Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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54

Am Morgen erschien Pia nicht beim Frühstück. Sie habe mit den beiden Fräuleins bereits gefrühstückt, berichtete das Mädchen, und habe sie ein Stück Wegs zur Schule begleitet.

Da strahlendes Frühlingswetter war, wunderte sich Laudin nicht. Aber als er sich erhob, um aufzubrechen, trat Pia ins Zimmer. »Hast du noch fünf Minuten Zeit für mich, Friedrich?« fragte sie heiter.

»Gewiß, meine Teure,« antwortete er und setzte sich wieder.

Sie nahm gleichfalls Platz, ihm gegenüber, legte die Unterarme auf den Tisch, beugte sich leicht nach vorn und sagte in demselben heiteren Ton: »Ich möchte dir den Vorschlag machen, Lieber, daß du für die nächste Zeit in die Stadt übersiedelst. Ich glaube, es ist das einzig Richtige für dich unter den momentanen Umständen. Für dich und für uns, ich meine für mich und die Kinder. Es sind keine Schwierigkeiten dabei. Wir werden als Grund angeben, daß dich deine Geschäfte eine Weile zwingen, näher bei der Kanzlei zu wohnen. Daß dich die täglichen Fahrten, besonders wenn es so spät wird wie jetzt immer, zu sehr anstrengen. Was die Wohnungsfrage betrifft, die hab ich schon gelöst. Ich habe um halb acht mit Frau von Damrosch telefoniert. Sie ist ja eine verständige und würdige alte Dame, und ihr verstorbener Mann hat dich gern gehabt. Das vergißt sie dir nicht. Sie hat Platz in ihrer Wohnung, übergenug, und ist mit Freuden bereit dich aufzunehmen. Wie denkst du darüber, Friedrich? Du könntest heute noch zu ihr ziehen. Deine Sachen würde ich natürlich packen, und am Abend kannst du schon dort in der Löbelstraße schlafen. Ist es nicht das Beste so?«

Sie sah ihn mit aufmunterndem Lächeln an. Kein Zug ihres Gesichts verriet etwas anderes als herzliche Besorgnis, Eifer, ihm zu dienen, und das Bestreben, ihre Worte als unerheblich und nur von einer praktischen Notwendigkeit eingegeben erscheinen zu lassen. Und doch gewahrte Laudin, der einer Erwiderung nicht gleich mächtig war und einen Augenblick das Gefühl hatte, als drehe sich das Zimmer um ihn im Kreis, etwas Neues in ihrem Antlitz, das bestürztes Erstaunen in ihm hervorrief: eine unbedingte, unbeirrbare Entschlossenheit. Er nahm die Serviette, rollte sie zusammen, schob sie in den silbernen Ring und bemühte sich umsonst, irgend etwas zu sagen.

»Selbstverständlich ist es nur was Vorläufiges,« fuhr Pia fort; »man muß dann sehen was weiter geschieht und darüber einig werden. Aber vorläufig ist es wohl das Einfachste und Ratsamste, denkst du nicht auch?«

Laudin schluckte ein paarmal, knipste mit den Fingerspitzen ein paar Brosamen, die aus der Serviette gefallen waren, von seinem Knie und erwiderte: »Ich denke, du hast recht, Pia. Da du eine Notwendigkeit und für mich eine Erleichterung darin erblickst, wird es wohl das Angemessene sein. Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Ich füge mich in diesem Fall ganz deinem Willen.«

Pia schien es nicht anders erwartet zu haben. Sie nickte. »Und nun noch etwas,« begann sie wieder und errötete flüchtig, was ihr offenbar unbehaglich war, denn sie wandte, über sich selbst geärgert, das Gesicht zur Seite; »ich möchte dir sagen, Friedrich, daß du keinerlei Rücksicht auf mich zu nehmen hast. Du bist frei. Du bist ein vollständig freier Mann. Ich stelle, was meine Person betrifft, nicht die geringste Forderung an dich, nicht die allergeringste. Handle so, wie du es für gut findest, und du kannst in jedem Punkt, im allergeringsten wie im allerwichtigsten, meiner Zustimmung sicher sein. Wir brauchen darüber kein Wort mehr zu verlieren. Kehre dich nicht an mich. Tu, was du tun mußt; ich vertraue dir. Du bist frei.«

Ehe Laudin noch antworten konnte, auch wenn es ihm möglich gewesen wäre, eine Antwort zu finden, hatte sie sich erhoben und mit einem abermaligen freundlichen Nicken das Zimmer verlassen.

Er saß noch eine Weile, tief in sich gekehrt, dann fuhr er in die Stadt.

Am Nachmittag stattete er Frau von Damrosch einen Besuch ab. Sie war eine siebzigjährige Greisin, etwas taub, und hatte die angenehmen Umgangsformen und die Haltung aus einer verschwundenen Zeit. Ihres Gatten, der Präsident des obersten Gerichtshofes gewesen war, erinnerte er sich gut. Er hatte ihn hoch geschätzt.

Der umfängliche Koffer mit seinen Sachen stand bereits in einem der ihm angewiesenen Räume. »Also das ist Pia,« murmelte er mit dem Ausdruck bestürzten Erstaunens vor sich hin.

Als er in die Kanzlei zurückkam, wartete Luise Dercum auf ihn.


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