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4. Kapitel.

Sokrates beweist dem Aristodemos, einem Verächter der Religion, daß es Götter giebt: Sie haben die Natur des Menschen auf das Zweckmäßigste eingerichtet und sorgen für sein Wohl, wenn er sie verehrt.

1. Wenn aber manche von Sokrates glaubten, indem sie es aus dem, was einige schriftlich und mündlich von ihm berichteten, schlossen, daß er zwar darin vollkommen stark gewesen sei, den Menschen zur Tugend anzutreiben, aber ihn nicht zu derselben habe führen können, so mögen sie nicht blos diejenigen seiner Gespräche, in welchen er mit seinen Fragen die sich für allwissend Haltenden zurechtwies und überführte, sondern auch jene Unterredungen erwägen, die er täglich mit seinen Freunden hatte, und dann erst urtheilen, ob er im Stande gewesen sei, seine Schüler zu bessern.

2. Zuerst will ich nun das Gespräch erzählen, das ich ihn einst über die Gottheit mit Aristodemos, genannt »der Kleine«, führen hörte. Da er nämlich dahinter gekommen war, daß derselbe weder den Göttern opferte, noch der Mantik sich bediente, ja sogar die, welche dergleichen thaten, verlachte, so sagte er zu ihm: Sage mir, Aristodemos, hast du schon Menschen wegen ihrer Tüchtigkeit bewundert? – Ja wohl, sagte er. –

3. So sage uns doch die Namen derselben. – Wegen der epischen Poesie nun habe ich am meisten den Homer, wegen des Dithyrambos den Melanippides, wegen des Trauerspiels den Sophokles, wegen der Bildhauerkunst den Polykleitos und wegen der Malerkunst den Zeuxis bewundert. – Der Dithyrambos, ursprünglich ein Lied zu Ehren des Bakchos, dann auch anderer Götter, von Chören gesungen, war die kühnste, aber oft in Schwulst ausartende Gattung der lyrischen Poesie; der Dithyrambendichter Melanippides, der Sohn des Kriton, von der Kykladischen Insel Melos, blühte um 520 v. Chr. Seine Gedichte sind verloren gegangen. – Sophokles, der größte Tragiker Griechenlands, aus dem attischen Demos Kolonos, lebte von 495-406 v. Chr., Polykleitos aus Sikyon in der Peloponnes, nächst Pheidias der berühmteste Bildhauer der classischen Kunstperiode, lebte um 430, Zeuxis aus Heraklea in Großgriechenland, der größte Maler seiner Zeit, lebte um 400 v. Chr.

4. Scheinen dir diejenigen bewundernswerther zu sein, welche vernunftlose und unbewegliche Bilder machen, oder diejenigen, welche vernünftige und selbstthätige Wesen? – Weit mehr natürlich diejenigen, welche lebendige Wesen, wenn anders diese nicht dem Zufall, sondern einer vernünftigen Ueberlegung ihr Dasein verdanken. – Welche aber von den beiden Dingen, von denjenigen, bei denen sich nicht erkennen läßt, wozu sie existieren, und von denjenigen, welche offenbar zum Nutzen da sind, – welche von beiden hältst du für Werke des Zufalls und welche für Werke einer vernünftigen Ueberlegung? – Natürlich sollten die Dinge, welche zum Nutzen da sind, Werke vernünftiger Ueberlegung sein. –

5. Scheint dir nun nicht der, welcher zuerst die Menschen schuf, zum Nutzen ihnen die Sinneswerkzeuge verliehen zu haben, die Augen, um das Sichtbare zu sehen, die Ohren, um das Hörbare zu hören? Und was hätten wir von den Gerüchen, wenn uns keine Nasen verliehen wären? Und welche Empfindung hätten wir vom Süßen und Scharfen und allen Annehmlichkeiten, die uns der Mund zuführt, wenn die Zunge in demselben nicht als Richterin hierüber angebracht wäre?

6. Scheint dir zudem nicht auch das ein Werk der Vorsorge zu sein, daß er, da die Augen zart sind, sie mit Augenlidern wie mit einer Thüre versehen hat, welche, wenn man sie gebrauchen muß, sich öffnen, beim Schlafe aber sich schließen? Und daß er, damit ihnen auch die Winde nicht schädlich sind, als Sieb die Wimpern eingesetzt und die Gegend über den Augen mit Augenbrauen wie mit einem Wetterdach versehen hat, damit ihnen auch der von der Stirn herabrinnende Schweiß nicht zusetze? Und daß die Ohren alle Töne aufnehmen und doch nie davon voll werden? Daß die Vorderzähne bei allen lebenden Wesen zum Schneiden eingerichtet sind, die Backenzähne dagegen da sind, das, was sie von jenen empfangen, zu zermalmen? Daß er endlich den Mund, durch welchen das, wonach die lebendigen Wesen verlangen, eingenommen wird, in die Nähe der Augen und der Nase gesetzt, hingegen die Abzugsgänge, weil sie uns widerlich sind, abseits angebracht und so weit als möglich von den Sinneswerkzeugen weggekehrt und entfernt hat: von diesen so fürsorglich getroffenen Einrichtungen zweifelst du noch, ob sie Werke des Zufalls oder der vernünftigen Ueberlegung sind? –

7. Nein, beim Zeus, sondern wenn man sie so betrachtet, gleichen sie ganz der Veranstaltung eines weisen und liebevollen Meisters. – Und daß er ihnen den Trieb, Kinder zu zeugen, den Müttern den Trieb, die Kinder aufzuziehen, den Erzogenen die größte Liebe zum Leben und die größte Furcht vor dem Tode eingeflößt hat? – Allerdings sieht man auch hierin die Vorkehrungen eines Wesens, welches das Dasein lebendiger Geschöpfe beschlossen hat. –

8. Du aber glaubst, selbst etwas Vernünftiges zu besitzen? – Frage wenigstens, und ich werde dir dann antworten. – Und sonst meinst du, sei nirgends etwas Vernünftiges zu finden? Du weißt doch, daß du von der Erde nur einen kleinen Theil in deinem Körper hast, während die Erde groß ist, und von dem Feuchten nur einen unbedeutenden, während die Feuchtigkeit groß ist, und auch von den andern Stoffen, aus welchen dein Leib besteht, hast du wohl nur einen kleinen Theil von einem jedem bekommen, während sie in großer Menge vorhanden sind; nur den Verstand, meinst du, habest du, während er sonst nirgends existiere, durch einen glücklichen Zufall erwischt, und diese unermeßlichen und unzähligen Weltkörper seien so zu sagen durch Unverstand so geordnet? –

9. Allerdings, denn ich sehe ja die Leiter derselben nicht, wie ich die Werkmeister von dem sehe, was hier ins Dasein tritt. – Deine eigene Seele siehst du ja auch nicht, welche die Lenkerin deines Körpers ist. Dennoch könntest du freilich auch sagen, du thuest nichts mit vernünftiger Ueberlegung, sondern alles nur aus Zufall. –

10. Nein, Sokrates, sagte Aristodemos, ich verachte keineswegs die Gottheit, sondern ich halte sie für zu groß, als daß sie meiner Verehrung bedürftig wäre. – Gerade je größer sie ist und doch sich deiner annehmen will, um so mehr mußt du sie verehren. –

11. Sei überzeugt, wenn ich glaubte, daß die Götter um die Menschen sich etwas bekümmern, würde ich sie nicht vernachlässigen. – So glaubst du also nicht, daß sie sich um uns bekümmern, sie, welche erstens dem Menschen allein von allen lebenden Wesen die aufrechte Stellung gaben, welche ihn fähig macht, daß er nicht nur weiter in die Ferne sehen, sondern auch das, was über ihm ist, besser betrachten und sich besser dem Ungemach entziehen kann; Nach diesen Worten liest man in vielen Texten noch die Worte και όψιν και ακοην και στόμα ενεποίησαν. Ich halte diese Stelle mit Breitenbach für unecht. Derselbe bemerkt hierzu: Die – Worte passen nicht hierher, wo nur von dem, was der Mensch vor den Thieren voraus hat, die Rede ist. Nur ενεποίησαν (mit Schenkl) zu tilgen, um όψιν – στόμα als zu κακοπαθειν gehörige Accusative der Beziehung ansehen zu können, oder (mit Kühner ) κακοπαθειν οις – ενεποίησαν zu schreiben, ist deshalb unthunlich, weil ja auch bei den nicht aufrecht gehenden Thieren jene Organe nicht gefährdet sind. sodann haben sie den übrigen Thieren Füße gegeben, welche nur das Gehen möglich machen, dem Menschen aber haben sie auch noch Hände verliehen, welche das Meiste zu Stande bringen von dem, was wir vor jenen voraushaben.

12. Und während doch alle lebenden Wesen eine Zunge haben, haben sie nur die des Menschen so geschaffen, daß sie das eine Mal an dieser, das andere Mal an jener Stelle den Mund anschlagend die Stimme gliedert und alles ausdrückt, was wir uns untereinander mittheilen wollen. (Und auch den Genuß der Liebe haben sie bei den übrigen lebenden Wesen auf eine gewisse Jahreszeit beschränkt, uns dagegen gewähren sie ihn ununterbrochen bis zum Greisenalter. Der Inhalt der eingeklammerten Worte steht mit dem Vorhergehenden in gar keinem Zusammenhange.

13. Die Gottheit begnügte sich jedoch damit keineswegs, blos für den Körper zu sorgen, sondern, was die Hauptsache ist, auch die vorzüglichste Seele hat sie dem Menschen eingepflanzt; denn wo giebt es ein anderes lebendes Wesen, dessen Seele erstens die Existenz von Göttern, die das Größte und Schönste geordnet haben, wahrnimmt und anerkennt? Welches andere Geschlecht, als die Menschen, verehrt die Götter? Welche Seele endlich ist fähiger als die menschliche, sich gegen Hunger oder Durst, gegen Kälte oder Wärme zu schützen, Krankheiten zu heilen, die Körperkraft zu üben, oder zum Lernen sich anzustrengen oder im Gedächtnis zu behalten, was sie gehört oder gesehen oder gelernt hat?

14. Ist dir denn das nicht vollkommen klar, daß im Vergleich mit den übrigen lebenden Wesen die Menschen wie Götter leben, indem sie ihrer ganzen Anlage nach an Körper und Seele dieselben übertreffen? Denn weder einer, der seinem Körper nach ein Stier, aber mit menschlichem Verstande begabt wäre, könnte thun, was er wollte, noch besitzt ein Thier, das zwar Hände, aber keinen Verstand hat, daran einen wirklichen Vorzug; du aber bist beider so hoher Vorzüge theilhaftig geworden und glaubst trotzdem, daß sich die Götter nicht um dich kümmern? Was müssen sie denn thun, um dich zu überzeugen, daß sie für dich sorgen? –

15. Sie müssen mir nur Rathgeber schicken, die mir sagen, was ich thun und was ich nicht thun soll, wie du sagst, daß sie dir solche schicken. Aristodemos denkt an das Daimonion des Sokrates, von dem er keine richtige Vorstellung hat, und wählt συμβούλους wohl nur bildlich und nicht ohne einen Anflug von Ironie für das abstracte συμβουλάς ( Breitenbach ). – Wenn sie aber den Athenern auf ihre Anfragen etwas durch die Mantik offenbaren, glaubst du nicht, daß sie es auch dir offenbaren? Und sagen sie dir auch nichts, wenn sie durch Sendung von Wunderzeichen den Hellenen und allen Menschen etwas anzeigen, oder nehmen sie dich da allein aus und lassen dich unbeachtet bei Seite? –

16. Meinst du aber, die Götter hätten den Menschen den Glauben eingepflanzt, daß sie im Stande seien zu nützen und zu schaden, wenn sie es nicht wirklich vermöchten, und die Menschen hätten sich während der ganzen langen Zeit täuschen lassen, ohne es jemals gemerkt zu haben? Siehst du denn nicht, daß gerade das Unerschütterlichste und Weiseste in der Menschenwelt, daß Staaten und Völker am gottesfürchtigsten sind, und daß auch die verständigsten Altersstufen am angelegentlichsten der Götter gedenken? –

17. Bedenke, mein bester Aristodemos, daß auch die Vernunft, welche dir innewohnt, den Körper handhabt wie sie will. So mußt du denn auch annehmen, daß der Verstand, der im All wohnt, alles so anordne, wie es ihm gefällt, und nicht glauben, daß zwar dein Auge viele Stadien weit reiche, das Auge der Gottheit aber unfähig sei, alles zugleich zu sehen, noch auch, daß zwar deine Seele sich zugleich um die Dinge bei uns und um die in Aegypten und Sicilien bekümmern könne, der Verstand der Gottheit aber nicht im Stande sei, für alles zugleich zu sorgen. –

18. Wenn du aber, wie du bei Menschen durch Dienste ihre Dienstwilligkeit, durch Gefälligkeiten ihre Gefälligkeit, durch Einholung von Rath ihre Klugheit auf die Probe stellst, so auch bei den Göttern, indem du sie verehrst, in Erfahrung zu bringen suchst, ob sie geneigt sein werden, dir über das, was den Menschen verborgen ist, Rath zu ertheilen, so wirst du erkennen, daß die Gottheit so groß und so gewaltig ist, daß sie alles zu der gleichen Zeit sieht, alles hört, allenthalben gegenwärtig ist und für alles zugleich sorgt.

19. Mir nun für meine Person schien er, indem er so sprach, nicht nur zu machen, daß seine Freunde, wenn sie von den Menschen gesehen wurden, das Gottlose, Ungerechte und Schimpfliche mieden, sondern auch wenn sie allein waren, da sie ja überzeugt sein mußten, daß nichts von dem, was sie thun, den Göttern verborgen bleiben werde.


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