegentheil von Weisheit, doch hielt er keineswegs Unwissenheit für Wahnsinn; aber den Mangel an Selbsterkenntnis und das, was man nicht wisse, anzunehmen und zu glauben, man wisse es, meinte er, sei dem Wahnsinn am nächsten. Die Menge jedoch, sagte er, meine nicht, daß diejenigen wahnsinnig seien, die in Dingen irren, welche die Meisten nicht wissen, sondern nenne nur diejenigen wahnsinnig, welche in Dingen irren, die die Meisten wissen.

7. Denn wenn z. B. einer so groß zu sein glaube, daß er sich bücke, wenn er durch das Stadtthor gehe, oder wenn einer so stark zu sein glaube, daß er sich zutraue, Häuser davonzutragen, oder etwas Anderes zu unternehmen, das offenbar unmöglich sei, den nenne man wahnsinnig. Jene dagegen, welche nur in kleine Irrthümer verfallen, schienen der Menge noch nicht wahnsinnig zu sein, sondern wie sie nur die starke Begierde Verliebtheit nenne, so nenne sie auch nur den großen Unverstand Wahnsinn. –

8. Wenn er aber darüber Betrachtungen anstellte, was Neid sei, so fand er, daß derselbe eine Art Verstimmung sei, daß er jedoch weder über das Glück von Feinden, noch über das Unglück der Freunde entstehe, sondern nur die, sagte er, seien neidisch, welche über das Glück der Freunde sich ärgern. Wenn aber einige sich wunderten, wie einer, der einen andern liebe, über das Glück desselben verstimmt werden sollte, so erinnerte er daran, daß viele so gegen andere gesinnt seien, daß sie, wenn es jenen schlecht gehe, sich darüber ärgern und ihnen in ihrem Unglücke zu Hilfe kommen, wenn sie aber glücklich seien, darüber verstimmt werden. Einem verständigen Manne könne dies freilich nicht begegnen, den Thoren aber ergehe es immer so. –

9. Als er einst über den Müßiggang sich äußerte, sagte er, er finde zwar, daß die Meisten etwas thun, denn auch die Spieler und die Possenreißer thuen etwas, aber dennoch seien diese alle Müßiggänger, denn sie könnten etwas Besseres als dies thun; dagegen von besseren Beschäftigungen zu schlechteren überzugehen, dazu habe keiner Zeit übrig, sondern wenn einer es thue, so thue er Unrecht daran, weil er keine Muße dazu habe. –

10. Könige aber und Herrscher, sagte er, seien nicht diejenigen, welche das Scepter hätten, noch die, welche von den ersten besten gewählt, noch die, welche dazu durchs Loos erwählt worden seien, noch die, welche Gewalt gebraucht, noch die, welche betrogen haben, sondern nur diejenigen, welche das Herrschen verstehen.

11. Denn wenn man zugestand, daß es Sache des Herrschers sei, zu befehlen, was Noth thue, der Unterthanen aber, zu gehorchen, so zeigte er, daß auf dem Schiffe stets der Kundige herrsche, der Schiffsbesitzer dagegen und alle übrigen Leute auf dem Schiffe dem Kundigen gehorchten: und ebenso mache es beim Landbau der Landwirth, bei Krankheit der Kranke, bei Leibesübungen der Turner, und so alle anderen, welche einer Fürsorge bedürfen, denn sie würden, wenn sie sich selbst die nöthigen Kenntnisse zutrauen, die Sorge für ihre Angelegenheiten selbst übernehmen, wenn aber nicht, den Kundigen nicht nur, so lange sie gegenwärtig sind, gehorchen, sondern auch, wenn sie abwesend sind, sie holen lassen, um diesen gehorsam zu sein und das Rechte zu thun. In den Wollspinnereien aber, zeigte er, herrschten sogar die Frauenzimmer über die Männer, weil jene das Wollespinnen verstünden, diese aber nicht.

12. Wenn aber dagegen einer einwendete, daß doch ein Tyrann die Macht habe, guten Rathschlägen nicht zu folgen, so antwortete er: Wie könnte er die Macht haben nicht zu gehorchen, da ja doch eine Strafe darauf steht, wenn einer den guten Rath verachtet? Denn worin auch einer immer einem guten Rathe nicht folgt, darin wird er dann sicherlich Fehler machen; macht er aber Fehler, dann wird er der Strafe nicht entgehen.

13. Sagte aber einer, der Tyrann habe die Macht, sogar einen Verständigen zu tödten, so erwiderte er: Glaubst du etwa, daß einer, der seine besten Kampfesgenossen tödtet, ohne Strafe bleibe, oder nur eine unbedeutende erhalte? Glaubst du denn, daß einer, der so handelt, leichter am Leben bleibt und nicht vielmehr schnell in den Tod rennt?

14. Als ihn einmal einer fragte, was wohl für einen Mann die beste Beschäftigung zu sein scheine, antwortete er: Die Glückseligkeit. Als derselbe nun weiter fragte, ob er auch das »Glück haben« für eine Beschäftigung halte, sagte er: Für das gerade Gegentheil halte ich das »Glück haben « und das »Glück machen «, denn wenn einer ohne zu suchen etwas findet, was er gebrauchen kann, so muß man, glaube ich, dies » Glück haben « nennen; wenn dagegen einer durch Lernen und Ueben etwas gut vollbringt, so müssen wir, meine ich, dies » Glück machen « nennen.

15. Auch, sagte er, die besten und von den Göttern am meisten geliebten Menschen seien unter den Landbebauern die durch den Landbau, unter den Aerzten die durch die Heilkunde, unter den Staatsmännern die durch die Staatskunst ihr Glück machenden; wer aber in nichts sein Glück mache, der sei weder zu etwas nütze noch von den Göttern geliebt.


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