Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Unmittelbar vor Tisch hatte Fraundorfer wissen lassen, er käme nicht zum Essen, da er zu einer Mittagsvorstellung gehe, doch wolle er sich gegen zwei Uhr zum schwarzen Kaffee einfinden. Man war an derlei Unarten von ihm gewöhnt, und niemand hielt sich sonderlich darüber auf, mit Ausnahme der Hofrätin, die in ihrer mürrischen und kränklichen Manier sich über den Affront, wie sie es brummelnd nannte, nicht trösten konnte; aber da sie ein begonnenes Thema nach zwei Sätzen bereits wieder vergaß, geriet sie in ihrem monotonen Räsonieren alsbald auf Personen und Gebiete, die mit Fraundorfer längst nichts mehr zu schaffen hatten. Es war eine Ausnahme, daß sie an der gemeinsamen Mahlzeit teilnahm; sie litt an so vielen Übeln wie der Tag Stunden hat, und in ihrem greisenhaften Egoismus betrachtete sie sich als den Mittelpunkt nicht nur des ganzen Hauses, sondern alles Lebens, von dem sie aus Zeitungen und Gesprächen wußte. So oft Laudin sich an sie wandte, mit zartester Zuvorkommenheit stets, sah sie ihn mit ihren stumpfschwarzen Augen erschreckt an, als müsse sie sich erst erinnern, wer mit ihr redete, dann nickte sie schwermütig und erwiderte etwas, das keinerlei Zusammenhang mit dem Gefragten oder Gesagten hatte. Relly und Marlene, die sie in ihren respektlosen Anwandlungen unter sich »Mutter Finsteraarhorn« nannten, sahen dabei aus wie unschuldige Engel, die dem Leiden der Welt ein schmerzliches Gedenken zollen.

Früher, als man vermutet hatte, kam Fraundorfer. Die Hofrätin sowie Marlene und Relly hatten sich eben zurückgezogen, da hörte man sein Scharren, Schnaufen und Pusten, und alsbald schob sich die riesige Fett- und Fleischmasse seines Körpers über die Schwelle.

Er war wie ein Ofen, der durch seinen Umfang unproportioniert im Raum wirkt. Wie ein Ofen gab er Wärme von sich, ununterbrochen, als würde er Tag und Nacht geheizt, Wärme und gemütlichen Lärm, bisweilen auch Qualm und Ruß, sehr oft sogar, nämlich höchst gewagte Zynismen, Zweideutigkeiten und ätzende Glossen, die das Entsetzen wohlerzogener Leute und die Ursache waren, daß man Kinder, junge Mädchen, überhaupt alle Arten von Halbwüchsigen bei seinem Erscheinen schleunigst in Sicherheit brachte. Pia hatte ihn allerdings, nur durch Blick und Haltung, nach und nach so weit gezähmt, daß er sich in ihrer Gesellschaft zusammennahm. Wenn er etwas nicht ganz Stubenreines zu äußern im Begriff war, sah sie ihn groß und liebreich an, worauf er sich den Kopf kratzte und mit einem kollernden Geräusch im Hals verlegen und ein wenig wütend aus winzig kleinen Augen um sich schaute und die ewige Zigarre von einem Mundwinkel in den andern schob.

Er war fünfundvierzig Jahre alt und sah aus wie ein mit der Elephantiasis behafteter Gymnasiast. Seine Haare waren blond und gekräuselt und sammelten sich im Nacken zu einer künstlerhaften Mähne. Er hatte fette, feuchte, aufgestülpte Lippen ohne Bart, ein tiefgespaltenes Kinn, schwammige Wangen, enorme eckige Ohren und enorme behaarte Hände. Seine Bewegungen waren derart, als müsse er seinem Körper immer erst gut zureden wie einem störrischen oder trägen Pferd, bevor er einen Ruck oder Schritt machte. Saß er einmal fest auf einem Stuhl, so hatte es den Anschein, als würde er erst wieder aufstehen, wenn das Zimmer in Flammen stand.

In Adreßbüchern und Meldezetteln stand er als Privatgelehrter verzeichnet. Aber kein Mensch wußte, wovon er eigentlich lebte. Er war halb Zigeuner, halb Eremit. Er hatte Vermögen gehabt und es während der Inflation verloren. Er besaß zwei Häuser in der Stadt, die nichts trugen; er schrieb wissenschaftliche Artikel für Journale und Revuen, die niemand las, obwohl sie oft witzig und amüsant waren, ohne geradezu populär zu sein. Er lebte vollkommen bedürfnislos, kannte den Luxus nicht, beanspruchte niemals eines Menschen Hilfe und hatte trotz der Beschränkung seiner Lebensführung für irgendeine Laune oder um einem andern aus der Verlegenheit zu helfen plötzlich große Summen übrig.

Er hatte einen winzigen weißen Hund, der sein unzertrennlicher Gefährte war. Auch heute hatte er ihn mitgebracht. Er habe ihn, wie er klagend erzählte, in der Garderobe des Theaters zur Aufbewahrung gegeben und dort habe dem armen Tier vor den vielen Menschenmänteln und -hüten so gegraut, daß es Nervenzustände bekommen habe. Man solle nur sein Gesicht betrachten; Ekel und Kummer drücke sich darin aus. Bedenke man, wie übel für einen Hund die Menschen an sich röchen, so dürfe man sich nicht wundern, wenn ihr Schneiderzubehör solch feinorganisierter Kreatur ebenfalls unerträglich sei.

Er nannte das Hündchen Herr Schmitt. Es war ein Köter mit der Schnauze und den Beinen eines Meerschweinchens, doch, der Wahrheit die Ehre, mit einem unendlich weisen und verschwiegenen Betragen. Herr Schmitt bellte fast nie; er murrte bloß. Fraundorfer behauptete, er sei ein weitgereister Fremdling und seine Heimat sei Odessa, von wo er durch vielfache Kriegsabenteuer nach dem Westen verschlagen worden sei, sich hier aber keineswegs gefalle. Er sagte Sie zu dem Hund, sprach stets zärtlich und achtungsvoll mit ihm und hob rühmend seine Keuschheit und seine reinen, wie er sagte, wahrhaft christlichen Sitten hervor.

Das Verhältnis zu seinem Sohn Nikolaus unterlag den verschiedensten Deutungen. Einige meinten, er könne ihn nicht ausstehen oder sei ihm wenigstens entfremdet, seit die unbezwingliche Neigung des jungen Menschen zur Musik hervorgetreten sei. Diesen gab der Anschein recht, denn Fraundorfer sprach von Nikolaus fast stets nur in abschätzigen Ausdrücken, zuckte die Achseln über ihn, nannte ihn mit hämischem Lachen und geschwollener Zornader einen unnützen Notenklopfer und aus der Art, der Fraundorferschen Art jedenfalls, geschlagenen Sentimentalisten und Lyristen; er stritt mit ihm wegen Geld, wegen der Beziehung zu irgendwelchen Personen, wegen eines Buches, wegen eines Wortes; er beschimpfte ihn, machte, namentlich vor andern, boshafte Witze über seine Schüchternheit, seinen unerschütterlichen Glauben an sich selbst und sein Talent und nahm nichts ernst, was Nikolaus tat oder sprach.

Andere Leute wieder, und zu denen gehörte Laudin, wollten in all diesem Getobe und herabsetzenden Spott nichts als eine sonderbare Flunkerei sehen, ähnlich der eines Taschenspielers, der durch Schwatzhaftigkeit den Augen der Zuschauer seinen Trick entzieht. Einem scharfen Beobachter konnten gewisse unnötige Übertreibungen nicht verborgen bleiben, gewisse Blicke und Betonungen nicht, wenn sie auch noch so sorgfältig gehütet und gleich wieder zurückgenommen und vertuscht wurden. Dennoch war nicht zu erklären, was für einen Grund die zur Schau getragene Zanksucht und Verächtlichmachung haben sollte, ob sie in einem eingefleischten Widerwillen gegen Gefühl und Gefühlsleben wurzelte oder ob sie eine bloße Schrulle war.

Nikolaus entstammte der Verbindung mit einer Frau, die nicht ganz drei Monate mit Fraundorfer gelebt hatte. Als sie von ihm fortging, hatte sie zu ihm gesagt, mit einem Narren könne man zur Not hausen, mit einem Geizhals könne man zur Not hausen und mit einem Misanthropen könne man zur Not hausen; aber mit einem närrischen und geizigen Misanthropen zu hausen gehe über die menschliche Kraft. Fraundorfer hatte das selbst jedem erzählt, der es hören wollte. Kurz nach der Entbindung hatte sie ihm das Kind gebracht, darauf war sie verschollen. Er hatte nie wieder von ihr gehört. Wenn er von ihr sprach, was sehr selten geschah, sagte er trocken, die Beziehung zu Frauen sei die partie honteuse seines Lebens, aber die eine, die ihn besondere angeführt, habe zur Gattung der infantilen Selbstbesessenen mit krankhaftem Verleumdungstrieb gehört; er sei leider Gottes vierundzwanzig Stunden lang von ihr geblufft worden: daher der Sohn. Wäre er in der dreiundzwanzigsten Stunde zur Vernunft gekommen, so hätte er seinen Kopf noch aus der Schlinge ziehen können.

Eines Tages, im Winter des Jahres vor dem Krieg, als Aufruhr und Unzufriedenheit gefährlich im Volke gährten, tritt Laudin aus dem Tor des Parlaments, wo er mit einem Abgeordneten konferiert hat, und gerät in eine Ansammlung streikender Arbeiter, mehr als dreitausend Menschen. Meist sind es junge Leute; je jünger, je drohender sehn sie aus; die Sechzehn- und Siebzehnjährigen üben sich im Schreien und Pfeifen und bewerfen die berittene Wache mit Steinen. Im Nu steckt Laudin im dichtesten Gewühl, und beim Versuch, sich durchzuzwängen, wird er durch eine eigentümliche Szene festgehalten. Ein ausnehmend feister Mann, durch die Menge arretiert gleich ihm selbst, ist wegen seiner Korpulenz und seines wohlgenährten Aussehens das Ziel von Insulten geworden; ein paar rabiate Burschen machen sogar Miene, sich an ihm zu vergreifen. Laudin will ihm zu Hilfe eilen, doch jener hat sich unter gewaltigem Schnauben der Zudringlichsten unter ihnen entledigt, ersteigt mit verwunderlicher Gewandtheit eine städtische Müllablagerungskiste und beginnt ungefähr wie folgt zu sprechen:

»Kameraden! Oder vielmehr Genossen! ist es denn bewiesen, daß einer Gänselebern und Trüffeln fressen muß, um fett zu werden? Wer von euch hat mich schon in meinem Stammwirtshaus besucht und mich statt Beefsteaks, Schweinsrippchen, Rehkeule und Schokoladetorten unter Tränen und Seufzern mein mageres Rindfleisch mit Kren verzehren sehen? Er trete vor! Er trete kühnlich vor! Mein Wanst, sagt ihr? Aber wie bin ich zu ihm gekommen, wie ist seine naturgeschichtliche Entwicklung? Er ist kein Fettwanst; er ist ein Magerwanst, ein Fastenwanst, ein Kummerwanst, ein unkapitalistischer Wanst. Vielleicht, Genossen, sind Essiggurken meine Leibspeise; vielleicht hab ich zu einer Zeit, wo noch niemand hierzulande an die neuesten Errungenschaften des allgemeinen Volkselends nur im entferntesten gedacht hat, schon siegreich den Grundsatz verfochten: hoch lebe der Hering und das Sauerkraut! Und unter uns, Genossen: sind denn sämtliche Vielfraße auf der Welt kugelrund? haben nicht, wenn ihr der Sache auf den Grund geht, die meisten eine betrügerische Abzehrung, eine spindeldürre Unansehnlichkeit? Hättet ihr, wie ich, die Mägen und Eingeweide der Bourgeoisie studiert, die sich vom Schweiß des Volkes mästen, dann würdet ihr meinen armen Schmer höchstens bedauern, denn es ist ein unschuldiger Schmer, ein gewissenhafter Schmer.«

Er hatte etwas von einem ins Komische verzerrten Marcus Antonius, wie er mit jovialem Schmunzeln auf der Kehrichtkiste stand, die Zigarre im Mund, und mit Stentorstimme seine Falstaffsche Fülle verteidigte.

Einige Leute murrten, da sie sich zum besten gehalten fühlten. Die meisten lachten, und man ließ von ihm ab.

Laudin, den der Auftritt belustigt hatte, richtete das Wort an den Redner; sie gingen miteinander durch die Straßen, trafen sich von dem Tag ab regelmäßig in einem Kaffeehaus, wo Fraundorfer verkehrte, später kam Fraundorfer zu Laudin, dieser hie und da auch zu Fraundorfer, und so entstand eine jener Männerfreundschaften, die viel weniger auf Mitteilung und Austausch von Ideen und Erlebnissen beruhen als auf wortkarger, sympathischer Übereinstimmung und einem gewissen animalischen Wohlbehagen des einen in der Luft des andern.


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