Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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57

Indessen war es bereits halb ein Uhr nachts, als er an Luises Wohnung läutete.

Er war in die Kanzlei gefahren, hatte den Chauffeur nach Hause geschickt, war in sein Sprechzimmer gegangen, hatte sich, ohne Licht zu machen, auf das Ledersofa geworfen und war mit offenen Augen drei Stunden lang gelegen wie ein gefällter Baum. Er fühlte nicht, er dachte nicht, er blickte nicht, es war ihm, als läge er auf dem Grunde des Meeres in dunkelgrüner, lautloser Dämmerung. Fische schwammen über ihm, Fische in allen möglichen Formen und Gestalten; paarweise zogen sie einher; ihr Aussehen war mürrisch, einfältig und drohend; der ganze Raum bis zur Oberfläche des Meeres füllte sich mit Fischpaaren; unten spielten die Schuppenleiber in glühenden Farben, purpurn, blau, rot und gelb, nach oben wurden sie blasser, und die höchsten, fernsten erschienen in durchsichtigem Weiß. Doch in der Richtung, in der der ungeheure, in Achterschleifen gewundene Zug schwamm, war ein riesiges offenes Maul, der Rachen einer Krake. Dorthin schwammen sie ahnungslos, und das Maul verschlang sie, unersättlich, während oben die im gläsern Weißen, entfernt von der Gefahr, noch lustvoll spielten.

Als er sich erhob und auf die Uhr schaute, erschrak er wie ein Soldat, der den Rapport versäumt hat. Doch ging er zu Fuß durch die Straßen, obwohl es angefangen hatte zu regnen.

Schon im Vorzimmer vernahm er den betäubenden Lärm einer großen Gesellschaft. Bleich und entschlußlos stand er da. Er zählte die Mäntel und die Hüte, die an den Haken hingen, und begann immer wieder von vorn zu zählen. Da trat May heraus. Sie nickte Laudin etwas verwundert zu und suchte ihren Mantel. Es hatte den Anschein als flüchte sie. »Ich fahre nach Hause,« sagte sie; »es ist . . . es ist zu widerwärtig . . . ich kann nicht mehr . . . daß Sie noch so spät kommen . . .«

Laudin sah sie an, als bemühte er sich, in seinem Gedächtnis etwas Bestimmtes zu finden, was mit ihr zusammenhing. »Richtig, liebe May,« sagte er dann wie erlöst, »morgen haben wir die erste Tagsatzung in Sachen Altacher. Ihr persönliches Erscheinen wird kaum zu umgehen sein.« Eine bureaukratische Anrede, die das Mechanische in ihm produzierte.

May schaute langsam empor. Ihr Blickpaar schwamm fischhaft über sein Gesicht. »Bis morgen ist noch ein weiter Weg,« sagte sie und sah ihn mit den Mondsteinaugen an, als wisse sie alles, was in ihm vorging und was ihm bevorstand; »gute Nacht.«

Im Atelierraum lagen die Rauchschwaden so dicht, daß er beim Eintreten die Gesichter zunächst nicht unterscheiden konnte, auch selbst eine Weile unbemerkt blieb. Um den runden Tisch saßen etwa zwölf Personen, Männer und Frauen, trinkend, rauchend, durcheinander redend, schreiend und lachend; im Ofenwinkel schlief ein etwas lächerlich livrierter Boy (er trug eine Art Theaterkostüm), dem vermutlich die Bedienung obgelegen hatte; man hatte auf seine Dienste verzichtet. Dutzende von Wein-, Schnaps- und Champagnerflaschen standen auf dem Tisch nebst einem Heer von Gläsern in allen Größen und Formen. Es sollte offenbar Poker gespielt werden; Ortelli mischte die Karten. Die Damen, es waren Kolleginnen Lus, auch eine bekannte Filmdarstellerin, befanden sich meist in derangiertem Aufzug; die Augen in den übermäßig geröteten Gesichtern hatten das eigentümlich Blinde, das sich bei Frauen zeigt, wenn der Trieb über sie Gewalt erlangt. Laudin erkannte einige Schauspieler, neben dem ewig lächelnden Ortelli den unvermeidlichen Baron, dessen Namen er nie behalten konnte, und den Filmregisseur, den er schon neulich hier getroffen hatte. Aber als sein dumpf prüfender Blick weiter in die Runde glitt, zuckte er plötzlich zusammen als habe man ihm einen Schlag in den Nacken versetzt. Er schien seinen Augen nicht zu trauen. Da saß Arnold Keller.

Er saß neben Lu. Er saß vornübergebeugt, wie in Gedanken verloren, die Miene grüblerisch, doch unerregt, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, daß ihm der Platz neben der vergötterten Frau eingeräumt war. Auch Lu sah aus, als wäre alles selbstverständlich und in schönster Ordnung und nicht, als habe sie sich wenige Stunden vorher noch gebärdet, wie wenn der bloße Anblick dieses Mannes sie vor Widerwillen und Haß töten würde. Laudin konnte den Blick nicht von den beiden wenden. Hatten sie sich ausgesprochen und versöhnt? Aber wann? Und wenn Aussprache und Versöhnung im Bereich des Möglichen gewesen, warum die unerhörte Feuersbrunst der Leidenschaft dort, vor wenigen Stunden?

Er wußte nicht, daß Keller einfach heraufgekommen war, nichts sonst. Daß er wieder einmal einen Versuch gemacht hatte; ohne Hoffnung und Erwartung vielleicht. Daß ihn aber Lu wider alle Erwartung und Voraussicht, als sie vom Theater nach Hause gekommen und ihn im Vorzimmer stehen sah, freundlich begrüßt und ihn eingeladen hatte, den Abend mit ihr und ihren Gästen zu verbringen. Der Anlaß? Es gab keinen besonderen. Vielleicht war sie der Zwietracht müde. Vielleicht wollte sie für eine Weile Ruhe haben. Vielleicht hatte sie auch den ganzen Hader vergessen oder wollte ihn heute vergessen. Vielleicht erinnerte sie sich ihres Widerwillens und Hasses gar nicht mehr. Vielleicht hatte sie die Kraft dieses Hasses und Abscheus in jener Feuersbrunst der Leidenschaft ausgegeben und es war nichts mehr davon übrig. Vielleicht hatte sie der Erfolg auf der Bühne und die Begeisterung des Publikums mild und weich gestimmt, und sie spielte mit Genuß die Rolle der Edelmütigen, zu der Laudin immerhin Anreger gewesen. Das alles war möglich, beim einen oder andern war die Wahrscheinlichkeit größer oder geringer, keinesfalls war es etwas Merkwürdiges und Auffallendes, und niemand von der Gesellschaft schien es merkwürdig und auffallend zu finden. Der Mann war ins Irrenhaus gesteckt worden; die Frau hatte sich seiner auf diese Weise entledigt; er kam zurück; sie waren, vorläufig, wieder ein Herz und eine Seele; dabei war nichts Merkwürdiges und Auffallendes.

Nur Laudin stand da, zwei Schritte vom Tischrund, und traute seinen Augen nicht. Endlich gewahrte ihn Ortelli, beugte sich zu Lu hinüber und machte sie auf ihn aufmerksam; gleichzeitig erhob er sich und verneigte sich ein wenig; diesem Mann gegenüber wagte er nicht, wie gegen die übrigen des Kreises, kameradschaftlich salopp zu sein. Auch Arnold Keller schaute hin; auch er erhob sich sofort, aber seine Verbeugung war tief und feierlich. Ortelli und er waren die einzigen, die noch halbwegs nüchtern waren. Die andern Gäste beachteten das Erscheinen Laudins überhaupt nicht. Was Lu betraf, so winkte sie ihm mit senkrecht in die Luft gestrecktem Arm zu, bedeutete ihm, irgendwo Platz zu nehmen, und hielt Ortelli ihr Sektglas hin. Sie lachte ununterbrochen; sie hatte einen Blätterkranz im Haar; ihre Gebärden, ihr ganzes Wesen hatte etwas gleichsam Geöffnetes und Entfettetes; wie zum Zeichen dessen war über der einen Schulter das Band ihres Kleides zerrissen, sie war in Abendtoilette, und die linke Brust war beinahe entblößt. Die Stimme war heiser und tief, oft von gurgelndem Klang; der braune Hals war bald nach der, bald nach jener Seite gereckt; die Augen hatten einen mänadisch tobenden Glanz. Mitten in der Erzählung einer Geschichte, die schlechtweg eine Cochonnerie war, obschon eine reizend vorgebrachte, fühlte sie Laudins starrprüfenden Blick auf sich gerichtet; sie erzählte hastig zu Ende, und während die Zuhörer in dröhnendes Gelächter ausbrachen (es handelte sich um einen Mann, den offenbar alle kannten, der benebelt heimgekommen war, sich zu seiner Frau ins Bett legen wollte und, da er die Bettdecke zurückschlug, zwei Frauen vor sich liegen sah, worüber er zu jammern begann, in der Meinung, er sähe doppelt), während sich also alle mit Ausnahme Kellers, der stockernst blieb, einer orgiastischen Heiterkeit überließen, sprang sie auf, stampfte mit den Füßen und rief: »Das ist stupid; das ist gänzlich stupid!« Mit einer Geste befahl sie Laudin zu sich. Er gehorchte. Stupid sei, daß er wie der Kommendatore dastehe; das gehe nicht an; er dürfe nicht den Freudengeist der Versammlung stören; er müsse trinken. Sie ließ sich den Sektkelch wieder von Ortelli füllen, schüttete selbst Kognak dazu und reichte Laudin das Glas. »Austrinken!« herrschte sie und legte ihm den nackten Arm um die Schulter.

Er gehorchte.

Von neuem füllte sie das Glas, in derselben Weise; und wieder befahl sie, er müsse austrinken. Diesmal schmiegte sie sich enger an ihn, so daß er ihre Brüste spüren konnte, und umklammerte seinen Hals mit beiden Armen, als er das Glas genommen hatte. Er mußte, um trinken zu können, den Kopf nach hinten biegen; sein Gesicht war vollkommen farblos geworden, fast welk, aber er lächelte; es war ein willenloses, entseeltes, kränkliches Lächeln; ob es die Brüste waren, die er spürte, die Haut, die er spürte, den verwilderten Hauch von Haar und Leib, den er einatmete, er gehorchte, gehorchte und sah dabei die grinsenden, anerkennenden, zynischen, neugierigen, gleichgültigen Mienen ringsum. Als er den Kopf ein wenig wandte, sagte er auf einmal erschrocken und mit seltsam dünner Stimme: »Ich bitte; einen Augenblick, ich bitte . . .« und schaute in die Richtung der Tür, die sich geöffnet hatte.

Es war jemand eingetreten. Dieser Jemand war Fraundorfer.


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