Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Über dem ganzen Wesen Laudins ruhte eine solche Verschwiegenheit, daß es einen wirklich vertrauten Menschen in seiner Umgebung nicht gab. Diese Verschwiegenheit, ihm von Anfang an durch seinen Beruf aufgenötigt und durch den ehrenhaften Begriff davon zur Vollkommenheit ausgebildet, übertrug sich nach und nach auf alle Lebensverhältnisse und wurde schließlich ein Stück seiner Natur.

Niemand wußte in Wahrheit Bescheid über ihn. Man kannte seine Eigenschaften oder wenigstens die augenscheinlichen und nach außen wirkenden unter ihnen, aber man kannte den Stamm nicht, von dem sie abzweigten. Viele Menschen bezeichneten ihn als undurchdringlich, viele nannten ihn geheimnisvoll; es gab sogar einige, die etwas Geheimniskrämerisches an ihm tadelten. Auch genaue Beobachter seines Tuns und Lassens gelangten zu keinem feststehenden Urteil über ihn; im Gegenteil, sie mußten ihre Ansichten und Eindrücke bei jeder Begegnung revidieren. Das fanden die meisten mühselig und konnten sich im Umgang mit ihm einer gewissen Scheu nicht entledigen, um so weniger, als er eine mit den Jahren immer deutlicher hervortretende Neigung zur Pedanterie hatte, die sich in der peinlichsten Pünktlichkeit und Ordnungsliebe geltend machte.

Doch ging von seiner Person ein Zauber aus, den am stärksten diejenigen verspürten, die ihre Angelegenheiten in seine Hände legten. Man konnte nicht sagen, daß es Güte war; hiezu fehlte die Weichheit und Aufgeschlossenheit; auch verhielt er sich bei den sachlichen Konferenzen weit öfter in zuwartendem Ernst als in jener liebenswürdigen Bonhomie, die bei der Mehrzahl seiner Fachgenossen der Teil einer Rolle war, die sie spielten. Die ihm angeborene Verbindlichkeit war es ebenfalls nicht; sie gab nur die Formel her, die den Verkehr regelte. Die Atmosphäre des Vertrauens um ihn wirkte zweifellos anziehend und beruhigend, hatte aber das Souveräne und den Willen des andern Bezwingende nicht. Vielleicht war es die in Blick und Miene ausgeprägte Kenntnis der Seelen, der Verschlungenheit der Schicksale, des Gewichts der Schicksale; eine in unendlichen Abstufungen und Variationen erhärtete Erfahrung vom Menschen, von der Art, wie Menschen untereinander lebten; ein unaufhaltsam ins Innere, in Blut und Hirn gedrungenes Wissen um jegliche Gestalt und jeglichen Grad der Übervorteilung, der List, der Grausamkeit, des Mißverstehens, der Lüge, der Gier, der Sklaverei, der Habsucht, der Leidenschaft und des Verbrechens. Vielleicht war es das.

Denn so tief wie er hatte keiner in die Maschinerie des gesellschaftlichen Lebens geschaut. Seit mehr als anderthalb Jahrzehnten war es nahezu seine ausschließliche Beschäftigung, die Unhaltbarkeit von Verhältnissen zu erforschen und zu erweisen, die vor dem Gesetz und im Namen der Religion mit dem Anspruch auf ewige Dauer sowohl wie auch zumeist mit dem Glauben darangeschlossen worden waren. Dadurch hatte sich ihm nicht nur ein ungeheurer Aspekt auf die sozialen Zusammensetzungen überhaupt eröffnet, die Mischungen der verschiedenen Schichten der bürgerlichen Welt, ihr Nervengeflecht und ihren Blutkreislauf sozusagen, die Interessen, durch welche die einzelnen Gruppen aneinander gefesselt waren und im Kampf gegen andere standen, sondern er hatte auch einen umfassenden, in seiner Reichhaltigkeit mit keiner Geschichtschronik und keinem Memoirenwerk vergleichbaren Einblick in die privaten Existenzen aller Stände, Klassen und Berufe gewonnen, Emporkommen der einen, Sturz der andern, abenteuerliche Ereignisse und tragische Fügungen, sonderbare Wechselfälle des Glücks, verschuldetes und unverschuldetes Elend und Fülle von Lächerlichkeit, Albernheit, Verrücktheit und Schande.

Vor ihm, wie vor dem Priester im Beichtstuhl, wurden die Motive eines jeden Handelns dargelegt; er hatte die Herkunft der Entschlüsse zu erforschen und ihre Tragweite zu beurteilen. Er mußte nicht nur um das Geschehene wissen, auch Anlaß und Entwicklung durften ihm nicht verborgen bleiben. Er mußte den Verlauf kennen, das curriculum vitae der agierenden Personen, ihre tägliche Lebensweise, ihre Gesinnung, ihre Pläne, ihre Gewohnheiten, ihre Laster, ihre Krankheiten, ihren Umgang, ihre pekuniären Hilfsquellen, ihre Unbescholtenheit oder Bemakelung. Ihm gegenüber galt keine Scham, und er konnte Scham nicht schonen. Es gehörte zu seinem Amt und der Vollbringung der Aufgabe, die man ihm stellte, daß die Menschen sich vor ihm entkleideten und daß er, gleichgültig gegen ihre Verletzlichkeit, jede Hautfalte, jede Pore, jedes geheime Leiden an ihnen untersuchte.

Man könnte meinen, daß ihm dabei nach und nach das Sichwundern vergangen war; daß keine Neugierde mehr in ihm sich regte, kein Entsetzen, kein Widerwille, nicht einmal Bedauern mehr. Doch es war nicht so. In einem Brief an Egyd Fraundorfer schrieb er eines Tages (der Brief stammte aus einem der letzten Jahre, als er in Berlin war, wo einer seiner großen Prozesse hinüberspielte): »Sicherlich gibt es eine seelische Abhärtung, wie es eine körperliche gibt. Ich kann mich ihrer nicht berühmen. War ich je mit einer inneren Hornhaut behaftet, so habe ich sie im Verlauf meiner Tätigkeit abgestreift. Es hängt das mit einer Eigenschaft zusammen, die ich nur schwer beschreiben kann, die ich aber schon als Kind an mir beobachtet habe; wenn man mich schlug, griff ich sofort nach einer Kleiderbürste und rieb eine Viertelstunde an meinem Rock herum; wenn ich auf der Straße Zeuge einer Brutalität war, eilte ich nach Hause und stellte in allen Räumen, wo eine Uhr zu finden war, die Uhrzeiger auf die gleiche Minute. Worauf diese wunderliche Sucht zurückzuführen ist, wußte ich nicht und weiß es noch heute nicht. Sie verursachte im späteren Leben jene Anfälle von Schrulligkeit, wegen deren du mich manchmal verhöhnst. So ist es mir zum Beispiel unmöglich, ins Bett zu gehen, wenn ich nicht vorher die Gegenstände auf meinem Schreibtisch so zurechtgelegt habe, wie ich seit Jahren gewohnt bin, sie zu sehen. An einem Tag, wo ich eine aufregende Verhandlung gehabt habe, packt mich geradezu ein Fieber der Genauigkeit, und ich finde nicht eher Ruhe, als bis ich etwa die Schreibfedern im Federkästchen gezählt und ihre Anzahl auf dem Deckel vermerkt habe; oder ich radiere in einem Buch, das mir zufällig in die Hände gerät, die Schmutzflecken heraus; oder es kommt vor, daß ich mich spät in der Nacht noch rasiere. Solche Merkwürdigkeiten könnte ich dir eine Menge noch nennen, aber wozu? Ich vermute, daß hier eine automatische Übertragung und Ablenkung innerer Vorgänge auf äußere Gewohnheiten stattfindet, die sich allmählich verkrusten, wodurch dann der Kern der Natur unverwundet bleibt oder doch minder verwundbar wird. Meinst du nicht auch?«

Wäre er Sittenschilderer oder Gesellschaftskritiker gewesen, so hätte er den gründlichsten Traktat über die Ehe und ihre Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert verfassen können. Er hätte vielleicht die Motive entfaltet, die zur Schließung von Ehen führten, und diejenigen, die zu ihrer Lösung drängten. Er hätte die zahllosen Bündnisse aus Leichtsinn und Leichtgläubigkeit, wie sie ihm untergekommen waren, ebenso trocken und sachlich vermerkt wie die aus hastiger Leidenschaft und augenloser Sinnlichkeit; diejenigen, die auf Ehrgeiz, auf Eitelkeit, auf Streberei, auf Geldgier, auf gutmütiger Schwäche oder auf einer vorübergehenden gemeinsamen Liebhaberei beruhten, ebenso wie die in vollkommener Gleichgültigkeit oder trostloser Resignation geschlossenen; er hätte die Figuren von Männern umreißen können, die sich eine Frau erlisten, wie sie sich eine Stellung oder einen Tip auf der Börse erlisten; von solchen, die sich in die Ehe begeben wie in ein Kaffeehaus und zu einer Kartenpartie; von solchen, die die Wahl hatten zwischen Heirat und Selbstmord und sich für die Heirat entschieden; von solchen, die ihre Geliebten mit dem Geld der Gattin bezahlten, und solchen, die die Gattin zur Dirne machten und vom Erträgnis den großen Herrn spielten in einer Gesellschaft, die von allem wußte und zu allem die Augen schloß, solange es nicht zum Skandal kam; von jahrelang Hintergangenen, die für die Treue der Gefährtin ihre Seligkeit verpfändet hätten; von moralischen Faulpelzen, die es bequem fanden, nichts zu sehen, um ihr Behagen nicht opfern zu müssen; von Liebesohnmächtigen, die zu Heloten der Frau wurden, und von solchen, die den Körper einer Frau zugrunde richteten, weil sie ungefähr so viel davon verstanden wie ein Schlächter vom Seidenspinnen.

Er hätte von Frauen erzählen können, denen ein Ballkleid das Wohl ihrer Kinder aufwog, und von andern, die sich zu Haustieren erniedrigten, aus Furcht vor dem Gatten bisweilen und bisweilen aus Verblendung gegen ihn; von solchen, die den Mann als einen Gott anbeteten und in ihrer Idolatrie lieber sich das Herz ausrissen, als sich überzeugen ließen, daß er ein kleiner Sterblicher mit ein wenig Neigung zur Schurkerei war; von solchen, die ihre Kraft in jährlichen Wochenbetten erschöpften, indes das Oberhaupt der Familie mit dem Gefühl erfüllter Pflicht die Nächte in Wirtshäusern, in Klubs oder bei Mätressen verbrachte; von solchen, die das schwer erarbeitete Gut des Mannes achtlos vergeudeten, und solchen, die mit jedem Heller sparten, während der Mann Hunderttausende in unsinnigen Spekulationen auf die Straße warf; von Wohltätigkeitsfurien, deren Heim unwohnlich wie ein Bahnhof war, und von geistig und seelisch Unmündigen, die zur Ehe vergewaltigt wurden, um darin zu verbluten.

Er hätte sagen und erklären können, wie alle diese Menschen, Paar um Paar, in die Ehe stürzten, frivol und unwissend, halbfremd einander oft, ohne zureichende Verantwortung und ohne Festigkeit des Gemüts; getäuscht und täuschend; wie sie Verträge unterschrieben, die zu halten sie schon nicht mehr gesonnen waren, wenn sie die Feder weglegten und die Tinte noch naß war; wie sie Kinder zeugten, denen das Leben der Eltern Beunruhigung und quälender Traum war; wie sie zu ihm kamen, Weib oder Mann, und danach lechzten, der eine oder der andre oder beide, wieder voneinander befreit zu sein; wie sie haderten; wie kurz ihr Gedächtnis war; wie schimpflich sie voneinander redeten; wie sie einander preisgaben; wie Haß, Verachtung, Überdruß und Beleidigung jede Würde, jede Erinnerung an den Austausch heilig gewesener Gelöbnisse auslöschte.

Er hätte dies alles aufzuzeigen vermocht und hätte am Ende noch das Vergnügen des Statistikers an unwiderleglichen Tatsachen und dem Gesetz der Folge haben können.

Aber es scheint, daß in seiner Brust ein Abgrund war, in den jeder einzelne Vorgang und jeder Träger und Urheber davon hinabfiel wie der Stein in einen Brunnen. Er behielt ihn in der Tiefe; er war nicht mehr zu greifen und zu sehen.

Die Wiederholung des Gleichartigen bringt oft eine lähmende Wirkung auf das Gemüt hervor. Trotzdem ist nicht anzunehmen, daß gerade dies den Druck ausmachte, der nur allzumerklich den Advokaten Laudin beschwerte und der nichts mit der bloßen Arbeitsbürde zu schaffen hatte. Vielleicht traten hier Umstände hinzu, die er selbst nicht in Berechnung ziehen konnte, und diese Umstände waren stärker, mühseliger, peinigender als jeweilige Begegnung, Verhör und Verhandlung mit den Parteien. Möglich, daß ein Protokoll mit seinen trockenen Aufzählungen und Registrierungen manchmal eine beredtere Sprache für ihn hatte als der weitschweifigste mündliche Bericht und als aller Jammer und alle Unzufriedenheit, die die Männer und Frauen selbst vor ihm dartaten. Dahinter lag so vieles; und so war auch, was sie äußerten, nicht das Entscheidende, das ungeheuerlich Ernüchternde und Zerrbildhafte. Sondern was dahinter lag. Denn es ist zu bedenken, daß er von alledem wußte und wissen mußte, was dahinter lag, vielfach und düster, Labyrinthen der Freudlosigkeit, Aufsammlung von Material, Geschriebenem und Gedrucktem, Beleg und Beweis von Verrat und Betrug, in allerlei Papieren verhaftet, die vorgehalten und aufbewahrt wurden und später in der Aktenregistratur vergilbten. Sie waren gleichsam die Schlüssel, mit denen er ihre Behausungen öffnen konnte, Stätten des Zerwürfnisses und der Gehässigkeit, die Schlafzimmer, in denen ihre Küsse zu Gift und ihre Umarmungen zu Wutkrämpfen geworden waren. Er kannte ihre heimlichen Wege, ihre lichtscheuen Beziehungen; es war seine Aufgabe; es wimmelte in diesem Arsenal der Zwietracht von Beweisstücken; Erinnerung und Einbildungskraft waren damit gefüllt wie die Bude eines Trödlers mit wurmstichigem Kram, mit Unsauberem und Bizarrem, Kleinlichem und Widerwärtigem, vom besudelten Bett bis zur unbezahlten Modistinnenrechnung, vom Arsenikrest in einer Kaffeetasse bis zu einem im Absteigquartier gefundenen Strumpfband, vom gefälschten Meldezettel bis zum gefälschten Wechsel. Dann die Briefe, Berge von Briefen, Berge von Lügen, Gebirge von Leiden und zugefügter Kränkung und heuchlerischen Versprechungen; Briefe, in denen gefeilscht, beteuert, geschworen, beschuldigt, geschmeichelt, gehöhnt, verwünscht und gebettelt wurde; unorthographische und andere in edelstem Stil; geschäftliche: »ich teile Ihnen ergebenst mit,« worauf eine kalte Perfidie folgte, und poetische Ergüsse; Uriasbriefe, Drohbriefe, Spionenbriefe, Erpresserbriefe, ergreifende Dokumente der Liebe, der Verzeihung und Briefe voll unversöhnlichem Haß und teuflischer Verleumdung.

Das Schweigen Laudins hatte sie alle mit einem ewigen Siegel versehen.


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