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Als Doktor Heimeran eines Tages in seinem Notizheft blätterte, stieß er, unter vielen andern, auf die nur aus den zwei Namen bestehende Eintragung: Weitbrecht – Fraundorfer. Er mußte ziemlich lang nachdenken, bis ihm die Szene im Klub und das mit den Spielpartnern geführte Gespräch erinnerlich wurde. Kurz darauf hatte er verschiedener Agenden halber eine Besprechung mit Laudin; er fand den Chef und Kollegen wortkarg und in den Auskünften, um die er ihn bitten mußte, unbestimmt, so daß sein Ton nicht, wie er wohl beabsichtigt, freundschaftlich teilnehmend, sondern frostig-forschend klang, als er sich bei Laudin erkundigte, ob eigentlich die näheren Umstände beim seinerzeitigen Selbstmord des jungen Fraundorfer aufgeklärt worden seien.
Laudin maß ihn mit überraschtem Blick. »Wie kommen Sie zu der Frage?« versetzte er ablehnend und mit einer Unruhe, die zu verbergen ihm nur schlecht gelang.
Er meine nur so, sagte Heimeran achselzuckend und schaute durch das Fenster; es sei ja viel die Rede davon gewesen; überdies wisse er, daß Doktor Laudin durch das Unglück stark in Mitleidenschaft gezogen worden sei; habe er ihm doch damals selbst, unter dem ersten Eindruck des Geschehnisses, geklagt, wie ratlos sowohl er wie auch der Vater des jungen Menschen sei. Doktor Laudin entsinne sich wohl nicht mehr. Es sei ihm nur so durch den Kopf gegangen; zufällig; habe nichts weiter zu bedeuten.
Er lächelte schief, empfahl sich in schiefer Haltung; Laudin hatte nichts geantwortet und sich mit gerunzelter Stirn an das Durchlesen der Post gemacht.
Vermutlich war es ein Akt boshaften Trotzes, daß Doktor Heimeran das Thema so schnell hatte fallen lassen und die Mitteilung, zu der er bereits gerüstet gewesen, unterlassen hatte. Er war zu sehr eingenommen von seinem Talent, Verborgenes ans Licht zu ziehen und voneinander entfernt liegende Wahrnehmungen geschickt zu kombinieren, als daß er sich damit hätte aufdrängen mögen. Er hüllte sich recht gern in sein Besserwissen, um dann schadenfroh zuzusehen, wie die Leute, die er Laien nannte (wieviel Verachtung lag nicht in dem Begriff), an ihrer Plumpheit und Bockstirnigkeit scheiterten.
Von Laudin in seiner Eitelkeit verletzt, wurmte ihn aber auch dessen schroffe Zurückweisung, obwohl er eine der Ursachen, die Laudin an diesem Vormittag in üble Laune versetzten, zu kennen glaubte: eine Zuschrift aus der Kanzlei des Doktor Kerkowetz in Sachen Altacher. Plötzlich begann die Neugierde an ihm zu nagen; er vergegenwärtigte sich die Beziehung Laudins zu der Schauspielerin, die Beziehung der Schauspielerin zu dem Selbstmörder; die Figur des Vaters fügte sich in das Gewebe; es gab die Möglichkeit, in eine Finsternis einen Blendstrahl zu senden, ein Stück Geheimnis zu befühlen, ein Stück Entdeckerarbeit zu tun, und Heimeran entschloß sich, den Doktor Egyd Fraundorfer aufzusuchen.
Schon am nächsten Tage ging er hin und traf ihn auch zu Hause. »Ich hatte bereits einmal das Vergnügen,« sagte er, als er vor dem riesigen Mann stand und beinahe devot in dessen kleine, schläfrige, schläfrig-tückische Augen schaute; »wir trafen uns vorigen Winter im Haus meines hochverehrten Kollegen Laudin.«
Fraundorfer quittierte etwas brummig die Feststellung alter Bekanntschaft und lud den Gast zum Sitzen ein. Herr Schmitt schlich mißtrauisch um den Stuhl Heimerans, und sein Herr zwinkerte ihm zu, als gebe er ihm zu verstehen: nun, wir wollen abwarten, was da wird.
»Gehts dem hochverehrten Kollegen gut?« brachte er die Unterhaltung mit einem nicht recht faßlichen düstern Hohn in Fluß; »ich sehe ihn selten jetzt. Es geht bereits in die vierte Woche, daß er nicht bei mir war. Scheint in seinen Rechtshändeln zu ersaufen. Na, man merkts auch an der Welt, daß die Advokaten zu tun haben. Mein Hausmeister, das Vieh, hat gestern beinahe sein Eheweib totgeschlagen. Wie sagen Sie? Sie müssen lauter sprechen, seit ein paar Tagen hör ich schlecht auf dem linken Ohr. Wie war übrigens Ihr geehrter Name?«
Heimeran nannte, in Silben zerdehnt, noch einmal seinen Namen. Fraundorfer anerkannte die Bemühung und nickte. Darauf gab er seine Wißbegier nach dem Zweck des Besuches kund. Er sei Besuche nicht mehr gewöhnt. Es wundere ihn, wenn ein Mensch seine Schwelle überschreite. Er habe verlernt, wie man sich bei solchem Ereignis zu benehmen habe. Er fürchte, daß er sich als Grobian aufführe, wo er doch nur scheuer Höhlenbär sei, obschon ein etwas mastodontischer. Hohoho. »Ins Körbchen, Herr Schmitt.«
Welche Einsamkeit in alledem, um all dies; sogar Heimeran spürte es, der nie allein war und nicht wußte, was Einsamkeit ist. Trocken berichtete er, was ihn hergeführt. Unterhaltung zwischen guten Bekannten am Spieltisch; die seitdem verflossene Zeit glaubte er verschweigen zu dürfen, um das Gewicht seiner Mitteilung, mit der er doch nur experimentierte, nicht zu verringern; unter andern Gegenständen, die berührt wurden, Gespräch über den jungen Fraundorfer; Professor Weitbrecht, einer der Teilnehmer der Gesellschaft, läßt beiläufig einließen, der junge Mann sei kurz vor seinem Tod bei ihm gewesen, um seinen ärztlichen Rat einzuholen; Weitbrecht; Doktor Fraundorfer werde ja den Namen kennen: berühmter Syphilidologe. Er, Heimeran, habe sich verpflichtet gefühlt, den Vater von der Tatsache in Kenntnis zu setzen, auf jeden Fall, da doch selbstverständlich auch vermutet werden könne, daß er ohnehin darum wisse. Dergleichen gelte ja heutzutage bei jungen Leuten nicht mehr als Makel, Gott sei Dank. Oder sei es für Doktor Fraundorfer ein Novum? Es scheine so.
Eine Gebärde des Riesen wie ein Kurzschluß, ein jähes Zusammenpressen der Faust gab Anlaß zu der Frage, die nicht ohne einen Ton der Befriedigung eingeschaltet wurde, Befriedigung darüber, daß der Aufklärerweg gerechtfertigt war. Wenn auch anderer Lohn nicht erfolgte, nicht einmal Dank, denn Fraundorfer fiel von dem Augenblick an in geradezu beängstigendes Schweigen, und sein verwüstetes, schwammiges Gesicht überzog sich mit aschfarbenem Grau, so war doch die Finsternis, die Laienignoranz, als solche erkannt, und der Blendstrahl hatte seinen Dienst getan. Die weiteren Wirkungen konnten allenfalls an Laudin beobachtet werden, und da er einmal hier war, dem notorischen Freund Laudins gegenüber saß, so ergab sich die Gelegenheit von selbst, auch von der beunruhigenden Wandlung im Wesen des Advokaten zu sprechen, einer Wandlung, die mehr und mehr unheimlicher Verstrickung glich. Fast alle Äußerungen Heimerans hatten seit einiger Zeit sonderbarerweise den Anschein des Übelwollens, ja der Gehässigkeit gegen den früher so bewunderten, für ihn gleichsam in nicht zu erreichender Höhe thronenden Laudin. Woher mochte dies rühren? Vom Sturz des unbefleckbar Gewähnten, von der Verdunkelung des Bildes? Die mittleren Spieler des täglichen praktischen Lebens haben oft keine andere Gottheit als den sittlich und geistig überlegenen Mann der eigenen Berufssphäre. Hört er auf, ihrer hohen Vorstellung zu genügen, durch die sie sich selbst reinigen und erhöhen, so erwacht rachsüchtige Erbitterung in ihnen.
Fraundorfer war längst wieder allein, und noch immer hatte er sich nicht bewegt. Als Frau Blum das Mittagessen brachte, rührte er es nicht an. Die Schüsseln mußten ein paar Stunden später aufgewärmt werden, auch dann nahm er nur einige Bissen zu sich, und mit Ekel. Es verblieb während des ganzen Tages eine eiserne Schwere in ihm. Bei Anbruch der Nacht entkorkte er eine Flasche starken Schnapses; am Morgen war sie leergetrunken. Danach schlief er sechzehn Stunden. Danach versuchte er zu arbeiten. Aber das Weib des Hausmeisters kam, um ihn anzuflehen, er möge bei der Polizei wegen der Enthaftung ihres Mannes intervenieren. Er habe sie zwar übel zugerichtet, wie sie durch das Aussehen ihres Leibes zu erhärten bereit war, doch könne sie ohne ihn nicht mit der Arbeit zu Rande kommen. Fraundorfer ließ den geräuschvollen Jammer eine Weile über sich ergehen, dann schrie er, sie solle sich zum Teufel scheren und verfolgte sie mit seinem Zorn bis zur Stiege. Es schien ihm angenehm zu sein, einen Vorwand gefunden zu haben, sich in Wut zu brüllen. Die Parteien im Hause liefen zusammen.
Man sollte denken, es hätte sein erster und eiligster Gang sein müssen, sich zu Professor Weitbrecht zu begeben, um sich volle Gewißheit über die Eröffnung des Advokaten Heimeran zu verschaffen. Vielleicht hatte er es erwogen; mehr noch, vielleicht trieb es ihn hiezu, und er setzte es sich Stunde für Stunde und Tag für Tag vor. Dennoch geschah es nicht. Er konnte es offenbar nicht über sich gewinnen. Vermutlich hatte er Angst vor dieser vollen Gewißheit. Es kam vor, daß er, unter Herrn Schmitts stillentzückter Erwartung, seine Schaftstiefel anzog, einen sauberen Kragen umlegte und den Mantel aus dem Schrank holte; über diese Vorbereitungen hinaus gedieh sein Entschluß nicht. Sie hatten schon Anstrengung genug gekostet. Im letzten Moment war ein Ausdruck da, als werde ihm eine Schlinge um den Hals geworfen und langsam zugezogen. Über den borstigen Brauen bildeten sich dicke, zitternde Hautwülste. Wieder und wieder preßten sich die ungeheuren Hände zu Fäusten zusammen.
Eines Abends hatte sich Herr Schmitt mit ausgestreckten Vieren auf dem Tisch niedergelassen. Es war ein besonderer Gnadenbeweis, wenn er die Erlaubnis dazu erhielt oder wenigstens nicht daran verhindert wurde, und Herr Schmitt bezeigte für diese räumliche Erhebung seiner winzigen Person Verständnis insofern, als er den in Anbetung schwimmenden Blick nicht eine Sekunde lang vom Gesicht seines Meisters abwandte. Fraundorfer, einen wahren Balken von Zigarre im Lippenwinkel, das eine Auge zugekniffen, das andere nur schläfrig, tückisch-schläfrig geöffnet, mit der Rechten das heiße Glas des eben gebrauten Punsches umklammernd, ließ folgende Rede vom Stapel:
»Wir sollten morgen zu diesem Doktor-Bonzen gehn, Herr Schmitt. Wir müßten es tun. Sagen wir übermorgen. Wir dürften es nicht länger hinausschieben. Ich sehe aber schon, daß wir uns doch wieder drücken werden. Das Uhrwerk unseres Geistesmechanismus weist einen bedenklichen Fehler auf; ich möchte es sogar eine Krankheit nennen, so was wie Retardierungskrampf. Nur keine vollendeten Tatsachen, das war ja stets unsere Devise, nicht wahr, Herr Schmitt? Das Unwiderrufliche war von jeher unser schlimmster Feind. Ich merke, Sie sind ganz meiner Meinung; bravo, Herr Schmitt, Ihre Intelligenz macht Fortschritte. Das Unwiderrufliche ist so steril wie der Tod. Jenseits des Unwiderruflichen gibt es keinen Trost mehr, nicht das schäbigste Trinkgeld von Trost, nicht den Schatten einer Möglichkeit von Selbstbeschwindelung. Das haben wir in Rechnung zu ziehen, Herr Schmitt, danach haben wir uns einzurichten. Achtung, wenn die Schranke geschlossen ist. Es ist als ob man Ihnen sagte: bemühen Sie sich zum Schinder, dort werden Sie ein rasches, gefälliges, schmerzloses Ende finden; es geht Ihnen zwar miserabel beim alten Fraundorfer, werden Sie sich aber deswegen mutwillig in die Unwiderruflichkeit stürzen? Und wenn Ihnen auch dieser Schindervergleich ein wenig übertrieben, ein wenig brutal erscheint, so bitte ich doch zu erwägen: was dann? Das Dann bedeutet, daß etwas geschehen muß. Weitere Unstatthaftigkeit; weiterer Fehler im Uhrwerk. Ach, Herr Schmitt, was für Fragen treten da an uns heran! Vor allem müßten wir doch unsern Freund in die neuen Umstände einweihen, unsern Dyskolos, Sie wissen. Lassen wir aber in dieser Hinsicht unsere Gedanken nicht aus dem Käfig. Seien wir froh, daß sie eingesperrt sind. Keine Täuschung, Herr Schmitt, hier wird die Sache brenzlig, schauen wir wo anders hin, machen wir ein harmloses Gesicht, und wenn es allenfalls klingeln sollte und er dann zur Tür hereinkommt, seien wir freundlich, ich wünsche es, Herr Schmitt, ich erwarte es von Ihrer Erziehung; blicken wir ihm fest und offen ins Auge; er soll nichts von den Unordnungen in unserem Uhrwerk merken; üben wir die schöne Tugend der Dissimulation. Verstanden?«
Herr Schmitt wedelte eifrig mit dem Schweifchen. Fraundorfer tat einen langen, gierigen Zug aus dem Glas und schmatzte. »Ich fürchte aber, er wird nicht sobald bei uns vorstellig werden,« fuhr er mit hämisch-düsterer Miene fort und einer Stimme, die sich in verschlafenen Quetschlauten verlor; »es bleibt uns Zeit genug, unser Fell nach Flöhen zu durchsuchen. Nicht ausgeschlossen, daß wir sogar ein neues Kapitel in unserer Geschichte der menschlichen Dummheit bis dahin fertig kriegen. Obwohl, unter uns gesagt, Herr Schmitt, die ganze Bücherschreiberei keinen Pfifferling wert ist. Man schreibt immer noch einmal, was schon ein anderer besser geschrieben hat. Schön, schön, wir stehen nicht an darum. Keine Ursache, daß wir uns kränken, wenn die Eukoloi und Dyskoloi uns Stoff zu noch mehr Kapiteln liefern. Dieser da, der uns aus gewissen Gründen nicht unsympathisch ist, hat die Giftpille im Futterkasten. Er ist wie ein verrückt gewordener Kaufmann, der aus seinem Defizit einen Haben-Saldo herausbilanziert und an fallite Firmen seine Waren verschleudert. Sie haben ja gehört, was der magere Hering von Advokaten uns neulich erzählt hat. Übrigens ist es nicht sehr appetitlich, daß Sie da mitten auf dem Tisch hocken, Herr Schmitt. Ich dulde es, weil ich zu faul bin, Sie zu züchtigen. Lassen wir es dabei. Lassen wirs beim alten, Herr Schmitt, alles bis auf Widerruf beim alten . . .«
Das Kinn sank ihm auf die Brust. Er stieß mit dem Fuß an den Tisch, und das leere Punschglas fiel um. Auch Herr Schmitt entschlummerte.