Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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2

Als Pia aus dem Zimmer ihres Jüngsten trat, vernahm sie vom unteren Flur her schallendes Gelächter. Über die Ursache blieb sie nicht lange im unklaren. Relly hatte sichs nicht versagen können, den Sack mit den Äpfeln einer Prüfung zu unterziehen. Die Äpfel waren ein Geschenk von Freunden, die auf dem Land wohnten; Relly war häufig und gern dort zu Besuch gewesen, und die Früchte waren ihr wie eine Botschaft. Vorsichtig löste sie den schon halbgelockerten Strick, der Sack öffnete sich und knickte; sie konnte nicht mehr Einhalt tun, und eine große Menge Äpfel kollerte auf den Boden. Sie schrie auf, Marlene kam hinzu, das Mädchen stürzte aus der Küche, und alle drei begannen, auf der Erde kniend, eine lustige Jagd nach den Äpfeln.

Die Verwirrung war auf dem Höhepunkt, da öffnete sich die Flurtür, und Doktor Laudin erschien. »Nun, nun,« gurrte er gutmütig-verwundert, »was treibt ihr denn da?«

Die übermütigen Geister beruhigten sich. Pia begrüßte den Gatten, begleitete ihn ins Badezimmer, läutete dem Mädchen, gebot zu servieren, brachte den seidengefütterten Hausrock herbei, erstattete flüchtigen Bericht über die Ereignisse des Tages (denn Laudin war seit dem Morgen vom Hause abwesend) und bemühte sich, das Erfreuliche zu betonen, das Unerfreuliche zu verkleinern. Es war nicht eben Belangvolles, doch Sachliches, mütterlich und hausfraulich Summierendes.

Sie hatte eine leise, gleichsam vorsichtige Stimme, die jedesmal den Satz in einer tiefen Lage begann und darauf melodiös in die Höhe schwebte. Sie gebrauchte ausschließlich Alltagsworte in trockener Fassung. Doch ihr Gesicht hatte dabei einen Ausdruck gewinnender Freundlichkeit, der durch das eigentümliche Leuchten der großen grauen Augen und die sozusagen wolkenlose Glätte der Stirn gehoben wurde.

Sie setzte sich mit ihm zu Tisch, als er seine Mahlzeit einnahm. Sie hatte mit den Kindern bereits gegessen; das war die Regel, da man nie wußte, wann Laudin nach Hause kam. Manchmal wurde es zehn Uhr und noch später. Ebenso ruhig wie sie sprach, so ruhig saß sie da, fast bescheiden, und so als hätte sie den ganzen Tag gefeiert und den ganzen Abend auf Laudin gewartet. Die Hände waren im Schoß gefaltet, der Kopf war leicht nach links geneigt; das weizenblonde Haar war im Nacken in einen Knoten gesammelt. Es war von ungewöhnlicher Fülle.

Marlene saß zur Rechten der Mutter, Relly zu ihrer Linken. Beide sahen schweigend den Vater an, die jüngere mit der treuherzigen Miene, hinter der sich etwas Pfiffiges und Gassenjungenhaftes verbarg; die ältere mit klaren, aufmerksamen Augen, denen nichts entging. Sie verfolgte ein gewisses Faltenspiel auf seiner domartig auf- und vorgebauten Stirn, das sie schon häufig wahrgenommen hatte und das sie mehr als sonst zu beschäftigen schien. Alles war ihr vertraut in dem Gesicht, die verschleierten Augen, die es wie aus Scham vermieden, die Menschen länger als eine Sekunde anzublicken; die breite fleischige Nase; der vom Schnurrbart dickumbuschte Mund, das runde gutmütige Kinn, der braune Haarwald, in dem sich noch kein grauer Faden zeigte. Es war ein in allen Teilen großgeformtes Gesicht, blaß von Arbeit, ausgestanzt von Gedanken, und die Teile traten zu fesselnder Harmonie zusammen.

Auf Marlenes Lippen war eine Bewegung, als wolle sie sagen: wüßt ich nur, was in dir vorgeht; ich gäb was drum, wenn ich wüßte, was du verheimlichst. Und so war es seit Wochen mit ihr; aber niemand bemerkte es.

Laudin sagte: »Am Sonntag will Fraundorfer zu Tisch kommen. Da er es mir nahegelegt hat, habe ich ihn natürlich eingeladen. Ich hoffe, Pia, es ist dir recht. Er hatte übrigens die Absicht, dich telephonisch zu fragen.«

»Bis jetzt hat er nicht angerufen,« erwiderte Pia. Sie lächelte und wies auf Marlene. »Mir ist es recht, aber Marlene da, die scheint sich nicht viel draus zu machen.«

»Der Vater weiß doch, daß ich den Doktor Fraundorfer nicht besonders leiden mag,« beeilte sich Marlene zu erklären und wurde rot. »Er ist ein sehr gescheiter Mann und sehr gebildet, das erkenn ich an, aber nichts auf der Welt ist ihm heilig. Auch ist es gräßlich, daß er soviel trinkt. Neulich, am Allerseelentag, wie er bei uns zu Tisch war, hat er eine ganze Flasche Rotwein allein ausgetrunken, und es war ihm nicht genug; er hat noch Kognak verlangt.«

Relly hatte gestielte Augen. Sie bewunderte die Kühnheit der Schwester, oder mißbilligte sie, das war nicht genau zu unterscheiden.

»Ach, ihr Kinder,« antwortete Laudin, »ihr urteilt so. Was wißt ihr von so einem Mann wie Egyd Fraundorfer. Der hat seine Reserven; da könnt ihr nicht hin. Und heilig, was heißt denn heilig? trägt man das Heilige auf der flachen Hand? Denkt bloß einmal an das Verhältnis zu seinem Sohn, dem Nikolaus; was da für eine Liebe drin steckt, heimliche Liebe geradezu, romantische heimliche Liebe; da muß man sich nicht an die Worte halten.«

Marlene senkte beschämt den Kopf. Relly lächelte triumphierend.

Auch Laudin lächelte jetzt. »Freilich, wenn ich dir den Nikolaus brächte, das würde dir wohl besser passen, Marlenchen,« sagte er neckend.

Marlene nickte, daß ihre Zöpfe hüpften, und sah den Vater strahlend an. »Der gefällt mir, das ist wahr,« sagte sie. Auch Relly schien diesen Geschmack zu teilen, denn sie wurde purpurrot.

»Hoffentlich nicht allzusehr,« versetzte Laudin; »auch fürcht ich, daß du da der Konkurrenz nicht gewachsen bist. Der lebt und webt ganz in seiner Musik. Nächste Woche wird er zum erstenmal im Chorverein dirigieren, las ich gestern in der Zeitung. Immerhin, mit achtzehn Jahren eine respektable Karriere.«

Er hatte seine Mahlzeit beendigt, legte Messer und Gabel hin und zog schmunzelnd ein Eselchen aus Gummi aus seiner Rocktasche. »Das ist für Freund Hubert,« sagte er; »das hab ich ihm heute gekauft, um mich zu ergötzen.« Er stellte das Spielzeug auf den Tisch.

»Schon wieder!« rief Pia freundlich tadelnd aus; »du hast ihm doch erst das Glockenspiel geschenkt. Geh doch, Friedrich, du verwöhnst ihn, du verziehst ihn.«

»Verziehn?« fragte Laudin und wiegte das mächtige Haupt; »wegen des Gummi-Eselchens? Ach Gott. Sieh mal, Pia, wenn der Bursche fünfzehn ist, also wenn man die Resultate der Er- oder Verziehung ungefähr überblicken kann, bin ich dreiundsechzig. Oder wäre dreiundsechzig, sagen wir mal. Denn es ist natürlich ungewiß, ob ichs erlebe. Also laß den Gummi-Esel noch in die Wagschale der bösen Möglichkeiten fallen, meine liebe Pia.« Er küßte ihr die Hand.

Die Worte klangen scherzhaft, aber es lag etwas Dunkles in ihrem Grund, und alle schienen es zu spüren. »So war es nicht gemeint,« begütigte Pia. Dann fügte sie hinzu: »Ich habe leider noch eine unangenehme Überraschung für dich. Seit halb acht Uhr wartet jemand in der Bibliothek, ein junger Mann, Konrad Lanz nennt er sich. Er ließ sich nicht abweisen, wollte dich um jeden Preis sehen. Du weißt ja, ich hab das Herz nicht, die Leute fortzuschicken; es ist ein Fehler, und ich sehe dir an, daß ichs doch hätte tun sollen; verzeih mir.«

»Gewiß, Pia, irgendwo muß ich meine Festung haben,« entgegnete Laudin mit leisem Vorwurf; »indes, das Malheur ist geschehen, so will ich den Mann auch gleich abfertigen.« Er erhob sich, nickte Pia und den Mädchen zu und ging hinaus.

Konrad Lanz saß in sich zusammengesunken in einer Ecke des großen, nur mit einer einzigen Glühbirne beleuchteten Bibliotheksraumes. Er stand hastig auf, als Laudin eintrat, ging auf ihn zu und sagte: »Ich bitte sehr um Nachsicht wegen meiner Zudringlichkeit, Herr Doktor. Ich weiß, wie kostbar Ihre Zeit ist, in jedem Sinn. Ich wußte mir aber nicht zu helfen, ich –«

»Nicht einzusehen, Herr Lanz, weshalb Sie nicht den üblichen Weg gehen konnten,« unterbrach ihn Laudin trocken; »ich habe wie jeder Arbeiter Anspruch auf Ruhestunden.«

Der junge Mensch verbeugte sich befangen. »Ich habe es bereits der gnädigen Frau gegenüber zu entschuldigen versucht,« erwiderte er. »Ich kann mein Studium nur fortsetzen durch den Unterricht, den ich erteile. Von morgens sieben Uhr bis abends sieben Uhr kann ich über meine Zeit nicht ohne schwere Einbuße frei verfügen. Ich bin mittellos, völlig mittellos; meine Schwester Karoline, für die ich jetzt noch sorgen muß, ist ebenso mittellos wie ich. So dacht ich: erscheinst du bei dem berühmten Doktor Laudin in der Kanzlei, so sieht es aus, als ob ich ein zahlungsfähiger Klient wäre. Und dort meine Armut erklären, das wäre mir unverschämter vorgekommen, als wenn ich sozusagen auf privatem Weg bittstellig werde. Ich dachte, es ist offener gehandelt. Ich mußte auch fürchten, daß man mich nicht vorläßt, und aus allen diesen Gründen und weil ich Sie, Herr Doktor, schon so lange kenne und nur zu Ihnen Vertrauen habe, aus allen diesen Gründen hab ich es gewagt –«

»Wirklich? sollten wir uns schon so lange kennen? wie das?« unterbrach Laudin abermals den nervösen Redefluß des Studenten. Er wies auf einen Stuhl, doch Lanz übersah die Geste und fuhr atemholend und etwas gefaßter fort: »Vor elf Jahren wohnte ich mit meinen Eltern in der Wasagasse in demselben Haus wie Sie, Herr Doktor. Ich sah Sie fast täglich, wenn ich morgens in die Schule ging. Sie kamen mit einer Aktentasche die Stiege herunter. Die Aktentasche flößte mir die größte Hochachtung ein, einen Schauder sogar. Sie war für mich der Inbegriff des Geheimnisvollen. Es kam oft vor, daß ich am Haustor auf Sie wartete, auf die Gefahr hin, den Schulbeginn zu versäumen, nur damit ich einen Blick auf die Aktentasche werfen konnte. Aber das ist nicht alles, nicht die Hauptsache . . .« Er stockte.

Laudin musterte ihn plötzlich scharf. »Ich entsinne mich,« sagte er und legte den Zeigefinger quer über das Kinn. »Lanz . . . Lanz . . . war Ihr Vater nicht Buchhalter? Angestellter bei einer Firma in Margarethen? die Firma ging zugrund . . . Ihr Vater hatte seine Ersparnisse in dem Geschäft . . . es war ein betrügerischer Bankrott . . .«

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich daran zu erinnern,« sagte Konrad Lanz. »Sie haben sich ja der Umstände in so großmütiger Weise angenommen, und es ist Ihnen gelungen, die Gläubiger dazu zu verhalten, daß sie meinem Vater den größten Teil seines Geldes aus der Konkursmasse zurückerstattet haben. Die Dankbarkeit meines Vaters war grenzenlos, und ich, ohne Ihre Hilfe hätte ich nicht auf dem Gymnasium bleiben können. Auch meiner Schwester, die damals schon zwanzig Jahre alt war, haben Sie geholfen, haben ihr eine Stellung verschafft. Den Eltern ging es freilich immer schlechter, und sie sind zwei Jahre nachher beide fast zu gleicher Zeit gestorben.«

Laudins Züge hatten den kühl ablehnenden Ausdruck nicht mehr. »Nehmen Sie Platz,« forderte er Konrad Lanz auf, »und erzählen Sie mir, was Sie zu mir führt.«


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