Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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10

Am Sonntagvormittag legte Pia, wie allwöchentlich, diejenigen Rechnungen zusammen, die sie von ihrem Wirtschaftsgeld nicht bezahlen konnte, auch nicht zu bezahlen brauchte und ging damit zu ihrem Mann. Laudin saß am Schreibtisch in der Bibliothek. Draußen hatte es zu schneien begonnen.

»Ich muß dich leider stören, Friedrich,« sagte Pia, »aber du weißt ja: die Sonntagsprüfung.«

»Freilich, mein lieber Departementschef,« bemühte sich Laudin zu scherzen. »Pflicht ist Pflicht. Was gibt es also an bösen Überraschungen? Her mit dem schrecklichen Dossier.«

Den schmiedeeisernen Gartenzaun hatte der Sturm beschädigt, und er war hergerichtet worden. Im Keller war das Wasserrohr gebrochen und erneuert worden. Gebühren für das Telephon. Maurerarbeiten in der Küche. Kauf einer Waschmaschine und eines elektrischen Ofens für die Bügelkammer. Koks für das Glashaus. In Summa fünfunddreißigeinhalb Millionen.

Während Laudin die Rechnungen durchsah, stand Pia neben ihm und stützte sich mit dem Arm auf seine Schulter.

Er erhob keinen Einwand. Er setzte in Pias Wirtschaftsführung unbedingtes Vertrauen und hätte es seiner und ihrer unwürdig gefunden, Anschaffungen, die sie machte und die sich mit der Zeit als weitblickende Sparmaßnahmen erwiesen, zu kritisieren. Er schaute ihr nach, als sie das Zimmer wieder verließ, den Gruß oder das heitere Kopfnicken erwartend, wenn sie sich an der Türe noch einmal umdrehte. Und als sie ihm mit der Hand zuwinkte, waren seine Züge schon zur freundlichen Erwiderung bereit. Dann beugte er sich wieder über den Schreibtisch, aber statt den angefangenen Brief fortzusetzen, malte er allerlei bärtige und adlernäsige Profile auf das Löschblatt.

Pia saß am Telephon. Zuerst beschwerte sie sich beim Milchhändler über die schlechte Qualität der gelieferten Milch; hierauf ließ sie sich, Sonntags halber, mit der Privatwohnung des Tapeziers verbinden und stellte ihn wegen der versäumten Reparatur des Speisezimmersofas zur Rede; der Stoff liege schon seit vierzehn Tagen in seinem Geschäft; er habe ihr versprochen, Freitag selbst zu kommen oder den Gehilfen zu schicken, und so weiter. Schließlich läutete sie geärgert ab.

Sie schaute besinnend vor sich hin. Alle diese Dinge, Zäune, Wasserrohre, Waschmaschinen, Ofen, Kohlenladungen, Milchkannen, beschädigte Küchenfliesen und neue Sofaüberzüge belagerten sie, und jedes hatte sein besonderes Anliegen an sie. Es gab kein Ruhen und kein Nachdenken, ohne daß ihr ein solches Ding, anspruchsvoll und hilfsbedürftig, vor Augen schwebte. Das Haus war vollgestopft von ihnen. In jedem Raum hingen, lagen und standen sie. Die Leute waren im allgemeinen der Ansicht, daß der Mensch die Dinge nötig habe. Diese Ansicht war entschieden töricht und verkehrt; in Wirklichkeit verhielt es sich so, daß die Dinge in unverschämter, aufdringlicher und schamloser Weise den Menschen nötig hatten und forderten und seine Kraft und seine Zeit nach ihrem Gutdünken mißbrauchten.

Bücher verlangten von Staub gereinigt zu werden. Türklinken verlangten glänzend gerieben zu werden. Teppiche verlangten ausgeklopft zu werden. Schränke verlangten geordnet zu werden. Betten verlangten überzogen zu werden. Fußböden verlangten ausgefegt zu werden. Strümpfe verlangten gestopft zu werden. Gartenwege verlangten gekiest zu werden. Blumen verlangten begossen zu werden. Es hatte nicht Geist und nicht Verstand. Es genügte nicht, ihnen einmal, ihnen zehnmal den Willen zu tun; sie kamen immer wieder und erhoben ihre frechen Ansprüche jedesmal mit derselben Unerbittlichkeit. Stellte man sich taub oder verschanzte sich hinter einer Ausflucht, so war die Folge Unreinlichkeit, Verwahrlosung, doppelte Mühe und schlechtes Gewissen.

Pia war von den Dingen beherrscht; sogar zwischen ihr und ihren Kindern erhob sich die Barrikade von Dingen. Ihr hört es: Marlene ruft nach ihren Schneeschuhen; Relly findet ihr französisches Lehrbuch nicht; die Pflegerin requiriert das Gabelfrühstück; das Stubenmädchen jammert, weil sie den Schlüssel zum Weinkeller verlegt hat; die Köchin murrt, weil der Herd keinen Zug hat. Wenn Pia auch nicht selbst die Schneeschuhe bringen, das Lesebuch herbeischaffen, das Gabelfrühstück besorgen, die Kellerschlüssel suchen, den Herd in Funktion setzen muß, sie ist doch die Instanz, an die sich alles wendet, und das oberste Tribunal; sie muß Rat erteilen, beschwichtigen, anfeuern, Rücksicht üben, Geld hergeben, den einen loben, den andern tadeln und darf an sich selber nicht denken.

Gäste kommen nicht zu ihr; sie kommen ins Haus. Wenn sie mit Laudin ins Theater oder in Gesellschaft geht, laufen die Dinge plappernd und streitsüchtig wie in einem Märchen von Andersen hinter ihr her. Wenn ihr jemand ein Kompliment macht, etwa daß sie hübsch und anmutig sei, fällt ihr ein, daß man morgen in aller Frühe in die Apotheke schicken und Kalkpulver für den kleinen Hubert holen muß.

Wenn der Briefträger in den Flur tritt, weiß sie, daß er keine Briefe für sie hat, nichts, was nur ihre Person allein betrifft, kein Geheimnis, nicht den Schatten von etwas, das nur ihr gehörte. Denn wo ist sie? wo ist Pia?

Gibt es denn noch eine Pia? Steckt nicht vielmehr Pia in den Dingen drin, in Zäunen, Wasserrohren, Sofabezügen, Milchkannen, Schneeschuhen, Teppichen und Türklinken? Leuchtet ein Abendrot für sie? Singt eine Sängerin noch für sie? Kann sie sich noch freuen? kann sie trauern? sehnt sich ihr Herz? nimmt es teil an der Welt? Oder ist es nicht vielmehr ein bloßer Zettelkasten, auf dem Dinge verzeichnet stehen? der Reihe nach, mit ihren Preisen und Beschädigungen?

Aber Pia weiß nichts davon. So wenig wie sie weiß, wer sie ist, so wenig spürt sie, was sie, vielleicht, entbehrt. Sie fragt nicht, sie hadert nicht, sie philosophiert nicht; sie schaut; sie wirkt; und abends ist sie müde. Sie ist nicht zu einer andern Art des Lebens aufgerufen worden, bis jetzt noch nicht; sie kennt keine andere; die ihr angewiesen ist, die scheint ihr als die einzig mögliche für sie, und sie trachtet, ihr zu genügen.


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