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»Sie sind also doch gekommen?« begrüßte Mr. Marl das junge Mädchen. »Schick sehen Sie aus – direkt bezaubernd!«
Er drückte ihre beiden Hände und führte sie in den kleinen Salon, der in Gold und Weiß ausgestattet war.
»Einfach entzückend!« sagte er mit leiser Stimme. »Ich war schon ein wenig bange, ob ich mit Ihnen nach dem Ritz-Carlton gehen könnte – Sie entschuldigen doch meine Offenheit? Eine Zigarette gefällig?«
Er reichte ihr sein goldenes Etui.
Sie lachte und brannte sich die Zigarette an.
»Ich habe schon peinliche Erfahrungen gemacht«, erklärte Mr. Marl und sank in einen Lehnstuhl. »Die Leute kommen manchmal in den merkwürdigsten Kostümen!«
»Sie laden sich also gern hübsche junge Damen ein?« Thalia hatte auf dem gepolsterten Kaminsitz Platz genommen und sah Marl nun mit halbgeschlossenen Augen an.
»Ich bin noch nicht so alt, daß ich nicht das größte Vergnügen an netter Damengesellschaft hätte«, erwiderte Mr. Marl selbstzufrieden. Sein Gesicht war lebhaft gerötet. »Wir wollen erst essen, dann sehen wir uns im Winter-Palace ›Die Knaben und Mädchen‹ an. Und wie würden Sie über ein kleines Souper denken?«
»Ein kleines Souper? Ich esse niemals so spät.«
»Ein paar Früchte können Sie doch noch nehmen?«
»Schön, aber wo?« fragte sie ernst. »Die meisten Restaurants sind doch geschlossen, bevor man aus dem Theater kommt?«
»Ich wüßte nicht, warum wir nicht hierher zurückkommen könnten. Sie sind doch nicht etwa prüde, mein Liebling?«
»Nicht besonders«, gestand sie.
»Ich bringe Sie nachher in meinem Wagen nach Hause.«
»Danke, aber ich habe meinen eigenen Wagen.«
Mr. Marls Augen wurden vor Erstaunen immer größer. Schließlich lachte er, zuerst langsam und leise, dann immer lauter. Endlich keuchte er: »Sie niederträchtige kleine Hexe!«
Der Abend war interessant für Thalia. In der Vorhalle des Hotels erblickte sie flüchtig Mr. Flush Barnet.
Erst als der Portier nach der Vorstellung den Wagen herbeirief, schien Thalia zu zögern. Aber der beredte Mr. Marl besiegte ihren Widerstand bald, und als es halb zwölf schlug, kamen sie bei seinem Hause an. Es entging ihr nicht, daß er nicht nach seinem Diener klingelte, sondern die Tür mit seinem eigenen Hausschlüssel öffnete.
Das Souper war in dem mit Rosenholz getäfelten Speisezimmer serviert.
»Ich werde Ihnen behilflich sein, wir wollen nicht erst die Diener in Anspruch nehmen«, schlug Mr. Marl vor.
Aber sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann doch nichts mehr essen – ich möchte eigentlich gleich nach Hause gehen.«
»Bleiben Sie doch noch einen Augenblick«, bat er. »Ich möchte mit Ihnen noch über Ihren Chef sprechen. Ich kann Ihnen bei der Firma sehr nützlich sein – ich meine bei der Bank, Thalia.« Er war hinter sie getreten, um anscheinend nach einer Platte zu greifen, die auf dem Tisch stand, und wenn Thalia nicht unter seinen Armen weggeschlüpft wäre, hätte er sie geküßt.
»Ich gehe doch lieber nach Hause.«
»Unsinn!« Mr. Marl war ärgerlich. »Kommen Sie her und setzen Sie sich.«
Sie schaute ihn lange und nachdenklich an, dann wandte sie sich plötzlich um, ging an die Tür und drückte auf die Klinke. Die Tür war verschlossen.
»Schließen Sie auf, Mr. Marl«, sagte sie ruhig.
»Aber Thalia, seien Sie doch lieb und gut, wie ich es mir vorgestellt habe!«
»Ich zerstöre nur ungern Ihre Illusionen über meinen Charakter«, erwiderte sie kühl. »Bitte, öffnen Sie die Tür.«
»Gewiß.«
Er tat so, als ob er in seiner Tasche nach dem Schlüssel suchte und ging nach der Tür, aber bevor sie seine Absicht erraten konnte, hatte er sie in die Arme gerissen. Er war stark und einen Kopf größer als sie. Seine kräftigen Hände umspannten ihre Arme wie Stahlklammern.
»Lassen Sie mich los!« sagte Thalia bestimmt, ohne ihre Beherrschung zu verlieren oder Furcht zu zeigen.
Plötzlich fühlte er, daß ihre Widerstandskraft erlahmte. Er hatte gesiegt. Tief aufatmend gab er sie frei.
»Lassen Sie mich noch etwas essen«, sagte sie.
Er strahlte.
»Jetzt sind Sie das liebe, gute Mädchen, mein Liebling – was ist denn das?!«
Die letzten Worte hatte er entsetzt ausgerufen.
Thalia war langsam zum Tisch hinübergegangen und hatte ihre seidene Handtasche aufgenommen. Er nahm an, daß sie ein Taschentuch suchte, aber sie zog einen kleinen schwarzen eiförmigen Gegenstand heraus, aus dem sie mit der linken Hand eine kleine Nadel nahm und auf den Tisch warf. Er wußte, was es war – er hatte viel mit Heeresgerät zu tun gehabt und viele Mills-Bomben gesehen.
»Legen Sie es hin – nein, nein, stecken Sie die Nadel zurück, Sie Närrin!« wimmerte er.
»Haben Sie keine Angst. Ich habe noch eine Nadel in meiner Handtasche – öffnen Sie die Tür!«
Seine Hand zitterte, als er sich am Schlüsselloch zu schaffen machte. Dann schaute er sich ängstlich nach ihr um.
»Eine Mills-Bombe!« murmelte er und lehnte sich zitternd gegen die Wandtäfelung.
»Eine Mills-Bombe!« wiederholte sie ruhig. Als sie hinausging, trug sie den tödlichen Gegenstand immer noch in der Hand. Er folgte ihr bis zur Tür und schlug sie hinter ihr zu. Dann stieg er bebend die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf.
Flush Barnet, der hinter einem Kleiderschrank stand, hörte das Geräusch des Schlüssels und das Schnappen des Riegels.
Im Haus war es ganz ruhig. Durch die dicke Tür zu Mr. Marls Schlafzimmer drang kein Laut. Flush schlich sich leise hin und lauschte. Er glaubte, Marl mit sich selbst reden zu hören, und überlegte, wie er wohl am besten durch die Öffnung des Ventilators ins Zimmer schauen könnte. Auf dem Gang stand ein kleiner eichener Tisch; diesen stellte er gegen die Wand und stieg darauf. Er konnte nun auf Mr. Marl hinuntersehen, der anscheinend sehr beunruhigt auf und ab ging. Aber plötzlich hörte Barnet ein Geräusch. Schnell stieg er wieder herunter und eilte bis zum Treppenabsatz.
Die Eingangshalle unten lag im Dunkeln, und er fühlte mehr als er sah, daß jemand auf der Treppe war. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, und er versuchte auch gar nicht, es herauszubringen. Es mochte einer der Diener sein, der verstohlen zurückkehrte, denn diese Leute bleiben nicht immer weg, wenn es ihnen befohlen wird.
Flush ging an das äußerste Ende des Ganges und wartete. Er sah niemand vorbeigehen, aber es war auch unmöglich, gegen den schwarzen Hintergrund etwas zu erkennen. Nach einer Weile schlich er sich wieder zurück. Wäre es möglich gewesen, Marls Schlafzimmertür einzudrücken, so hätte ihm das auch nicht viel genützt. Er hatte sich das Haus bereits in aller Ruhe angesehen und beschlossen, den kleinen Geldschrank in der Bibliothek zu untersuchen.
Diese »Untersuchung« dauerte zwei volle Stunden, und er wendete dabei die besten Werkzeuge an. Aber es kam nicht der große Betrag zum Vorschein, den er erwartet hatte. Nun wußte er nicht, was er tun sollte. Die Nacht war schon weit vorgeschritten. Sollte er doch noch probieren, ins Schlafzimmer einzudringen, obwohl er es schon vorher sorgfältig durchsucht hatte? Er brachte sein Handwerkszeug und seine Beute in seinen Taschen unter und ging wieder nach oben.
Aus Marls Zimmer kam kein Laut, aber das Licht brannte immer noch. Durch das Schlüsselloch konnte Flush nicht sehen, da der Schlüssel darin steckte. Die große Summe befand sich vielleicht noch in Marls Kleidern, vielleicht war sie aber auch in einem Depotkasten untergebracht – eine Möglichkeit, die Barnet vorgesehen hatte.
Er ging leise durch den Vorsaal und die Vorratskammer zur Nebentür, wo er Schuhe, Mantel und Zylinder abgelegt hatte. Er kleidete sich wieder vollständig an und schlüpfte vorsichtig den verdeckten Gang neben dem Hause entlang. Hier führte eine Tür zu dem kleinen Garten vor Marls Haus. Er erreichte ihn, und seine Hand lag auf der Pforte, als ihn jemand berührte. Schnell wandte er sich um.
»Ich brauche Sie, Flush«, sagte eine bekannte Stimme. »Inspektor Parr. Sie erinnern sich doch an mich?«
»Parr!« stieß Barnet verwirrt hervor, riß sich mit einem Fluch los und sprang durch die Tür. Aber die drei Polizisten, die auf der Straße auf ihn warteten, waren nicht so leicht abzuschütteln, und Flush Barnet wurde zur nächsten Polizeiwache gebracht.
In der Zwischenzeit durchsuchte Parr das Haus. In Begleitung eines Detektivs ging er durch den Vorsaal die Treppe hinauf.
»Das ist anscheinend das einzige Zimmer, das benutzt wird«, sagte er und klopfte an die Tür.
Es kam keine Antwort.
»Versuchen Sie, die Dienstboten zu wecken«, fuhr er fort.
Der Beamte kam aber mit der Nachricht zurück, daß keine Dienstboten im Hause wären.
»In diesem Zimmer ist jemand«, erklärte der alte Inspektor und leuchtete mit seiner Taschenlampe den Gang entlang. Er sah den Tisch, sprang mit erstaunlicher Behendigkeit hinauf und schaute durch den Ventilator.
»Es liegt jemand im Bett – hallo, wachen Sie auf!«
Aber es blieb alles stumm. Auch das Hämmern an der Tür war vergeblich.
»Vielleicht finden Sie unten ein Beil«, sagte Parr zu seinem Begleiter. »Wir müssen die Tür einschlagen – die Sache gefällt mir nicht.«
Der Mann fand kein Beil, aber einen Hammer.
»Können Sie hierher leuchten, Mr. Parr?« fragte er.
Der Inspektor richtete den Schein auf die Tür. Sie war weiß, aber auf die Täfelung war mit einem Gummistempel ein roter Kreis aufgedrückt.
»Brechen Sie die Tür auf«, rief Parr schwer atmend.
Nach fünf Minuten gab sie nach, aber der Schläfer regte sich immer noch nicht.
Parr griff mit der Hand durch das Loch und drehte den Schlüssel um. Dann schob er den oberen Riegel zurück und eilte in das Zimmer.
Marl lag auf dem Rücken; seine Züge waren verzerrt, und er war zweifellos tot.