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40

Am nächsten Tage folgte Jack der Einladung zum Lunch beim Premierminister. Auch Thalia war anwesend, denn sie war die Heldin des Tages.

Nach dem Essen beendete der Inspektor seine Erzählung.

»Wenn Sie zurückdenken, werden Sie bemerken, daß der Name Derrick Yale vor dem ersten Mord des Roten Kreises unbekannt war. Es stimmt, daß er sich in einem Büro in der City niederließ und Zirkulare versandte, in denen er sich einen psychometrischen Detektiv nannte. Aber es wurden ihm nur wenig Fälle übertragen. Er hatte auch gar nicht nötig, sich mit Kleinigkeiten abzugeben, denn er bereitete seinen großen Schlag vor. Nach dem ersten Mord wurde er von einer Zeitung angestellt, die ein paar sensationelle Artikel bringen wollte, damit er bei der Verfolgung des Verbrechers seine psychometrischen Fähigkeiten zeigen sollte.

Wer kannte den Namen des Mörders besser als Yale, und wer wußte genauer, wie der Mord begangen worden war? Er befühlte die Waffe, und infolgedessen wurde ein Farbiger verhaftet, und zwar genau auf der Stelle, die Derrick Yale angegeben hatte. Als diese Tatsachen bekannt wurden, stieg Yales Ruf himmelhoch. Und weiter wollte er ja nichts erreichen. Er wußte, daß ein Mann, der vom Roten Kreis bedroht wurde, seine Hilfe jetzt gern in Anspruch nehmen würde, und so war es auch wirklich.

Auf diese Weise kam er in die Nähe seiner Opfer, schlich sich in ihr Vertrauen – Yale konnte außerordentlich überzeugend sein – und veranlaßte sie, die Forderungen des Roten Kreises zu erfüllen. Wenn sie sich weigerten, brachte er sie einfach um.

Froyant wäre vielleicht nicht durch Yales Hand gestorben, wenn ihn nicht der Verlust des Geldes dazu gebracht hätte, selbst Nachforschungen anzustellen. Seine erste Annahme beruhte nur auf einem geringen Verdacht, aber schließlich brachte er heraus, daß Lightman und Yale miteinander identisch waren. In der Nacht seines Todes schickte er nach uns, um uns diese Eröffnung zu machen. Er hatte geladene Revolver in beiden Taschen, weil er einen schlimmen Ausgang befürchtete. Es ist wohlbekannt, daß ihm der Gebrauch von Feuerwaffen sonst äußerst verhaßt war.

Wenn Sie das offizielle Protokoll gelesen haben, werden Sie sich daran erinnern, daß der Kommissar bei Froyant anrief. Dieser Anruf gab Yale die gewünschte Gelegenheit. Froyant schickte uns aus dem Zimmer, und ich ging zuerst. Niemals hätte ich gedacht, daß er soviel wagen würde. Wir hatten unsere Mäntel noch an, und Derrick Yale hielt seine Hand in der Tasche. Die Hand steckte in dem Stulphandschuh, und sie hielt auch das Messer.«

»Aber warum trug er den Handschuh?« fragte der Premierminister.

»Damit die Hand, die ich gleich darauf sehen mußte, nicht blutbefleckt wäre. Als ich mich umdrehte, stach er genau in Froyants Herz. Der Mann muß sofort tot gewesen sein. Dann nahm Yale den Handschuh ab und legte ihn auf den Tisch. Er ging zur Tür, als ob er sich mit jemand unterhielte, der noch lebte.

Ich wußte, daß dies geschehen war, aber ich hatte keinen Beweis. Er hatte meine Tochter in das Haus gelockt, damit sie bei der Durchsuchung gefunden und des Verbrechens angeklagt werden sollte. Sie war aber wohlweislich nur bis zur Rückseite des Hauses gegangen und dann wieder umgekehrt, weil sie seine Absicht durchschaute.

Aber ich eile den Ereignissen voraus. Unter den Leuten, die wir zu bewachen hatten, befand sich auch James Beardmore. Er war ein Grundstücksspekulant und kannte allerlei Menschen, gute und böse. Auch Marl besuchte ihn, ohne das Derrick Yale etwas davon wußte. Aber als sich Marl dem Hause näherte, sah ihn Yale, der wahrscheinlich am Rand eines Gebüsches stand. Er hatte wohl nicht erwartet, den Mann jemals wiederzusehen, durch dessen Verrat er seinerzeit zum Tode verurteilt worden war.

Marl sah ihn nur einen Augenblick und kehrte dann sofort ins Dorf und angeblich nach London zurück. In seiner Angst hatte er sich entschlossen, Lightman zu töten, bevor dieser ihn unschädlich machte. Sein Mut muß ihn aber wieder verlassen haben, denn er war kein besonders tapferer Mann. Er schrieb einen Brief und schob ihn unter das Fenster. Yale las ihn und verbrannte ihn teilweise. Was der Brief enthielt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich aber nur die Mitteilung, daß Yale seine Ruhe haben sollte, wenn Yale Marl in Frieden ließe. Marl konnte jedoch nicht wissen, in welcher Stellung sich Yale befand. Die Worte ›Block B‹ deuteten zweifellos auf ihre gemeinsame Abteilung im Gefängnis von Toulouse hin.

Von diesem Augenblick an war Marl ein verurteilter Mann. Er machte eine kleine Erpressung auf eigene Rechnung bei Brabazon, der auch ein Agent des Roten Kreises war. Brabazon mußte Yale von der ihm drohenden Gefahr erzählt haben, und Yale suchte in seiner Eigenschaft als Detektiv den kleinen Laden auf, an den alle Briefe des Roten Kreises adressiert wurden. Unter dem Vorwand, der Gerechtigkeit zu dienen, öffnete er sie selbstverständlich. Natürlich wußte niemand, daß er selbst der Mann war, an den sie adressiert waren.

Es war Brabazons Absicht gewesen, sich am Tage nach dem Tode Marls dem Zwang zu widersetzen; er hatte das ganze Guthaben Marls an sich genommen und Vorbereitungen zur Flucht getroffen. Nach Marls Tod fiel der Verdacht selbstverständlich auf Brabazon, und nachdem er durch den Roten Kreis gewarnt worden war, floh er nach dem Haus am Fluß, das wir später durchsuchten.«

Inspektor Parr lachte.

»Wenn ich sage, wir durchsuchten es, so meine ich damit, daß Yale es durchsuchte. Er kam natürlich auch in das Zimmer, in dem sich Brabazon aufhielt, aber er berichtete mir, daß niemand zu sehen sei.«

»Können Sie uns noch Aufklärung darüber geben, wie Yale damals in seinem eigenen Büro chloroformiert wurde?« fragte der Premierminister.

»Das war so geschickt gemacht, daß ich mich selbst einen Augenblick täuschen ließ. Yale legte sich die Handschellen an, fesselte und chloroformierte sich selbst, nachdem er das Geld in einen Umschlag getan und es durch einen Briefbeförderer hatte expedieren lassen – es war an seine Privatadresse gerichtet. Können Sie sich erinnern, daß ein Postbote wenige Minuten nach dem Verbrechen das Gebäude verließ? Es war allerdings nicht gut für Yale, daß ich Thalia vorher ins Zimmer gelassen hatte. Sie versteckte sich in einem Wandschrank und beobachtete von dort aus die ganze Komödie.

Das letzte Opfer, Mr. Raphael Willings, verdankt sein Leben nur der Tatsache, daß er meiner Tochter gegenüber handgreiflich wurde. Während sie mit ihm rang, sah sie plötzlich hinter dem Vorhang eine Hand zum Vorschein kommen, die den gestohlenen Dolch hielt. Yale hatte ihn genommen, natürlich wieder in seiner Eigenschaft als Detektiv. Die Waffe war auf Willings' Herz gerichtet, aber mit einer übermenschlichen Anstrengung warf Thalia ihn zur Seite, so daß er nur verwundet wurde. Yale war selbstverständlich gleich zur Hand, um das Verbrechen aufzudecken. Er war gewiß sehr ärgerlich, daß der Mord nicht geglückt war. Aber er bemühte sich nun eifrig, das Verbrechen auf Thalia Drummond Parr abzuschieben.

Beachten Sie die beispiellose Geschicklichkeit dieses Mannes«, fuhr Parr bewundernd fort. »Er hatte sich in die vorderste Reihe der Privatdetektive gearbeitet, so daß er Mitteilungen erhalten konnte, die ihm als Rotem Kreis ungemein wertvoll waren. Schließlich wurde er noch in das Polizeipräsidium berufen – und zwar auf meinen Rat hin –, wo ihm die wichtigsten Dokumente in die Hand kamen. Einige waren nicht so wichtig, wie er dachte, aber sie retteten dem jungen Mr. Beardmore das Leben, denn Yale sah als erster seine eigene Photographie, die wenige Augenblicke vor jener verunglückten Hinrichtung gemacht worden war.

Eins möchte ich noch erwähnen. Vor zwei Tagen sagte ich zu Yale, daß große Verbrecher gewöhnlich durch kleine Rechenfehler zu Fall kommen. Er hatte nämlich die Unverfrorenheit besessen, mir einzureden, daß er in Mr. Willings' Haus vorgesprochen hätte, nachdem dieser es mit Thalia verlassen hatte, und daß ihm die Diener gesagt hätten, wohin sie gefahren seien. Das allein genügte, um ihn zu verurteilen, weil er seit dem Morgen nicht in der Nähe des Hauses gewesen und schon mindestens eine Stunde vor den Dienern in dem Landhaus angekommen war.«

»Nun möchte ich nur noch wissen, wie wir Ihre Tochter belohnen können?« fragte der Premierminister. »Sie werden selbstverständlich sofort befördert. Es ist gerade eine Stelle als Kommissar frei. Aber was können wir für Miß Parr tun? Es genügt doch nicht, daß sie die Geldbelohnung erhält, die für die Festnahme des Verbrechers ausgesetzt ist.«

»Es ist nicht nötig, daß Sie sich über Miß Parr den Kopf zerbrechen«, erwiderte Jack Beardmore. Seine Stimme klang heiser. »Wir werden nämlich sehr bald heiraten.«

Alle beglückwünschten die beiden, und als wieder etwas Ruhe eingetreten war, lehnte sich der Inspektor zu seiner Tochter hinüber.

»Du hast ja darüber gar nicht mit mir gesprochen, Mutter«, sagte er vorwurfsvoll.

»Ich habe nicht einmal mit ihm gesprochen!« Sie sah Jack nachdenklich an.

»Soll das heißen, daß er dich nicht gefragt hat, ob du ihn heiraten willst?« fragte Parr erstaunt.

»Ja. Ich habe ihm allerdings auch nicht gesagt, daß ich ihn heiraten will. Aber es ist ganz gut so.«

*

Lightman oder Yale war ein musterhafter Gefangener. Er beschwerte sich nur darüber, daß man ihm auf dem Weg zur Hinrichtung das Rauchen nicht gestattete.

»In Frankreich arrangiert man das viel besser«, sagte er zu dem Direktor. »Als ich das letztemal hingerichtet wurde –«

Dem Geistlichen gegenüber drückte er sein wärmstes Interesse für Thalia Drummond aus.

»Ein Mädchen, wie man es unter Millionen nicht wieder findet! Ich nehme an, daß sie den jungen Beardmore heiratet – er ist ein glücklicher Mann. Ich persönlich habe nur wenig Interesse an Frauen, und ich glaube, daß ich deshalb so viel Erfolg im Leben hatte. Aber wenn ich ein Mann wäre, der heiraten wollte, würde ich nach einer Thalia Drummond suchen.«

An einem grauen Märzmorgen kam ein Mann in Yales Zelle und fesselte ihm die Hände.

Yale sah ihn über die Schulter hinweg an.

»Haben Sie schon einmal von Monsieur Pallion gehört?« fragte er. »Das war ein Kollege von Ihnen.«

Der Henker antwortete nicht.

»Ziehen Sie Nutzen aus seinem Beispiel und trinken Sie nie!« fuhr Yale fort. »Das Trinken war mein Ruin! Ohne das Trinken würde ich jetzt nicht hier stehen!«

Dieser Gedanke belustigte ihn auf dem ganzen Wege zum Schafott. Man legte ihm die Schlinge um den Hals und verhüllte sein Gesicht mit einem weißen Tuch. Dann trat der Henker zu dem Stahlhebel zurück.

»Ich hoffe, dieser Strick wird nicht reißen«, sagte Derrick Yale.

Das war die letzte Botschaft des Roten Kreises.

 

*

 


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