Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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62

Den ganzen Nachmittag über war sie im Hause herumgegangen; rastlos von Raum zu Raum. Es war eine Art stumme Auseinandersetzung, die sie hatte; ein Erwägen und Anschauen, das sie beschäftigte. Vielleicht erwog sie, was ihr alle diese Gelasse und die Sachenkomplexe in ihnen an Leben und Freiheit geraubt hatten; vielleicht suchte sie sich zu vergewissern, ob sie nicht zuviel drangegeben, oder wußte schon um das Zuviel und maß, schätzte, wunderte sich und bedauerte. In ihrem Wesen lag etwas von Verabschiedung und Abschied, als wolle sie sagen: genug jetzt, beginnen wir mit etwas anderm. Auch in den Keller, auf den Dachboden und in die Rumpelkammern ging sie und wunderte sich über die Fülle der aufgestapelten toten Dinge. Es kam ihr womöglich vor, wie wenn jede Frau diese Masse von weggeworfenem, unbrauchbarem, im Warten auf Verwertung rostendem oder moderndem Material auf ihrem Rücken schleppte; sie spürte es nicht, weil es mit so tückischer Allmählichkeit mehr wurde, aber sie brach doch eines schönen Tages darunter zusammen; ganz bescheiden, still und verwundert erstickte sie eines schönen Tages unter dem Gewicht solchen unwürdigen und undankbaren Plunders; wie zum Beispiel Kisten, angestopft mit Zeitungen, zerbrochenem Spielzeug, Photographierahmen, schadhaft gewordenem Porzellan und löcherigen Tintenfässern; kleinen Tischchen, die nur noch drei Beine haben, und Puppen, denen der Kopf fehlt; Lampenstürzen, ausgedienten Reisekoffern, alten Kalendern, zerrissenen Stiefeln, leeren Fässern, abgelegten Kleidern, vom Mottenfraß angerührten Decken, verrunzelten Gießkannen, wurmstichigen Truhen und erblindeten Spiegeln. Alles dieses hatte einmal seine Gegenwart, seine berechtigten Ansprüche, seine Sprache, und ist jetzt betrübte, unwürdige Last, ein Kirchhof, den man trägt mit einem törichten Gefühl von Pflicht, als ob Skelette zu betreuen eine vertraglich gewährleistete Arbeit sei, als ob Gerümpel auferstehen und sich zu neuer Lustbarkeit und neuem Nutzen anbieten könne, als ob droben am Himmel keine Sterne wären.

Aber auch alles andere löst sich ab, schält sich gleichsam von der Haut weg. Ein Verhältnis von Unabhängigkeit stellt sich her, ein mit grüblerischem Erstaunen verbundener Zustand richtigen Schauens. Jegliches Ding im Gesichtskreis gewinnt eine natürliche Distanz, und dies allgemeine Zurechtrücken und In-Proportion-Treten geht nicht ohne wunderlichen Schmerz vonstatten, nicht ohne nagende Reue, nicht ohne kummervolles Wissen um Versäumtes, das nie mehr einzuholen ist.

Während all der Stunden war Relly beständig hinter der Mutter her. Sie hatte schulfrei und behauptete, ihr Aufgabenpensum erledigt zu haben. Sie machte sich bald da, bald dort zu schaffen, dabei aber immer Pias Nähe suchend. Doch hütete sie sich, eine Frage an sie zu richten, und sandte nur bisweilen einen verstohlen prüfenden Blick zu ihr hin. »Du könntest auch was Gescheiteres tun, Relly, als wie ein Hündchen mir um die Beine laufen,« sagte Pia einmal. »Was Gescheiteres?« versetzte Relly, schnippisch zweifelnd; »es gibt nicht soviel Gescheites für mich, und das Dumme ist oft gerade das Hübsche.« Am Abend dann, bei Tisch, blickte sie auf den Stuhl ihres Vaters, wurde plötzlich blaß im Gesicht und sagte, an einem Stück Kartoffel würgend, wie wenn sie es zu heiß in den Mund gesteckt hätte: »Ich habe schon die ganze Woche das Gefühl von Verreistsein, wenn ich an ihn denke.« Sie kam ins Husten, und Marlene, die verlegen und etwas streng auf ihren Teller geschaut, klopfte ihr mit einem Anflug von Tadel und Überlegenheit den Rücken. Marlene war von einer glasklaren Empfindung der Wirklichkeit beherrscht und gab in ihrem Innern der Ahnung nicht mehr Raum, als es sich mit erlebtem Bild und bedachtem Tun vertrug.

Die Schwestern verabschiedeten sich zur Nacht von der Mutter, aber wenige Minuten später schlüpfte Relly noch einmal ins Zimmer, blieb mit gereckt niederhängenden Armen und seltsam blinzelnden Augen an der Tür stehen und stürzte plötzlich unter einem Strom von Tränen an Pias Hals. Nach einem scheu-stolzen und halb unwilligen Zurückweichen wollte Pia das erregte Kind beruhigen, aber Relly hatte sich schon wieder aufgerichtet, wischte hastig mit den Händen über das nasse Gesicht, eilte zur Tür und sagte, sich dort umdrehend, mit mutigem, versicherndem Ton und zärtlich zuredendem Lächeln: »Das eine darfst du nicht vergessen, Mutter: auf mich kannst du dich unter allen Umständen verlassen.«

Eine halbe Stunde darauf, es war dreiviertel neun, machte sich Pia zum Ausgehen fertig. Sie verließ das Haus, ging durch die verödete Vorstadtstraße zur Haltestelle der Elektrischen und fuhr, eingekeilt zwischen Betrunkenen, die von den Weinschenken kamen, bis zum Gürtel, von wo es nur ein paar hundert Schritte zum Hause Fraundorfers waren. Da der Besuch das Ergebnis eines wohlgereiften Entschlusses war, zeigte sich weder in ihrem Gang noch in ihrem Mienenspiel das geringste Zaudern oder irgendeine Ängstlichkeit.

Sie wurde in das unordentliche Arbeitszimmer geführt, von Fraundorfer mit einer Mischung von gespreiztem Zeremoniell und knurriger Einsilbigkeit, von Herrn Schmitt als eine nicht gerade vertraute, aber der Witterung nicht fremde Persönlichkeit mit dementsprechend unentschiedener Haltung empfangen. Fraundorfer stak in einem schmierigen, von Fett- und Tintenflecken besäten Schlafrock, der, weil er jede Gliederung seines Leibes verwischte, ihn einer kolossalen Roßhaarmatratze ähnlich machte. Das Gesicht war zerfurcht, verdrossen, voller feindseliger Zuckungen und sardonischer Unausgesprochenheiten. Um die Stirn war ein weißes Tuch gebunden; er sagte, er leide an Kopfneuralgie; die weißen Zipfel des Tuches starrten aus dem heufarbenen Haarwust hervor wie zwei Segel, die ins Binsendickicht geraten sind. Pia fand ihn unsäglich alt aussehend; sie erschrak im ersten Augenblick, hatte auch dann noch Mühe, ihr einfaches und leicht verständliches Anliegen vorzubringen.

Fraundorfer ließ sich nicht bitten. Die Rückhaltlosigkeit, mit der er ihr den Zustand Laudins, den geistigen wie den seelischen, die Geschichte seiner sogenannten Faszination und seines weit zurückgehenden Lebenszwiespaltes enthüllte, hatte etwas eisig Grausames, ja Hohnvolles. Er sprach, als handle es sich um die minutiöse Charakteristik einer historischen Figur. Er schonte den Abwesenden nicht, er schonte die Zuhörerin nicht, er schonte schließlich sich selbst nicht. Er lachte ein paarmal gellend auf und kehrte sich beifallhaschend zu Herrn Schmitt, wenn er eine besonders schneidende und vernichtende Wendung gebraucht hatte. Es überlief Pia heiß und kalt bei dieser mitleidlosen und leidenschaftlichen Analyse, die im Grunde eine Selbstzerfleischung war und ein mühsam gebändigter Verzweiflungsausbruch über den noch immer nicht verwundenen und nie zu verwindenden Verlust des Sohnes. Zum Schluß änderte er den Ton und berichtete kalt und präzis die Ereignisse der vergangenen Nacht.

Nach langem Schweigen flüsterte Pia: »Das ist freilich schlimmer als ich mirs gedacht.«

»Ei ja, das will ich meinen,« pflichtete Fraundorfer trocken bei; »es ist, kommt mir vor, eine Krankheit, von der man nicht genest.«

Pia zuckte zusammen. »Nein,« sagte sie dann mit sonderbar mattem und zerstreutem Lächeln; »ich denke nicht. Ich denke nicht, daß es eine unheilbare Krankheit ist.«

»Wie mans nimmt, Dame Pia,« sagte Fraundorfer unwirsch; der Widerspruch einer Frau erschien ihm stets als etwas nicht Gehöriges; »in Ansehung der Natur unseres Dyskolos habe ich meine Bedenken. Er ist einer von denen, die mit der Unbeirrbarkeit eines dressierten Wolfshundes auf einer Fährte bleiben. Wenigstens in der Idee. Er hat eine verbissene Folgerichtigkeit an sich. Das zeigt sich wieder bei dieser Sache da, von der die Abendblätter voll sind –«

»Welche Sache? Ich weiß nichts, ich habe nichts gelesen,« fiel Pia erschrocken ein.

Fraundorfer griff nach der Zeitung auf dem Tisch. »Hier; Frau Blum hat sich bemüßigt gefunden, mir die Nouveauté brühwarm vorzusetzen.« Und während Pia nicht bloß mit den Augen, sondern mit allen Nerven den immerhin reichlich aufgebauschten Artikel las, der die heutige Szene im Verhandlungssaal beschrieb, fuhr er rasselnd fort: »Zugegeben, es hat Cachet. Bis zu einem gewissen Grade imponiert es mir sogar. Den Suppentopf vom Herd nehmen und ihn den Herrschaften ins Gesicht schmeißen, das hat etwas. Aber wozu? Was solls? Leere Demonstration. Und naiv. So naiv und donquichotisch wie das mit der Komödiantin. Na ja, Herr Schmitt, ganz richtig. Es ist besser, wir halten in dieser Hinsicht das Maul. Denn wir haben uns ja selber besagtes Maul verbrannt. Wir haben uns ja selber unverzeihlich eselhaft aufgeführt. Olymp und Walhall müssen sich über unsere Eselhaftigkeit vor Lachen den Bauch gehalten haben.«

Pia vernahm diese Reden nicht. Sie hatte das Zeitungsblatt auf die Knie sinken lassen, und ihr Blick, von innen her erglühend, drang in eine fremde, neue Welt ein.

»Ach, Dame Pia, es ist ein Jammer,« perorierte Fraundorfer indessen weiter; »der Autor der Geschichte der menschlichen Dummheit ist unter die erbärmlichsten und törichtsten seiner Subjekte herabgestiegen. Er hat sich als Romantiker entpuppt. Er ist ausgegangen, mit der verschlagenen Mystik im Leibe, um jüngstes Gericht zu spielen. So ein gemogelter Mansch von Ethos, Literatur und Schwachsinn! Selbstbefriedigung mittels der Phantasie! Den Leuten mit der Phantasie ins Haus fallen! Oh! oh! Keine Nüchternheit! Kein Humor! Kein Realismus! Oh, oh!«

Zweifelsohne hatte er bereits weit über das Bekömmliche dem Alkohol gehuldigt. Eine dickbauchige Flasche stand geleert auf dem Tischbord. Pia erhob sich. Er bemerkte und hörte es kaum, als sie sich mit leisem Gruß entfernte. Nur Herr Schmitt gab ihr bis zur Schwelle das Geleit. Eine Weile saß er finster stierend, dann stand er schwerfällig auf. Er schnaufte tief, schüttelte sich, zündete eine der mächtigen Zigarren an und setzte sich brummend an den Schreibtisch, wo das voluminöse Manuskript lag. Er betrachtete spöttisch den Titel, schlug die Titelseite um, legte ein frisches Blatt ein und schrieb:

Egyd Fraundorfer
Mitbürger und Zeitgenosse wider Willen
widmet
dieses unvollendete und nie zu vollendende Werk
seinem sehr geliebten Freund
Friedrich Laudin
dem wegwissenden Irrgänger
dem hilflosen Helfer
dem Selbst-, Sach- und Menschenwalter.


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