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Der »Punkt,« den er, um seine Worte anzuwenden, in der Korrespondenz zwischen Altacher und May gefunden hatte und von welchem aus er gegen Konstanze vorgehen wollte, diente ihm in der Tat gleich zu Anfang als Stütze in der Kontroverse mit dem Advokaten David Kerkowetz. Es handelte sich um einen Vorfall, der zwei Jahre zurücklag. Edmund Altacher hatte beim Tod seiner Mutter unter andern Schmuckgegenständen eine schöne alte, mit Edelsteinen besetzte Miniatur geerbt. Das Kunstwerk gefiel ihm über die Maßen, und er beschloß, es seiner Freundin May zu schenken, der er es gezeigt hatte und die nicht weniger als er davon entzückt war. Es fehlten aber an der Diamantenumrahmung mehrere Steine, und um die ersetzen zu lassen, trug er das Bildchen zu seinem Juwelier. Konstanze hatte davon erfahren. Sie begab sich ein paar Tage später zu dem Juwelier, verlangte die indessen instandgesetzte Miniatur, als sei sie von ihrem Gatten beauftragt, und der Mann, der sie natürlich kannte, beeilte sich, ihr die Kostbarkeit auszuhändigen. Als sie sie in ihrem Besitz hatte, machte sie gegen Altacher kein Hehl mehr aus dem Gewaltstreich und weigerte sich, das Bild herzugeben. Es sei Familieneigentum und als solches ein der Pietät würdiges Symbol, hielt sie ihm entgegen; es der Familie zu entziehen, habe er kein Recht. Da er den Konflikt nicht auf die Spitze treiben wollte, mußte er sich fügen. In einem kurz darauf aus dem Ausland an May geschriebenen Brief berichtete er ihr das Geschehene, wobei er für das Eingreifen Konstanzes nur die Erklärung fand, daß es ihr, bei seiner Sorglosigkeit in derlei Dingen, wahrscheinlich gelungen war, einen seiner früheren Briefe an May zu lesen, worin von der Miniatur die Rede war. Er und May pflegten damals viel schriftlich zu verkehren.
In dieser Handlungsweise Konstanze Altachers erblickte Laudin die unrechtmäßige Aneignung einer bereits dokumentarisch fixierten Schenkung. Ohne der Tatsache selbst große Bedeutung beizumessen, was ein taktischer Fehler gewesen wäre, machte er sie doch in den vorprozessualen Auseinandersetzungen mit Kerkowetz zum psychologischen Fundament der Klage auf Herausgabe des Legats, einer Klage, die freilich nicht weniger aussichtslos war als die Gegenklage auf Wiedererstattung der Altacherschen Geldzuwendungen an die Geschwister Ernevoldt. Die ganze Angelegenheit hatte schon in ihrem Beginn den Charakter eines juristischen Eiertanzes, und obgleich Laudin dabei einen Eigensinn an den Tag legte, der seiner Beweisführung wie auch seinen Maßnahmen abträglich war, ja, sich mehr und mehr in einen hartnäckigen Trotz wühlte, war ihm keinen Augenblick wohl in seiner Haut. Seine Haltung war nicht die eines Mannes, der in einem verworrenen Streitfall die keineswegs einwandfreien Interessen einer Partei vertritt, sondern so, als zöge er wider den Erbfeind der Gesellschaft in den Kampf und als hinge vom Ausgang des Kampfes das Schicksal und Recht von vielen ab. Offenbar war es wieder das »Phänomen,« das ihn aufstachelte und an das er sich mit Ingrimm verschwendete; das Bild der Welt verzerrte sich ihm immer mehr; das zeigte sein Blick, sein Schritt, seine Verdüsterung und der veränderte Takt seines täglichen Lebens.
Die Antwortschriften des Doktor David Kerkowetz hatten eine nicht zu überbietende Schärfe, vor allem einen in Respektsformen gehüllten Sarkasmus mit bissigen Unterstellungen und hohnvoll bescheidenen Belehrungen, der Laudin aus dem Gleichgewicht brachte. Schon nach der Lektüre der ersten dieser ebenso stilgewandten wie perfiden und schwer angreifbaren Episteln stand er da, weiß wie die Wand. Er fühlte wohl, daß er solchem Gegner nicht gewachsen war, in diesem Duell nicht bestehen konnte, in dieser Sache nicht, die mehr eine Katastrophe seines Geistes war als berufliche Pflicht und Aufgabe. Eingeblasen war sie in ihn, aufgedrückt wie ein Mal, von irgendwoher, er wußte nicht von wo, von irgendeiner Hand, und glich im Verlauf einem in den Tag fortgesetzten Traum. Und David Kerkowetz, Wappenträger der feindlichen Partei, Gegner und Gegenfigur, trat auf ihn zu, von schmutzigem Nebel halb unsichtbar gemacht, und gewann ihm Vorteil um Vorteil ab.
Der dritten Antwortschrift von Kerkowetz lag der Laudinsche Brief bei, der sie veranlaßt hatte. Der letzte Satz dieses von Laudin diktierten Schreibens war mit Rotstift dick unterstrichen, und links am Rand befanden sich zwei rote Fragezeichen. Der Satz, hart, trocken, unerhört, lautete: »Zwischen Ihnen und mir gibt es keine Verständigung, Herr Kollege; zwischen uns beiden liegt eine Welt, die zu betreten ich mich so lange weigern werde, bis Sie mich aus der meinen vertrieben haben.«
Laudin erstarrte. Er hatte das nicht gesagt; er hatte es nicht diktiert; wie hätte ihm solche Herausforderung, solche Beleidigung, solche Prahlerei einfallen können? Seine Stimme war heiser, als er die Sekretärin rief. Er vermochte bloß mit dem Zeigefinger auf die Briefseite zu deuten. Das Fräulein verstand nicht. Da lockerte sich der Krampf in der Kehle und er fing an zu schreien. Zum erstenmal, seit er in diesen Räumen amtierte, hörte man ihn schreien: »Wer hat das zu Papier gebracht? Wem ist der Satz beigefallen? wer hat den Unsinn verbrochen, die Tollheit?« Doktor Kappusch, Doktor Heimeran, die Konzipienten, die Schreiber liefen herzu. Kappusch redete beruhigend auf ihn ein. Das Fräulein schaute erschrocken. »Das Stenogramm her!« schäumte er. Die Sekretärin verschwand im Hauptbureau; er ging mit großen Schritten auf und ab, von etwas Unheimlichem gefoltert. Nach wenigen Minuten kehrte das junge Mädchen zurück und reichte ihm schweigend das Stenogramm.
Der Satz stand da. Er hatte ihn diktiert. Es wußte es nicht. Er hatte ihn gesprochen, ohne es zu wissen. Er blickte sich unsicher um. Die Stirn faltete sich, und mit eigentümlich tristem Selbstspott sagte er, zu Heimeran gewendet: »Mir kommt beinahe vor, als wäre hier ein Identitätsnachweis vonnöten.«
Man beriet kurze Zeit. Er suchte die Sache den Herren irgendwie zu erklären. Sie schienen die Erklärung plausibel zu finden. Es blieb nichts übrig als förmliche Abbitte. Ein Entschuldigungsschreiben wurde mit einem Boten an David Kerkowetz geschickt; darin war der Mißgriff, hochbedauert, der Zerstreutheit eines Angestellten zugeschoben, der zwei Diktatvorlagen vermengt habe.
Eine Stunde später, im Flur des Gerichtsgebäudes, befand sich Laudin plötzlich Aug in Aug mit Kerkowetz. Beide waren im Amtstalar, was der Begegnung etwas Offizielles und Geprägtes verlieh. Stumm sahen sie einander an. Dann verbeugte sich Laudin. Kerkowetz, dem Äußeren nach eine verfettete Napoleonimitation, dankte mit kalter Gemessenheit. Es hatte den Anschein, als läge etwas wie Triumph in seinen Mienen. Aber vielleicht war er mit dem Ausdruck des Triumphes geboren.