Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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13

Als Marlene die Arie zu Ende gesungen hatte, stand sie blaß und bebend da, an den Flügel gelehnt, und schaute Nikolaus an. Der ließ seine Finger auf den Tasten ruhen und sagte kein Wort. Er blickte so geistesabwesend auf die Klaviatur, als habe er keinen Ton des Gesanges vernommen und als habe nicht er begleitet, sondern einer, an dessen Stelle er sich zufällig befand.

Marlene mußte glauben, daß sie ihm mißfallen habe. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie tapfer zu verbergen bestrebt war. Sie schritt zum Sofa hinüber, wo Relly und Laura Arndt saßen, und sagte mit gezwungener Unbekümmertheit: »Ich habe ja gewußt, daß es nichts wird. Heute ist ein schlechter Tag.«

Relly schüttelte energisch den Kopf und erklärte mit schallender Stimme, Marlene habe nie so gut gesungen wie gerade heute. Laura, die unmusikalisch war, tröstete Marlene in der Art eines Mädchens, dem der Mißerfolg der Freundin, so wohlgesinnt sie ihr ist, nicht eben Schmerz bereitet. Laura Arndt war sehr schön, hochgewachsen und für ihre Jahre außerordentlich entwickelt; doch war sie ein wenig ungeschlacht in Haltung und Bewegung und geriet über sich selbst, ihren Körper, ihre Zunge, ihr Sprechen und Schweigen beständig in eine sie quälende Verlegenheit.

Indessen hatte sich Nikolaus Fraundorfer aus seiner unnatürlichen Erstarrung befreit. Er sprang auf, trat zu Marlene, ergriff ihre beiden Hände und sagte herzlich: »Verzeihen Sie, Marlene, ich war nicht ganz bei der Sache, aber nur im allerletzten Moment; es geht mir soviel durch den Kopf; und der Kopf tut mir manchmal weh. Relly hat wirklich recht, Sie haben sich selbst übertroffen heute. Es ist so etwas Liebliches in Ihrer Stimme, so was Echtes; wenn Sie vorsichtig sind und besonders die Höhe schonen, kann was draus werden.«

Marlene sah ihn ungläubig an; doch sein Gesicht log ihr nicht, deshalb erglühte sie sogleich in Dankbarkeit. Für Relly jedoch war Marlenes Gesang das Vollendete an sich, und das Lob des jungen Mannes, obschon es sie erfreute wie ein ihr selbst gezolltes, war ihr zu gering. Es war aus ihrem enttäuschten Gesicht zu entnehmen.

»Ich möchte nicht mehr spielen,« sagte Nikolaus und warf den Klavierdeckel zu. »Ich möchte, daß wir uns unterhalten. Ich muß übrigens bald gehen. Oder besser keine Unterhaltung, am liebsten möcht ich euch was vorlesen. Schöne Gedichte möcht ich lesen. Habt ihr nicht schöne Gedichte da?«

Die zarten und leidenschaftlichen Züge seines Gesichtes wurden ein wenig beeinträchtigt durch die Brille mit dicken Gläsern, die er trug. Die Haut war blaß, beinahe weiß; die Lippen, ohne Bartflaum, ziemlich weit in die Wangen geschnitten, lagen hart aufeinander wie bei den meisten Musikern; die dunklen Haare, über dem Scheitel glatt, fielen gegen die rechte Schläfe und einen Teil der dünnwandigen Stirn gelockt herunter. Er war groß, schlank, in den Bewegungen und Gesten bisweilen äußerst lebhaft, bisweilen gehemmt. Er hatte so wenig Ähnlichkeit mit seinem Vater, daß fremde Leute, die sie nebeneinander sahen, sie nicht einmal für verwandt halten konnten.

Seit er das Zimmer betreten hatte, war sein Blick und Wesen voller Unruhe; Marlene hatte es von Anfang an gespürt; auch sie war infolgedessen unruhig, doch konnte sie ihre Empfindung hinter einer gleichmäßigen Heiterkeit verbergen. Laura Arndt, die Marlene nicht weniger bewunderte als Relly, hatte die Augen bald auf Nikolaus, bald auf die Freundin gerichtet und schien ängstlich und fast unterwürfig zu beobachten, ob zwischen den beiden etwas vorging, wovon sie nichts wußte. Obschon sie sich an Wachsamkeit und Schärfe des Blickes mit Marlene nicht messen konnte, mußte sie doch wahrnehmen, wie verstört Nikolaus war, wie sprunghaft in seiner Laune, wie er sich oft gleichsam erschrocken oder einen Gedanken verscheuchend an die Stirn griff und nicht hörte, was man zu ihm sprach.

Später, als die Schwestern allein waren, beliebte es Marlene, die Schale ihres Spottes über das Triumvirat von Anbeterinnen auszugießen, sie fand es im höchsten Grade lächerlich, daß sie alle drei einem jungen Mann den Hof machten, dem der Sinn vermutlich nach ganz anderem stehe als nach solchem Vierteldutzend bürgerlicher Gänse. Sie schonte sich selbst nicht, wenn sie Anlaß zu haben wähnte, mit ihrem Betragen unzufrieden zu sein. Aber Relly äußerte trocken, sie fühle sich bei dem Dreibund nicht inbegriffen, was die zwei andern betreffe, sei sie derselben Meinung wie Marlene.

Jetzt aber war auch sie entzückt von Nikolaus' Vorschlag. Es lagen die »Bunten Steine« von Stifter auf dem Tisch; er nahm das Buch und blätterte. Dann schlug er es wieder zu und rezitierte das Gedicht »Burg Fragmirnichtnach« von Konrad Ferdinand Meyer aus dem Gedächtnis: »Ich beugte mich nach des Verschollnen Spur, / entziffernd, was des Steines Inschrift sprach. / Nicht Zahl, nicht Namen – ein Begehren nur: / Frag mir nicht nach!« endete es. Hierauf ein anderes von demselben Dichter; es lautete so: »Mir träumt, ich komm ans Himmelstor / und finde dich, die Süße! / Du saßest bei dem Quell davor / und wuschest dir die Füße. / Du wuschest, wuschest ohne Rast / den blendend weißen Schimmer, / begannst mit wunderlicher Hast / dein Werk von neuem immer. / Ich frug: Was badest du dich hier / mit tränennassen Wangen? / Du sprachst: Weil ich im Staub mit dir, / so tief im Staub gegangen.«

»Schön, aber traurig,« sagte Relly mit unerbittlicher Sachlichkeit.

Nikolaus strich ihr über das Haar, denn er behandelte sie ja noch als Kind, die beiden andern warfen ihr verächtliche Blicke zu. Nun schlug Nikolaus den Band Stifter wieder auf und las, ebenso natürlich und in sich versunken, wie er die Gedichte gesprochen hatte: »Der Turmalin ist dunkel, und was da erzählt wird, ist sehr dunkel . . .«

Marlene nickte; sie kannte jedes Wort der Geschichte.

Er hatte aber noch nicht drei Seiten gelesen, da verlor er die Geduld, legte das Buch weg, setzte sich an den Flügel und fing an zu phantasieren. Was er spielte, war begabt und feurig, doch ein wenig formlos; zwischenhinein sang er mit rauher Stimme, nach und nach milderte er das Toben zu elegischern Klängen, und diese zerflossen in ein dumpf stakkatiertes Pianissimo.

Lachend sprang er auf und sagte, er müsse fort. Schade, seufzte Laura. Dummes Zeug, was er da getrieben, sagte er, dummes, schwindelhaftes Zeug. Marlene schüttelte den Kopf und reichte ihm freundlich die Hand, die er so fest drückte, daß sie aufschrie.

Als er zur Tür ging, trat Pia ins Zimmer. Sie schaute ihn verwundert an, da sein Aussehen nicht gerade unauffällig war.

Nachdem er ihre hausfraulich allgemeinen Fragen artig beantwortet hatte, verabschiedete er sich auch von ihr. An der Schwelle erinnerte er sich, daß er Relly und Laura nicht die Hand gegeben, und kehrte rasch noch einmal um.


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