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ZweiTage und zwei Nächte lag Pia der Pflege Laudins ob. Sie rief keinen Arzt, weil Laudin sie gebeten hatte, davon abzusehen, und weil sie außerdem erkannte, daß es sich nur um einen Erschöpfungs- und Depressionszustand handelte, für den Ruhe das beste Heilmittel war. Mit dem Haus und mit den Kindern hatte sie sich telephonisch in Verbindung gesetzt, die ihr notwendigen Gegenstände ließ sie sich vom Stubenmädchen bringen, auch die Kanzlei benachrichtigte sie durch das Telephon. Frau von Damrosch bot ihr mehrmals ihre Hilfe an, aber sie schlug es dankend ab. Zweimal des Tages kamen Marlene und Relly, immer nach Schulschluß, ehe sie heimfuhren; Pia ließ sie nicht ins Zimmer des Vaters, wechselte draußen nur wenige Worte mit ihnen, sie in heiterer und überlegener Weise beruhigend.
Von ebensolcher Heiterkeit waren die Handreichungen getragen, die sie Laudin leistete, die kurzen Fragen, die sie an ihn richtete, die Antworten, die sie auf seine Fragen gab. Meist saß sie mit einer Stickarbeit am offenen Fenster, bisweilen auch mit einem Buch; wenn sie den Blick erhob, ließ sie ihn nachdenklich über die im ersten Grün stehenden Baumwipfel des Parks gegenüber schweifen; wenn die Mahlzeitstunden nahten, ging sie in die Küche und brachte die von ihr bestellten und nach ihrer Anweisung zubereiteten Speisen selbst an Laudins Bett; nachher aß sie allein im Nebenzimmer.
Schweigend verfolgte Laudin ihr Hin- und Hergehen. Schweigend ruhten seine Augen auf ihr, wenn sie am Fenster saß oder abends bei der verhängten Stehlampe. Er sah ihre edelgewölbte Fräuleinstirn an, ihre klaren Züge, das goldfarbene glatte Haar, die junge, schmiegsame Gestalt, und er schien zu suchen, irgend etwas zu suchen. Zu keiner Stunde hatte das zwischen ihnen herrschende sonderbare Schweigen etwas Peinliches oder Gedrücktes, wohl aber etwas Abwartendes und auf bedeutungsvolle Sammlung Weisendes.
Endlich, am Abend des zweiten Tages, zu vorgerückter Zeit schon, Pia schickte sich eben an, verschiedene Vorbereitungen für die Nacht zu treffen, richtete sich Laudin ein wenig aus den Kissen empor, stützte den Kopf auf den Arm und sagte: »Wir müssen nun unsere Entschlüsse fassen, Pia. Was wir tun müssen, kann nun nicht länger aufgeschoben werden.«
»Hast du denn deinen Entschluß noch nicht gefaßt?« fragte Pia etwas verwundert, oder scheinbar verwundert, und strich mit den Fingerspitzen ihrer linken Hand über die linke Schläfe, eine häufige Bewegung von ihr, besonders wenn sie, wie jetzt, zu einem Gespräch Platz nahm. »Ich war der Meinung, du bist längst mit dir im reinen. Schließlich, was gibt es da auch viel zu reden? Ich vermute, du hast dir deinen Weg vorgezeichnet, Friedrich. Was mich betrifft, ich habe mich bloß zu fügen. Das habe ich dir ja gesagt, und daran hat sich nichts geändert. Nimm an, du hast eine Klientin vor dir. Die Situation ist dir doch nichts Neues. Du sagst ihr: das und das muß geschehen. Ich, deine Klientin also, folge dir blind.«
Laudin schaute sie forschend an. »Das klingt sehr verständig, Pia,« antwortete er; »sehr rücksichtsvoll auch, und im Grunde sehr stolz. Ja, es ist nicht wenig Stolz dabei im Spiel, wenn man sagt: verfüge über mich, ich tue, was du willst. Es ist der Stolz von der andern Seite, der Stolz des Verzichts, die Ergebung, durch die man den Gegner, verzeih dieses Wort, aber die Tatsache solcher Auseinandersetzung bewirkt schon Gegnerschaft, durch die man den Gegner beschämt und entwaffnet. Ich möchte aber von dir nicht beschämt und nicht entwaffnet werden. Ich möchte mich mit dir verständigen, aufrichtig und offen, wie es sich für so gute alte Gefährten ziemt. Ich weiß nicht, wie es um dich bestellt ist. Ich weiß nicht, mit welchem Sinn du mir entgegentrittst, mit welchen Vorbehalten du dich, anscheinend so vertrauensvoll, in Wirklichkeit so karg, so zugeschlossen, in meine Hände gibst.«
»Vorbehalte? Ich habe keine Vorbehalte, Friedrich, bei Gott nicht,« versicherte Pia erstaunt.
Mit seiner warmen, eindringlichen Stimme fuhr Laudin fort: »Du sollst nicht glauben, ich will mir nun, nach allem Vorgefallenen, den bequemen männlichen Luxus vergönnen, daß du mir zu einem reinen Gewissen verhilfst und sozusagen den blauen Himmel der Freundschaft über uns beide spannst. Ich habe zuviel Erfahrung in diesen Dingen, ach, die grauenhafte, die unerbittliche Erfahrung, Pia! zuviel Erfahrung, um nicht zu wissen, was für Trostlügen, Fluchtlügen und Aufschublügen bei Entscheidungen von unserer Art das Wort Freundschaft verbirgt. Wäre es Freundschaft, wozu dann Entscheidung? Freundschaft braucht nicht Entscheidungen. Das alles hast du also nicht zu fürchten, nicht die schmerzlichen Aufenthalte bei Begriffen, an denen überall Mißverständnis und Trug klebt. Aber ich möchte klar sehen. Ich möchte deine Beweggründe kennen, deine Beurteilung, deine Gemütslage, damit ich mich, innerlich und äußerlich, danach einrichten kann.«
Pia machte eine ratlose Handbewegung. »Was soll ich dir darauf erwidern?« fragte sie; »du weißt es doch; du mußt es wissen. Ich will kein Hindernis sein. Wenn du dein Leben ändern, dein Schicksal neugestalten willst, will ich nicht zwischen dir und deinem Vorsatz stehen. Ich könnte mir das nie verzeihen. Nie könnt ich dir ehrlich in die Augen sehn. Stolz? O ja, es ist vielleicht auch Stolz dabei. Verübelst du mir den Stolz, der mich davor schützen muß, daß ich mich selber verachte, wenn ich dein Hindernis bin?«
Ihre Augen strahlten in die eigene Tiefe hinein. Laudin konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Eine wachsende Spannung und Neugier ergriff Besitz von ihm. Es waren nicht ihre Worte, die ihn aus der Ruhe aufrüttelten, einer trostlosen und fatalistischen Ruhe übrigens, sondern der Ton, das Echo im Ton, die Erfülltheit, die neben dem Gesprochenen das Verhaltene ahnen ließ, wodurch es in einem schönen Sinn nicht ganz aufrichtig wurde. Er wünschte zu fragen. Da sie sich nicht frei und von selber geben konnte, wollte er sie aus sich herausholen. Es schien ihm wichtig, über alles wichtig. Er fragte: »Darf ich ein paar Fragen an dich stellen?« Sie hatte natürlich nichts dawider. Es dünkte ihr die einfachste Lösung, wenn er fragte und sie antwortete. Dabei beobachtete sie mit Verwunderung seine Neugier, seine Spannung, die plötzliche Belebtheit, die Unruhe. Sie sah an sich herab, ob etwas an ihr fremd oder anders sei. Frauen haben manchmal das geheimnisvolle Gefühl, wie wenn sie sich innerhalb weniger Minuten vor den schauenden Augen eines Mannes gänzlich verwandelten, oder sie erhalten von geschehener Verwandlung da erst Bestätigung und Gewißheit.
Er glaubte nur zwei oder drei Fragen stellen zu müssen, aber es wurden deren viele. Es wurden so viele, daß es den Anschein gewann, als hätte er Pia seit Jahren nicht gesehen und seit Jahren nichts von ihr gehört. Eine löste die andere ab, und Pia suchte jede einzelne so gut wie möglich zu beantworten, sorgsam auf Genauigkeit bedacht und dabei immer mehr Mut zu Laudins Blick und Auge fassend. Zuerst fragte er, ob sie bereits den ganzen Umfang des Unheils gekannt, als sie ihm nahegelegt hatte, vom Hause wegzuziehen. – Nein, noch nicht den ganzen, sagte sie, nur was ihr die Leute zugetragen, was sie aus Brigitte Hartmanns boshaften Entstellungen herausgenommen und hauptsächlich, was ihr sein eigenes Wesen verraten; das habe ihr genügen müssen; das Eigentliche habe sie erst von Fraundorfer erfahren, doch merkwürdigerweise habe es sie nicht so sehr überrascht, nicht so schwer getroffen wie man denken sollte; er wolle wissen, warum; das könne sie nicht erklären; es sei eben schon früher alles dagewesen, in ihr drin gewesen.
Habe sie denn begriffen, wie groß das Unglück war, fuhr er fort, wie über alle Maßen groß? – Sie denke, ja, erwiderte sie fast bescheiden, es habe sich wie ein Berg über sie gewälzt. – Und daß es nicht ein einseitig begrenztes Unglück gewesen, nicht ein zufälliges, keins, das von einer Begegnung abgehangen, von einer Libertinage verursacht worden, sondern ein gesetzhaftes, ein geisthaftes, eins, das die Existenz selber ausgebrütet? – Auch das habe sie geahnt; jetzt wisse sie es; nur verstehen könne sie es noch nicht ganz. – Sie senkte den Blick, um ihn gleich wieder auf ihn zu richten, aufmerksam und bereitwillig. Und er: Wenn sie an jenem Morgen schon von Fraundorfer wäre aufgeklärt gewesen, hätte sie dann auch nicht anders gesprochen als sie getan, in derselben moderierten und freundlich besonnenen Weise? – Zweifellos, um nichts anders. – Und hätte ihn so, genau so in der Schwebe gelassen über das, was sie wußte, ob sie nun Vermutung und Argwohn hegte oder eine sein Bild verdunkelnde Gewißheit mit sich herumtrug? – Sein Bild sei nicht verdunkelt gewesen (nach sekundenkurzem Zögern), könne nicht verdunkelt werden. – Da sie aber eingestandenermaßen voll Unruhe und halber Kenntnis gewesen, warum sei sie nicht zu ihm gekommen und habe ihn zur Rede gestellt? – Dergleichen läge ihr nicht; das könne sie nicht. – So viel Vertrauen hätte sie ihm aber schenken müssen. – Da er nicht von selbst gesprochen, hätte sie es für einen Übergriff gehalten, wenn sie ihn dazu veranlaßt. – Einen Übergriff? Wie denn? Vielleicht hätte er darauf gewartet. – »Nein, darauf hast du bestimmt nicht gewartet, Friedrich.« – Vielleicht hätte es ihn gerettet, vielleicht hätte sie ihm geholfen damit? – So hätten er und sie das Leben nicht geführt, versetzte sie, auf Aussprache sei es niemals angekommen, habe sie doch gewußt und sich früher schon darin zurechtgefunden, daß sein ganzes Tun und Wirken von Aussprache, vergeblicher Aussprache der Menschen untereinander gefährdet gewesen sei; alles sei in ihr, beizeiten schon, darauf angelegt gewesen, still zu sein und nicht zu stören.
Er staunte mehr und mehr. Er hatte einen Ausdruck im Gesicht, als könne er es nicht fassen, daß sie es wirklich war, Pia, die da vor ihm saß, dieselbe Pia, die seit sechzehn Jahren lächelnd, ordnend, schonend, verwaltend, wortlos fast und bei alledem unbekannt, wie sich jetzt herausstellte, an seiner Seite gegangen war. Das ist also Pia, schien er sich zu sagen, mit derselben Bestürzung, die ihn erfaßt hatte, als er den Koffer angestarrt, nur diesmal unter der Macht einer lebendigeren Offenbarung. Er legte sich in die Kissen zurück, preßte die Hand auf die Stirn und grübelte. Indessen rückte Pia ihren Stuhl ein wenig näher zu seinem Bett. Nach einer Weile richtete er sich von neuem auf.
Ob sie sich denn nicht von ihm verraten gefühlt habe? wollte er wissen. – Nein; sie habe ihn niemals für fähig gehalten, einen Menschen oder eine Sache zu verraten. Wenn das, was er getan, oder besser gesagt, was er erlitten, ihr als Verrat erschienen wäre, das heißt, wenn sie dabei an seiner Ehre und Ehrenhaftigkeit gezweifelt hätte, dann hätte sie nicht ihn gebeten, das Haus zu verlassen, dann wäre sie selber aus dem Haus gegangen. Dabei lächelte sie eigentümlich und rückte noch ein wenig näher. Laudin aber stutzte. Den Unterschied hatte er sich in seiner Männerrobustheit nicht klar gemacht; er gewährte ihm einen Blick in die Feinheit und Kraft ihrer Empfindung. Aber, wandte er ein, wie um sie tiefer und tiefer zu prüfen und sich selbst höhere und stärkere Gewißheiten zu verschaffen, ein derartiger Zweifel sei ihr unter solchen Umständen erlaubt gewesen. – Weshalb rüttle er an etwas, woran sie selber nie zu rütteln gewagt? fragte sie erstaunt. – Weil er sich von Schuld nicht freisprechen könne, weil er die verdammte Pflicht gehabt habe, sich ihr zu eröffnen, war die Antwort. Sie schüttelte den Kopf. Wenn er anfange, von Schuld zu reden, kämen sie ins Aschgraue, sagte sie noch ernster und rückte jetzt ganz nah an den Rand seines Bettes; er habe sie durch all die Jahre daran gewöhnt und dazu erzogen, daß sie mit sich allein und er mit sich allein fertig werde; wäre es nicht so gewesen, nicht so gehalten worden, so wäre keiner von ihnen beiden mit sich und seinen Dingen fertig geworden. – »Aber wir haben die stillschweigende Übereinkunft bis zum verhängnisvollen Extrem getrieben!« rief Laudin aus; »was hast du dir gedacht? was hast du dir vorgestellt? wie hast du dich innerlich zurechtgefunden?« – »Zurechtgefunden hab ich mich zum Schluß freilich nicht mehr,« sagte sie; »aber da wir doch nicht als siamesische Zwillinge auf die Welt gekommen sind, so mußt ich auf ein Auseinandergehn gefaßt sein; und weil es Treue nur gibt, weil Treue nur dann etwas bedeutet, wenn die Versuchungen, sie zu brechen, wirkungslos bleiben, dacht ich, meine Zeit ist vorüber und du wärst nur zu artig, zu rücksichtsvoll und vielleicht auch ein bißchen zu feig, es dir und mir zu gestehen. Und hauptsächlich hatt ich das Gefühl, du hättest mich irgendwo und irgendwann auf deinem Weg verloren und hättest es selbst nicht bemerkt oder zu spät bemerkt und hättest schon vollständig vergessen, daß ich da war. Daran aber war ich wirklich auch schuld, weil ich mich mit Absicht und Mühe immer klein gemacht habe, mich in die Winkel versteckt habe, hinter lauter Sachen, weißt du, lauter dumme stumme Sachen, und ich konnte schließlich nicht mehr von dir erwarten, daß du mich suchst oder gar, daß du mich findest und hervorholst.« Sie lächelte, aber das Lächeln geriet ein wenig weh. »Vor allem hab ich mir dann gesagt: nur kein Geschrei,« schloß sie mit einer Geste, als ob sie ein sauberes Tuch über etwas breite, was nicht ganz präsentabel war; »nur kein Geschrei, nur nicht sich wichtig machen und aufblasen. Ich weiß ja, wie das ist und daß alle um dich herumstehen mit ihrem Jammer.« Sie schwieg und sah ihn an.
»Nun, und jetzt? und heute?« fragte er mit gedämpfter Stimme und streckte zaghaft die Hand nach ihr aus.
Sie sah ihn an. Er getraute sich nicht, die Frage zu wiederholen. Sie schien überrascht. Möglicherweise dünkte ihr die Frage in diesem Augenblick unzart, ein Überfall, der sie ängstigte und verwirrte. Laudin spürte es, und mit Reue, wie ihm anzumerken war. Aber das allein konnte es kaum sein, was seine Züge gleichsam von einer Nebelschicht befreite, um sie der immer stärker werdenden Strahlung einer heimlichen Lichtquelle auszusetzen. Indem er Pia mit gespannter Schärfe im Blick hielt, trat das Unbekannte an ihr mit jäher Deutlichkeit für ihn in Erscheinung. Nicht das, was sich ihm in der wiederkehrenden Alltäglichkeit und bequemen Gewöhnung nach und nach entzogen hatte; nicht was einmal gewesen war an Jugendschmelz und früher Zierlichkeit und Flor der ersten Jahre und was für ewig dahin war, so daß er nur das Opfer eines sinnlichen Trugbildes geworden wäre, hätte er es, von der kurzen Täuschung geschmeichelt, fassen wollen; nicht das, sondern etwas anderes, ganz Neues, neue Gestalt, neues Auge, neues Antlitz, neuer Sinn, ohne sein Wissen und Zutun gewachsen und zwischen Augenblick und Augenblick, abgelebtem Leben und neuem an entscheidender Wegstelle sich zu ihm gesellend.
Wie vertraut ihm auch die Unzahl der Ursachen war, die den Niedergang und Zerfall von Ehen verschuldeten, so hatte er doch allzusehr in der vergifteten und stürmischen Atmosphäre von Katastrophen gelebt, um seine Aufmerksamkeit den zarten und hohen Entwicklungen zuwenden zu können, die sich, selbst über die kultiviertesten Schichten der Mitlebenden noch erhoben, in einigen erlesenen und durch das Schicksal mit Wandlungsfähigkeit begnadeten Seelen ereignen. Bei aller Verästelung ins Schwierige und oft bis zur Subtilität gesteigerten Verstrickung problematischer, ja tragischer Charaktere hatte letzten Endes doch nur das Grobe, Brutale, Exaltierte, Unbändige, Leidenschaftliche und Abnorme den Ausschlag gegeben, meist auch den Anstoß. Obschon es ihm vielleicht zu gewissen Zeiten fühlbar geworden, hatte er es doch nicht immer festzuhalten oder als Richte zu wahren vermocht, welch ungeheure Rolle im dauernden und durch inneres Gesetz gewollten Zusammenleben von Mann und Weib das Miteinandergehen auf derselben Ebene und auf derselben Stufe bildet. Im Anfang sind sie einander sinnlich-leiblich nahe; alle; stets; sie gehen und sie gehen, und sie glauben einander zu halten und sind längst nicht mehr einer beim andern. Statt des Begleiters ist nur sein Schatten noch da; jeder geht seinen Weg, und jeder glaubt, der Schatten neben ihm sei der andere wirklich. Sie haben einander verloren, reden aber doch noch zu- und miteinander; wie im Traum; wie Leute, die um keinen Preis auf eine Traumillusion verzichten wollen, und weder ein menschlicher noch ein göttlicher Geist könnte an einem von beiden eine Schuld ausfindig machen. Das war das Seltene; der schmerzliche Konflikt der Seltenen; soweit hat Laudin bisweilen noch schauen können; doch daß der abgelöste Teil, der verlorene und vergessene, wie sich Pia ausgedrückt, das Schattendasein nur wie eine Verkleidung wählt, in rätselhafter Scham, tiefem Gefühl von sich und seinem Wert, freiwillig sich entfernt, um dann, wenn die Zeit erfüllt ist, auf der höheren Ebene und höheren Stufe vollendeter, zur Kameradschaft reifer, im Menschlichen süßer, in der Beziehung zur Welt veredelter wiederzukehren, das hatte er nicht gewußt, nicht erfahren und auch nicht für möglich gehalten. Wenn es nun dennoch möglich, ja sogar geschehen war, so mußten davor die »Phantome« zerrinnen, seine Phantome, seine Phänomene, seine Erinnyen, so ließ sich glauben (hier stockten seine Gedanken vermutlich, wie Vögel, die sich über ihre Flugkraft hinaufschwingen), ließ sich glauben, daß das wunderbare Doppelwesen, über das er sich in mutlosen Phantasien ergangen, das gepaarte Eins, in seiner schweren und so lange finster gewesenen Existenz zur Wahrheit im Fleisch geworden war . . .
Ließ sich dies glauben?
»Du fragst mich, was jetzt werden soll,« hörte er Pia sagen; »ich habe darüber nachgedacht. In den letzten Tagen habe ich eigentlich nichts anderes mehr getan als darüber nachgedacht. Ich will dir sagen, was meine Ansicht ist. Ich will dir antworten.« Nun erst ergriff sie seine Hand, die sich nach ihrer ausgestreckt hatte.
Er hörte sie weitersprechen, und was sie vorbrachte, war aus ihm, aus seinem Denken, aus seinen Kämpfen; was er nicht gewagt sich einzugestehen, sprach sie mutig, ja mit einer Art von Arglosigkeit aus:
»Du mußt aufhören so zu leben, wie du bisher gelebt hast. Es ist nicht der rechte Weg, auf dem du gehst. Du wirst kein Anwalt mehr sein. Du wirst keine Prozesse mehr führen. Du wirst nicht mehr mit Parteien verhandeln. Du wirst nicht mehr bei Gericht plädieren. Du wirst die Kanzlei aufgeben, verkaufen meinetwegen, was du willst. Das vor allem ist notwendig. Diesen Beruf mußt du verlassen. Es ist keiner für dich. Oder seit einer gewissen Zeit, ich weiß nicht genau seit wann, keiner mehr für dich . . .«
»Dies, meine liebe Pia, ist kühn,« erwiderte er heiß erschrocken und doch mit einem heimlichen, heimlich entzückten, der Befreiungsmöglichkeit noch nicht trauenden Aufatmen; »eine kühne Diagnose, ein waghalsiges Diktat. Kann man einen Beruf einfach von sich werfen? einen Beruf wie den? wird ein richtiger Mann nicht mit seinem Beruf geboren, und deckt er sich auch nicht immer mit der Berufung, schmiedet ihn das Leben nicht an ihn an? Er ist der Hebel der Existenz; Triebwerk. Was soll ich sonst auf der Welt tun? wozu sonst bin ich gut?«
Das möge er ihr nicht sagen, ließ sich Pia vernehmen, er sei zu ganz anderem gut. Sie weiß, daß höhere Eigenschaften in ihm liegen als die, die er in der täglichen Fron verwertet. Sie drückte es so einfach wie zuversichtlich aus. Er hat ja einmal gesagt, allerdings schon vor Jahren, seine eigentliche Lebensarbeit und -aufgabe habe er verpaßt. Wann? fragte er betroffen, wann habe er das geäußert, bei welcher Gelegenheit? Das kann sie so präzis nicht beantworten, um die Zeit jenes großen Prozesses wegen Kindesunterschiebung war es, er muß sich erinnern, er ist damals ungemein deprimiert gewesen. Jawohl, unterbrach er sie, er erinnere sich, der Knoten habe sich nicht lösen gewollt und die verworrenen Fäden hätten Richter und Anwälte umstrickt. Eben, bestätigte sie, und da habe er es ausgesprochen: seine Mission hätte es sein können, die Grundlagen zu einer neuen Gesetzgebung zu schaffen. Sie habe sich das gut gemerkt. Es sei ihm auch nicht zu spät erschienen, daß man die Richtung ändere; er ist vor ihr gestanden und hat gesagt: nur so könnte ich meinem Land und meinem Volk dienen. »Vielleicht ist es aber jetzt zu spät,« warf er ein. – – »Wie soll es denn zu spät sein, wenn man ernstlich entschlossen ist und wenn es die höchste Notwendigkeit ist!« – »Du hältst es also für eine Notwendigkeit, und sogar für eine höchste?« fragte er mit eigentümlich erwartungsvollem Lauern.– »Ja, das tu ich.« – »Aber man ist verkettet, an tausend Pflichten gebunden, an soundsoviele Geschäfte, soundsoviele Schicksale, das Wort ist verpfändet, der persönliche Kredit steht auf dem Spiel . . .« Oh, Pia weiß, was auf dem Spiel steht, viel mehr als er zugibt steht wahrscheinlich auf dem Spiel, allein es ist ja auch etwas Großes; das will erstritten werden, muß, muß, muß. Sie drückt die rechte Faust in die linke Handfläche. »Muß Pia?« – »Prüfe dich doch, ob es kein Muß ist; ehrlich, verfahre ganz ehrlich mit dir, Friedrich, mit dir und mit mir.« Was für eine Kraft der Beschwörung in der Wortarmen! Ja, er begreift, er sieht ein; doch werden Menschen wider ihn aufstehen und ihn der Fahnenflucht bezichtigen. – »Laß sie aufstehen, du weißt es besser.« – »Sie werden sagen, dem Laudin ist die Geschichte über den Kopf gewachsen, er hat das bequemere Teil erwählt und lebt seinem Vergnügen.« – »Mann!« rief Pia aus, »die dich kennen, werden das nicht sagen, die wissen, daß dein Vergnügen am Leben leider nicht besonders groß ist und nicht einmal dein Talent zu leben.« – Ei, die Lustige. Ein Lächeln zuckt über Laudins angegriffene Züge. »Immerhin, die Welt sorgt dafür, daß wir uns ihr nicht unbeschmutzt entziehen,« sagte er; »bedenke auch: unsere Existenz ist auf einen gewissen Standard zugeschnitten. Die Kinder; das Haus . . .« – »Nun ja, da sind wir also am gefährlichen Punkt,« antwortete Pia; »du sollst mir nicht die Versorgung mit dem andern verquicken, ich weiß nicht, wie ichs nennen soll. Selbstverständlich muß man die ganze Wirtschaft umstellen. Der Verbrauch muß eingeschränkt werden, und zwar ganz bedeutend. Die Villa werden wir verkaufen oder vermieten und eine kleine Wohnung nehmen oder Relly und Marlene in Pension geben und uns aufs Land zurückziehn, du allein oder ich mit dir, je nachdem, das muß man prüfen und abwarten. Du mußt zur Ruhe kommen. Das ist eine Arbeit für dich so gut wie eine andere. Es kommt mir vor, als ob du auf die Jagd gehen müßtest, auf die Jagd nach dir selber, aber du mußt dich fangen, und du wirst dich fangen.«
»Pia!« rief Laudin erschüttert.
»Du bist noch nicht achtundvierzig Jahre alt, du kannst noch einmal von vorn anfangen, du sollst es, du wirst es. Und wenn du es willst und wenn du mich als Gefährtin dazu haben willst, aber nur dazu, dann . . .«
Sie brach plötzlich vornüber, lautlos. Ihr Kopf fiel an seine Brust.
Er legte beide Hände auf ihren Scheitel.