Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Atelier war voller Menschen. Es wurde eine Filmszene geprobt. Sämtliche Möbel waren in eine Ecke verstaut, so daß der Raum doppelt so groß schien. Ein blatternarbiger Mensch führte Regie. Er brüllte sich die Stimme aus dem Hals. Sechs oder acht Statistinnen, bloßfüßig, nur mit Hemd und Unterrock bekleidet, hatten sich wie eine Gänseherde am Fenster zusammengedrängt und schnatterten. Eine ebenfalls halbnackte Schauspielerin, Haare wirr, Zigarette im Mund, mühte sich mit einer Pose ab, die ihr der Blatternarbige vormachte. Der Operateur schimpfte über den ausgeliehenen Apparat. Jemand stand auf einer Leiter und befestigte eine Lichtblende überm Fenster.
Laudins Eintreten fand nicht die geringste Beachtung. Es kamen und gingen manche. Er wandte sich höflich an einen älteren Herrn, der einen grell bemalten Kulissenaspekt entrollte, und fragte nach Luise. Die Antwort war, sie müsse bald kommen, man warte auf sie. Laudin wollte wissen, wo sie sei. Achselzucken. Er sah sich ratlos um. Geruch von Schweiß und Puder belästigte ihn. Die nackten Gliedmaßen und Rümpfe der Damen hatten etwas kreidig Schales. Von dem Geschrei des Blatternarbigen gellten ihm die Ohren. Auch der erboste sich nun über die unzulänglichen Hilfsmittel. Beim Film müsse alles »eins prima« sein, sagte er; die genialste Dichtung und die genialste Künstlerin, eine Dercum nicht ausgenommen, schmissen sonst um. Er röchelte nur noch.
Laudin begab sich in den Flur. Ein Tischler hämmerte ein Gestell. Die Tür zu den Nebengemächern ging auf, und die Jungfer erschien. Als sie Laudins ansichtig wurde, wandte sie sich erbittert und hilfesuchend an ihn. Sie halte die Ortschaft nicht aus; sie sei nicht zu einer Budenbesitzerin in Dienst getreten; sie packe ihre Sachen und gehe; es sei überhaupt kein Haus für sie; jede Nacht bis um vier Uhr Krawall; die ganze Wohnung voller Bettgeher wie in einem Asyl für Obdachlose; und wenn sie sonst reden wolle; nein, Schluß damit.
Der Tischler unterbrach sein Gehämmer, blickte empor und feixte. Laudin knöpfte seinen Mantel zu. »Seien Sie so freundlich, Ihrer Herrin auszurichten, daß ich in dringender Angelegenheit hier war,« sagte er, zog die Brieftasche und drückte der Rebellin einen Geldschein in die Hand. Es war vielleicht eine Handlung der Feigheit, vielleicht eine aus Widerwillen geborene. Keinesfalls wollte er sich etwas dafür erkaufen, sondern nur eine Entfernung schaffen, von der er fürchtete, sie werde nicht eingehalten werden.
Das Mädchen nahm zögernd das Geld. Gleichsam gerührt oder doch verwundert, wiederholte sie leise: »Ja, Herr Doktor, wenn ich reden wollte . . .«
Er wehrte mit der Hand ab und verließ den Flur. Es trieb ihn zu May. Er fuhr zu Ernevoldts. Es war halb sechs Uhr, als er an der Villa läutete. Ein Gärtnerbursche öffnete ihm, verstand nicht seine Frage, ließ ihn ins Haus. Er wartete. Niemand kam. Er schritt durch einige Zimmer und sah niemand. Er war schon einmal mit Bernt Ernevoldt hier gewesen. Er glaubte sich die Freiheit der Nachschau nehmen zu dürfen, auch machte ihn vermutlich die Unruhe zwangloser. So kühl ihn Ernevoldts Depesche gelassen hatte, die Tatsache von Arnold Kellers persönlichem Erscheinen hatte Bestürzung in ihm erregt.
Indem er auch hier wieder wartete, ohne Grund noch Sinn eigentlich, wuchs die Unruhe, vermehrt um etwas Drückendes wie Heimlosigkeit, das über den niedrigen und engen Räumen düsterte. Vernachlässigung, als klebe Schimmel an den Dingen. Möbel, Teppiche, Bilder trugen das Gepräge des Luxus und gleichzeitig des Verfalls. Da war eine Türklinke schadhaft, da klaffte die Tapete; die Vergoldung von einem Rahmen war abgebröckelt, alte Asche lag im Kamin, wochenalter Staub auf der Tischplatte. Es war etwas Seelisches dabei, Verstörung, nicht nur wochenalte, sondern jahrealte. Räume bewahren nicht so sehr auf, was Menschen tun als was sie sind.
Mit dem Entschluß fortzugehen erhob er sich endlich, schritt aber noch einmal durch die nebenan gelegenen Zimmer und betrat eines, an dessen Schwelle er vorher umgekehrt war. Durch eine Glastür gewahrte er zwei alte Frauen kartenspielend an einem Tisch. Eine dritte, die einen grünen Schirm über den Augen trug, saß in einem Lehnstuhl daneben und schlief. Es waren die Tanten und die Mutter von May und Bernt. Das Bild hatte nichts Friedliches; die drei alten hageren Damen, mit weißen Häubchen auf dem Kopf, zwei von ihnen seltsam lautlos Karten auf den Tisch werfend, sahen fast gespenstisch aus. Als er sich abwandte und wieder in den ersten Raum kam, es war eine Art Schreibzimmer, wie in einer Familienpension etwa, trat May durch die Tür gegenüber.
Dämmerung war eingebrochen; er konnte kaum ihr Gesicht erkennen. Nur die silbrigen Haare leuchteten. Ein braunes knappsitzendes Straßenkleid machte die Gestalt karger und kleiner. An der linken Hand trug sie noch den Handschuh; im Begriff, ihn abzustreifen, vergaß sie es beim Erblicken Laudins. »Was ist geschehen? weshalb sind Sie hier?« fragte sie halblaut.
Er ging auf sie zu, verneigte sich und antwortete mit seiner dunklen wohlklingenden Stimme, er bitte um Verzeihung, daß er sie aufgesucht; er sei bereits bei Luise gewesen, habe sie nicht angetroffen, habe hier auf May gewartet und wolle mit ihr ein Ereignis besprechen, das für Luise nicht belanglos sein könne. Er erzählte von dem Besuch Arnold Kellers in der Kanzlei.
May schwieg eine Weile. Er konnte nicht sehen, was in ihrem Gesicht vorging. Sie sagte endlich, gepreßt: »Man muß es ihr mitteilen. So bald wie möglich. Ich weiß nicht, was daraus entstehen kann. Ich weiß nicht, wie sie es aufnehmen wird. Ich kenne den Mann nicht. Ich weiß nicht viel von ihm. Ich denke, er ist ein schlechter Mensch, möglicherweise ein gefährlicher. Was denken Sie?«
Er habe, erwiderte er, so wenig genauen Einblick wie May und könne sich nur an Luises Berichte halten, doch scheine es ihm unerläßlich, Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Nicht abzusehen, was so ein Mann im Sinn habe. Befremdend genug sein unvermutetes Auftauchen.
»Lu spielt heute abend,« sagte May; »vorher darf man ihr die Nachricht nicht bringen. Nach dem zweiten Akt ist sie frei. Um neun Uhr.«
»Ich werde um neun Uhr im Theater sein,« versetzte Laudin; »ich begleite Luise dann nach Hause, und Sie erwarten uns vielleicht dort. Es muß jemand da sein, der den Menschen allenfalls verhindert, ihre Wohnung zu belagern. Wann kehrt Ihr Bruder zurück?«
Sie wisse es nicht, flüsterte May. Seltsam, daß sie nicht daran dachte, Licht zu machen. Auch er dachte nicht daran. Es war, als dürfte keiner des andern Miene beobachten, als hätten sie das Licht zu fürchten.
»Es ist ohne meine Schuld, daß er weggereist ist,« fuhr May fort; »ich habe ja gleich gesagt, daß ich mit dem Geld nichts zu schaffen haben will. Wenn Bernt Geld in Händen hat, ist er nicht mehr zurechnungsfähig. Es war schon vor Zeiten so. Hatte er noch ein einziges Goldstück, so war er Kavalier und Mäzen; hatte er nichts mehr, so brach er zusammen. Er kann keiner Versuchung widerstehn; die Vernunft läßt ihn im Stich. Ich habe ja gesagt, ich will nicht. Jetzt bin ich verantwortlich. Ich fühle es, daß Sie mich verantwortlich machen; sprechen Sie es nur aus.«
»Nichts liegt mir ferner,« murmelte Laudin; »beruhigen Sie sich, liebe May.«
Sie schüttelte den Kopf. Die Stirn gesenkt, die Arme schlaff gesenkt, mit trüber Stimme, kaum vernehmlich, sprach sie weiter: »Es ist Ihnen nur nicht bewußt. Sie fordern Verantwortung von mir und fordern Wahrheit von mir. Ich spür es. Sie brauchen mich bloß anzuschauen, so spür ichs. Es quält mich. Manchmal hab ich mich schon gefragt, ob ich das von Lu abgelöste Gewissen bin. Vielleicht bin ichs. Lu hat kein Gewissen. Ich bin das Gewissen. Ich bin verurteilt, neben ihr herzugehen und zu leiden.« Sie rang die Hände; Laudin schwieg betroffen.
»Aber ebenso verurteilt bin ich zu schweigen,« fuhr das junge Mädchen in unveränderter Haltung fort; »das heißt, bis heute, bis heute. Heute verlangen Sie mein Reden so gebieterisch, daß ich am liebsten aus dem Zimmer laufen möchte. Schon damals . . . Sie haben mich nach Nikolaus gefragt . . . wie konnten Sie das tun. Die Wahrheit, ach Gott . . . wenn die Toten zu einem kommen, verlangen sie, daß man ihnen alle Schulden bezahlt. Immer seh ich ihn, wie er die Arme ausstreckt nach Lu, immer vergeblich. Sie lacht nur, die Furchtbare, lacht, als ob er ihr Possenreißer gewesen wäre; und ich, ich seh ihn, jede Nacht beinah erscheint er mit seiner Wunde im Fleisch –«
»Was sagen Sie da, May!« rief Laudin heiser und packte sie so stark am Handgelenk, daß sie sich bücken mußte.
Im fahlen Schein, der durch die Fenster fiel, sah er, daß ihre Augen geschlossen waren. Mit dem Zeigefinger der freien Hand deutete sie ins Leere und sagte fast singend, im Ton sonderbarer, erschreckender Harmlosigkeit, wie ein wahnsinniges kleines Kind: »Ja. Natürlich. Das hat sie mir doch erzählt. Jubelnd mir erzählt. Daß sie gezweifelt hat an ihm. Daß sie ihm seine Liebe nicht mehr glauben wollte. Nein, nicht so, nicht so. Es war nur Spiel. Sie wollte mit ihm spielen. Sie glaubte natürlich, aber sie hatte sich vorgenommen, ihn auf die Probe zu stellen. Wie weit ein Mensch in der Leidenschaft gehen kann, hat sie erproben wollen. Spielen, spielen. Kennt denn Lu Grenzen? Lu kennt keine Grenzen. Er ist zu ihren Füßen gelegen und hat gebettelt, weil doch alles von einem Tag zum andern immer anders war. Sie wollte nichts mehr von ihm wissen, spielte sie. Sie hatte den Feuerhaken in der Hand und drehte ihn wie zerstreut im Kaminfeuer herum und reizt den Verzweifelten mit Spottreden auf. Spiel, alles Spiel. Dann zieht sie das glühende Eisen aus dem Feuer und hält es ihm hin und fragt: wenn du nicht bloß ein verliebter Schwachkopf bist, so leg dir das glühende Eisen an deine Brust. Und er, denken Sie nur, er gehorcht. Er drückt sich das glühende Eisen in die Brust hinein. Es zischt, es raucht. So hat es mir Lu erzählt. Sie sagte, daraus ist die schönste Nacht ihres Lebens geworden. Denken Sie nur!«
Laudin war drei Schritte zurückgewichen. Er tastete mit einem Arm um sich, er packte eine Stuhllehne und sank auf den Sessel. Kalter Schweiß brach an seinem ganzen Körper hervor. »Sie reden irre, May,« stammelte er. »Sie verlieren sich in Spukgeschichten. Mit Schreckbildern von Dämonen und Theaterteufeln wollen wir uns nicht befassen. Kommen Sie zur Besinnung. Ich will nichts gehört haben. Ich will vergessen, was ich gehört habe.«
»Ja, glauben Sie denn, das ist alles?« schrie May weinend auf und preßte beide Hände an ihre Stirn.
Mit äußerster Selbstbeherrschung zwang sich Laudin zur Ruhe. »Genug, beste May,« sagte er anscheinend freundlich und erhob sich; »ich denke, es ist am besten, ich lasse Sie jetzt allein. Sie befinden sich gewiß in einem überreizten Nervenzustand. Haben Sie die Güte, Licht zu machen. Ich finde den Schalter nicht. Ich habe da irgendwo Hut und Mantel hingelegt. Ich will dann gehen. Ich habe noch zu tun.«
May schritt zur Wand. Die elektrischen Birnen flammten auf. Totenbleich, verkroch sie sich gleichsam in einem Winkel. »Bitte, bleiben Sie noch,« flehte sie, »zehn Minuten noch. Ich fürchte mich vor dem Alleinsein.«
Laudin zögerte, überlegte, blieb. Das mächtige Haupt vorgeneigt, mit nervös zuckendem Unterkiefer, stand er am Tische und trommelte mit den Fingern mechanisch auf einem Buchdeckel.
May hatte die zusammengelegten Hände zwischen die Knie geschoben. »Nein, da ist wirklich nichts von Teufel oder Dämon,« flüsterte sie; »man liest von solchen Frauen in Büchern, ich weiß, aber das ist hier ganz anders. Man kann es nicht erklären. Alles ist so schrecklich, so lächerlich anders. Wissen möcht ich nur eins,« und sie erhob Blick und Stimme ein wenig, ohne sich der Schüchternheit und Gedrücktheit zu entledigen, die, seit das Licht brannte, über sie gekommen waren, »wissen möcht ich nur, was Sie, Doktor Laudin, zu Lu hinzieht oder an ihr lockt, oder wie soll mans nennen. Ein Mann wie Sie. Es ist mir so sehr rätselhaft. Wenn ich das wüßte, es wäre wie eine Erleuchtung für mich.«
Laudin sah rasch empor. Zuerst blitzte Unwille in seinen Augen, dann verriet der Blick jene Unschlüssigkeit, die sich zeigt, wenn man jemand Rede stehen soll, dessen man nicht vollkommen sicher ist. Doch war es vielleicht zur Stunde so mit ihm bestellt, daß der Zuhörer weniger Bedeutung hatte als die dargebotene Gelegenheit zur Selbsterforschung. Eine Not war da, finstere, unermeßliche Not, und vom Wort her, wurde es auch nur dem eigenen Sinn verständlich, konnte Erleichterung kommen.
Er begann, Hände auf dem Rücken, unablässig auf und ab zu gehen.