Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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An einem der letzten Tage des Monats berief der anonyme Vorstand des Bundes von der Flamme seine inzwischen recht zahlreich gewordenen Mitglieder zu einer Versammlung. Als Treffort war der Garten der Laudinschen Villa bestimmt. Marlene hatte es gewünscht, und da der Erfüllung ihrer Bitte nichts im Wege lag, hatte man es beschlossen. Der Tag war zugleich der letzte, an dem die Familie des ehemaligen Advokaten das schöne und geräumige Haus bewohnte; die Villa war für die Dauer von drei Jahren an ein amerikanisches Ehepaar vermietet, das am andern Morgen schon einziehen sollte.

Marlenes geheime Absicht war es auch, die allgemeine Feier mit einer besonderen zu verbinden, von der nur die nächsten Freunde erfahren sollten, wie es ja auch nur sie und die nächsten anging. In ihrem Sinn weihte sie den Tag dem Gedanken an einen Toten, und sie glaubte damit das Vergangene ans Zukünftige zu binden, zugleich jenes abzuschließen und dieses würdiger einzuleiten. In ihr war das Gefühl für Lebensepochen sehr stark entwickelt, was natürlich mit ihren Jahren zusammenhing, andererseits aber doch Ergebnis besonderer Zucht und einer besonderen Einstellung zur Welt war. Es kam vor, daß sie lachend sagte: »Heute hat der Wecker geläutet;« damit meinte sie nicht eine wirkliche Weckeruhr, sondern daß sie mit irgendeiner Sache von Belang innerlich fertig geworden war und gewissermaßen durch ein aufgetanes Tor in einen andern Raum des Daseins treten konnte. Das Programmatische daran störte sie nicht weiter, und es kümmerte sie auch nicht, wenn man es belächelte. Die Tage waren ihr noch weit voneinander gerückt, die Nächte unermeßlich lange Korridore von einem Tag zum andern, und das Jahr eine herzerfrischende Unendlichkeit.

Einer ihrer jungen Freunde war angehender Bildhauer; dem gab sie eine Photographie von Nikolaus Fraundorfer, und nach diesem Bild verfertigte er, geschickt und flink, eine Büste aus Ton, eine Herme. Als er sie am Mittag des festlichen Tages brachte, waren sowohl Marlene wie auch Relly erstaunt über die Ähnlichkeit und Lebenstreue, und Relly, in ihrem impulsiven Entzücken, fiel sogar dem Künstler um den Hals. Das Werk wurde im Garten ausgestellt; als Postament wurde eine schmale hohe Kiste benutzt, und bis zum Eintreffen ihrer Gäste waren die Schwestern damit beschäftigt, kleine Bretteretagen zu bauen und dann das Gebäude in vorher geplanter Weise mit Blumen zu schmücken, Töpfen und Gebinden, hauptsächlich Flieder und Monatsrosen, auch einigen weißen und gelben Chrysanthemen aus dem Glashaus. Es war, nach einer Regenperiode, ein wolkenloser Tag, und die Farben der Blüten leuchteten in ungewöhnlicher Kraft und Reinheit.

Unter den jungen Leuten, die sich gegen fünf Uhr nachmittags in dem ziemlich weitläufigen Garten zusammenfanden, war es kein Geheimnis, daß Laudins im Begriffe waren, ihre luxuriöse Villa zu verlassen und gegen ein ungleich einfacheres Domizil in der Stadt einzutauschen. Aber nicht nur die Tatsache war ihnen bekannt; sonderbarerweise waren sie auch ziemlich genau über die Umstände unterrichtet, die zu so auffälliger Veränderung geführt hatten. Es war da etwas Unfaßbares im Spiel, jene rätselhafte Vereinigung von Stimmen, im einzelnen kaum vernehmbar, im ganzen von unwiderstehlicher Gewalt, die einen Menschen auf einmal, und meist nach einer Periode der Mißkennung, über seinesgleichen emporhebt und seinen Namen, sein Wirken, seine Gestalt plötzlich in einem Grad wie nie zuvor mit dem Schimmer des Respekts und der Zuneigung umgibt.

So war es nun für Laudin selbst überraschend, daß sich alle Blicke auf ihn richteten und ein tiefes Schweigen sich über die Gesellschaft breitete, als er, bei hinabsinkender Sonne, aus dem Innern des Hauses auf die breite Freitreppe trat, freundlich und in straffer Haltung, um das Auge über den Garten und seine grüne und blühende Üppigkeit schweifen zu lassen. Es wunderte ihn, daß die bisher so lebhaft durcheinander bewegten Paare und Gruppen plötzlich regungslos standen; die vielen jungen Gesichter, die gegen ihn gekehrt waren, frappierten ihn; etwas verlegen rückte er an seiner Hutkrempe und stieg die Stufen hinab. Da kam Marlene auf ihn zu, faßte ihn lächelnd bei der Hand und zog ihn zu der in Blumen beinahe begrabenen Herme Nikolaus Fraundorfers.

Betroffen blieb er stehen; langsam griff er zum Kopf und nahm den Hut ab. Marlene schaute anmutig spähend zu ihm empor; ihr Gesicht erglühte, als sie abermals seine Hand nahm und an ihre Lippen zog. Die Jünglinge und Mädchen hatten sich dicht um Vater und Tochter geschart. Oben auf der Freitreppe erschien Pia, den Arm um Rellys Schulter gelegt; sie sah froh aus und absolut achtzehnjährig, wie Relly nicht müde wurde, enthusiastisch zu versichern.

All diese Jugend, die da Laudin umstand, still und mit verhaltener Begierde, glaubte, daß er zu ihnen sprechen werde. Aber er brach nur einen Fliederzweig ab und sagte zu Marlene: »Es ist wie ein Frühling des Todes; doch wir wollen uns von diesem Wort nicht verführen lassen, Marlene, da du mich,« seine Blicke gingen über den Kreis der aufmerksamen Gesichter, »mitten in einen so strahlenden Lebensfrühling gestellt hast.«

 

Ende


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