Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil

19

Da Laudin im Schlafzimmer Pias noch Licht bemerkte, ging er hinüber. Sie lag in dem breiten Himmelbett auf dem Rücken, die Hände ruhig über der Brust gekreuzt, und lächelte ihm entgegen. Doch war sie blaß. Die Lampe neben dem Bett war stark abgedämpft.

»Bist du nicht wohl, Pia?« fragte er besorgt.

Nein, sie fühle sich nicht besonders wohl, erwiderte sie; morgen, da doch Sonntag sei, wolle sie im Bett bleiben. Sie freue sich darauf, vierundzwanzig Stunden auszuruhen.

»Das sollst du auch, Liebling,« sagte Laudin; »freilich wollt ich gerade morgen mit dir ins Theater gehn. Du weißt ja, daß ich an Wochentagen kaum dazu komme. Ich wollte mir diese junge Schauspielerin ansehn . . .«

»Ach ja, die,« nickte Pia; »nun, so wirst du allein gehn, Friedrich. Ich habe keine Lust dazu. Marlene und Relly sind bei Arndts eingeladen, sonst hättest du sie ja mitnehmen können; es ist ohnehin ihr größter Wunsch, wieder einmal mit dir auszugehn. Aber das ist nun nicht mehr möglich. Marlene sagt bei Arndts bestimmt nicht ab. Und Relly; da müßte natürlich das Stück geeignet sein. Was ist es für ein Stück?«

»Käthchen von Heilbronn. Ich habe für dieses Drama keine besondere Vorliebe. Es ist eine gar zu anzweifelbare Romantik drin. Und Relly unterliegt ihren Eindrücken so heftig . . . ich möchte nicht . . .«

»Das ist wahr. So geh nur allein.«

Laudin nahm einen Stuhl und setzte sich ans Bett. »Du kannst dir ja denken, daß mich dieses Fräulein Dercum nicht bloß als Künstlerin interessiert, nach alledem,« sagte Laudin. »Es wird in den nächsten Tagen zu einer persönlichen Begegnung kommen müssen, und so will ich mich gewissermaßen, indem ich sie auf der Bühne sehe, darauf vorbereiten. Man weiß dann doch ungefähr, mit wem man es zu tun hat.«

»Glaubst du?« wandte Pia skeptisch ein und legte ihre Hand leicht auf seine; »glaubst du, daß man es dann weiß? Käthchen? das wird schwer sein. Käthchen; nein, da weiß man nichts. Mir scheint, da bist du zu naiv, Friedrich.«

Laudin lachte. »Möglich,« antwortete er; »deine schärferen, oder sagen wir unbestechlicheren Augen kämen mir bei der Gelegenheit sicher zustatten.«

»Hast du Egyd Fraundorfer nicht bewegen können, bei uns zu Mittag zu essen?« erkundigte sich Pia. »Es hatte sich doch so hübsch eingebürgert, daß er den Sonntag bei uns verbringt. Für dich war es auch angenehm. Wie fandest du ihn denn heute?«

»Keinesfalls so, daß ich raten könnte, ihn zum Familientisch zu bitten,« versetzte Laudin; »es ist sehr liebenswürdig von dir, daß du es in Betracht ziehst, aber es empfiehlt sich einstweilen noch nicht. Er ist vollständig zerstört. Ich fürchte, das Unglück hat ihn im Fundament getroffen. Er kämpft dagegen, er leugnets vor sich selber. Er klammert sich verzweifelt an seinen Hund, an seine Arbeit, betäubt sich mit Wein und Schnaps und starken Zigarren, aber es hilft nichts, er kann sich nicht oben halten.«

Pia schaute gedankenvoll in die Luft. Es schien, als dränge es sie, zu fragen. Der Selbstmord Nikolaus Fraundorfers hatte sie wahrscheinlich mehr beschäftigt, als man ihr anmerken konnte. Sie hatte Laudin nichts von dem leidenschaftlichen Ausbruch Marlenes erzählt; sie erlaubte es sich nicht, Dinge, die nach ihrem Vermeinen in den ihr zugewiesenen Bezirk gehörten, vor ihm auszubreiten und zu bereden. Sie hatte die Gerüchte, die ihr zugetragen wurden, die aufgeregten Mitteilungen ihrer Bekannten mit der Miene kühlen Interesses angehört, wie sie ja in ihren Beziehungen zur Welt selten oder niemals eine fast eingelernt wirkende konventionelle Haltung aufgab. Zu äußern, was ihr im Sinn lag oder was sie fühlte, wäre ihr vermutlich so unschicklich erschienen wie ohne Handschuhe durch die Straßen der Stadt zu gehen.

Doch hatte ihr Wesen in den letzten Tagen etwas Insichgekehrtes angenommen, das ihm sonst nicht eigen war. Mochte sein, daß Nikolaus ihr mehr als die jungen Leute seines Alters sympathisch gewesen war; sie liebte Jünglinge im allgemeinen nicht, und im besondern dienten sie ihr zur stillen Belustigung; oder daß sie den plötzlichen Entschluß zu sterben bei einem so lebensprühenden Menschen nicht fassen konnte und über die Ursache grübelte, über die verschiedenen Motive, die man vor ihr nannte, von denen ihr aber keines eine ausreichende Erklärung bot; oder daß sie schließlich Marlenes fortdauernde Ruhelosigkeit und heimliche Rebellion nachdenklich machte; wie es sich auch verhielt, sie schwieg, und schon wenn der Name Nikolaus fiel, zog sie sich innerlich vom Gespräch zurück.

So blieb sie auch jetzt stumm, trotzdem das Ungesagte sich in Aug und Mienen deutlich spiegelte.

Sie sah aber sehr anziehend aus, wie sie so lag und in verhaltener Bewegung sann. Es war als hätte sie, die rings Umstellte, einen unerwarteten Ausblick gewonnen, als wäre durch jenes Ereignis eine Bresche in die Mauer der Dinge geschlagen worden. Vielleicht schloß sich das Loch bald wieder, durch welches sie plötzlich die umgebende Welt erschaute; vielleicht versperrten es die Dinge schon morgen wieder; auf keinen Fall war es ganz gemütlich, der kalten Zugluft ausgesetzt zu sein; man fröstelte.

Während einer Sekunde, in der Laudins Blick und ihrer einander trafen, beugte er sich vor, faßte ihre linke Hand und zog sie zwischen seine beiden. Pia überließ ihm die Hand, aber den Blick nahm sie wieder weg und sagte leise: »Ach, Friedrich, wir sind doch alte Leute.«

Er berührte mit den Lippen ihre Hand, die er noch hielt, und erhob sich sogleich. »Gute Nacht, Pia,« sagte er freundlich. Nicht ein Schatten von Verstimmung war auf seinem Gesicht zu gewahren. Pias forschendes Auge hätte es bemerkt.

Doch als er zur Tür ging, sah sie ihm mit zartem Bedauern nach.


 << zurück weiter >>