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32

Der Vierte des Monats verging, und Derrick Yale war immer noch am Leben. Er machte eine Bemerkung darüber, als er das Büro betrat, das er mit Parr zusammen benutzte.

»Um das Fischen bin ich auch gekommen«, meinte er.

»Das ist ganz gut«, brummte Parr. »Sie wären von diesem Ausflug sicherlich niemals zurückgekehrt.«

Yale lachte.

»Sie glauben also unbedingt an den Roten Kreis!«

»Bis zu einem gewissen Grade – ja«, erwiderte der Inspektor, ohne von dem Briefe aufzuschauen, an dem er schrieb.

»Ich höre, daß Brabazon eine Aussage vor der Polizei gemacht hat?« sagte Yale nach einer Weile.

»Das ist richtig. Sie bringt nicht viel Neues, klärt aber doch über manches auf. Er hat zugegeben, daß er schon lange Zeit hindurch das Geld umtauschte, das der Rote Kreis von seinen Opfern erpreßte. Er gibt auch Einzelheiten über seinen Beitritt zum Roten Kreis, und von diesem Zeitpunkt ab ist er natürlich vollkommen für seine Handlungsweise verantwortlich.«

»Wollen Sie ihn des Mordes an Marl anklagen?«

Parr schüttelte den Kopf.

»Dazu haben wir nicht genügend Beweise.« Er trocknete den Brief ab, faltete ihn und steckte ihn in einen Umschlag.

»Was haben Sie eigentlich in Frankreich herausgebracht? Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, darüber mit Ihnen zu sprechen.«

Parr lehnte sich zurück und zündete seine Pfeife an, bevor er antwortete.

»Ungefähr dasselbe, was der arme Froyant herausbrachte. Ich schlug denselben Weg ein wie er. Vor allem lag mir daran, Näheres über Marl zu erfahren. Vielleicht wissen Sie, daß er in Frankreich einer Verbrecherbande angehörte, und daß er und sein Freund Lightman zum Tode verurteilt wurden. Lightman sollte guillotiniert werden, aber die Henker haben die Sache irgendwie verpfuscht, und er wurde nachher nach Cayenne oder sonstwohin deportiert. Dort ist er gestorben.«

»Er ist entflohen«, verbesserte Yale ruhig.

»Zum Teufel, wie hat er denn das fertiggebracht? Ich bin allerdings an ihm weniger als an Marl interessiert.«

»Sprechen Sie französisch?« fragte Yale plötzlich.

»Fließend. Warum wollen Sie das wissen?«

»Ach, es interessierte mich nur, wie Sie Ihre Nachforschungen anstellten.«

»Ich spreche französisch – sogar sehr gut«, wiederholte Parr.

»Und Lightman ist entflohen«, fuhr Yale ruhig fort. »Ich möchte nur wissen, wo er jetzt steckt.«

»Das ist mir sehr gleichgültig.« Die Stimme des Inspektors klang ungeduldig.

»Anscheinend sind Sie nicht der einzige, der sich für Marl interessiert. Ich sah nämlich auf Ihrem Schreibtisch eine Mitteilung des jungen Beardmore. Er schreibt, daß er einige Papiere entdeckt hätte, die sich auf Marl bezögen. Sein Vater hatte auch Erkundigungen über den Mann eingezogen.«

Mr. Parr hörte dann, daß Yale vom Kommissar zum Lunch eingeladen war. Daß man ihn ausschloß, verletzte ihn nicht im geringsten. Er hatte genug damit zu tun, die Leute auszuwählen, die den einzelnen Ministern als Leibwache zugeteilt werden sollten. Außerdem langweilten ihn solche Einladungen nur.

Seine Anwesenheit wäre in diesem Fall auch sehr störend gewesen, denn Yale hatte Morton eine Mitteilung zu machen, die der Inspektor nicht hören sollte. Gegen Ende der Mahlzeit rückte er mit seiner Neuigkeit heraus. Der Kommissar sank verblüfft in seinen Stuhl zurück und starrte den Detektiv an.

»Jemand vom Polizeipräsidium?« fragte er ungläubig. »Das ist doch unmöglich, Mr. Yale.«

»Ich würde nicht behaupten, daß etwas unmöglich ist. Deuten denn nicht alle Anzeichen darauf hin? Bei all unseren Versuchen, den Roten Kreis zu fangen, kommt uns jemand zuvor. Denken Sie an Sibly. Kann er von einem anderen als von einem Mann in offizieller Stellung vergiftet worden sein? Und nehmen Sie den Fall Froyant: Detektive hatten das Haus umstellt – es kam weder jemand hinein noch heraus.«

Der Kommissar hatte sich inzwischen etwas beruhigt.

»Wir wollen uns offen aussprechen«, erwiderte er. »Beschuldigen Sie etwa Parr?«

Derrick Yale lachte.

»Aber nein! Ich kann mir nicht vorstellen, daß Parr verbrecherisch veranlagt ist. Aber überlegen Sie doch einmal.« Er neigte sich etwas vor und sprach leiser. »Wenn Sie über jede Einzelheit nachdenken und über jedes Verbrechen, das der Rote Kreis begangen hat, so muß Ihnen doch auffallen, daß immer eine autoritative Persönlichkeit im Hintergrund stand.«

»Parr?« fragte der Kommissar aufs neue.

Derrick Yale nagte an seiner Unterlippe.

»Ich will nicht an Parr denken. Ich könnte aber annehmen, daß er das Opfer eines Untergeordneten ist, dem er vertraut. Sie müssen mich richtig verstehen«, fuhr er schnell fort. »Ich würde niemals zögern, Anklage gegen Parr zu erheben, wenn mich meine Nachforschungen dazu führen würden. Nicht einmal Sie würde ich ohne weiteres von jedem Verdacht freisprechen – wenn Sie mir Veranlassung dazu gäben.«

»Ich kann Ihnen versichern, daß ich nichts über den Roten Kreis weiß«, erwiderte Morton lachend. »Wer ist eigentlich das junge Mädchen dort? Sie schaut andauernd zu Ihnen herüber.« Er zeigte auf ein Paar, das in einer Ecke des Restaurants saß.

»Das ist Thalia Drummond«, entgegnete Yale vorsichtig. »Und wenn ich mich nicht irre, ist ihr Begleiter Raphael Willings, eins der bedrohten Regierungsmitglieder.«

»Thalia Drummond?« Der Kommissar pfiff vor sich hin. »Hat sie sich nicht vor einiger Zeit etwas zuschulden kommen lassen? War sie nicht Froyants Sekretärin?«

»Ja. Das Mädchen ist mir ein Rätsel. Ihre Kaltblütigkeit kennt keine Grenzen. Sie sollte in diesem Augenblick in meinem Büro sitzen, telephonische Anrufe entgegennehmen und Briefe beantworten.«

»Beschäftigen Sie sie denn?« fragte Morton erstaunt. »Und wie kommt ein Mädchen ihres Standes dazu, mit Mr. Willings bekannt zu sein?«

Darauf konnte Derrick Yale keine Antwort geben.

Thalia stand bald auf und ging mit ihrem Begleiter langsam durch den Saal. Sie kam auch an Yales Tisch vorbei und erwiderte seinen forschenden Blick mit einem Lächeln und einem kurzen Nicken.

»Was sagen Sie dazu?« fragte er den Kommissar.

»Vermutlich werden Sie mit ihr reden müssen«, meinte Morton.

*

Thalia kam wenige Augenblicke vor ihrem Chef ins Büro und nahm gerade den Hut ab, als er eintrat.

»Ich muß ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Miß Drummond«, begann er sofort. »Warum haben Sie das Büro während der Lunchzeit verlassen? Ich hatte sie doch ausdrücklich gebeten, hierzubleiben.«

»Und Mr. Willings hatte mich ausdrücklich gebeten, mit ihm zum Lunch zu gehen«, entgegnete sie mit einem unschuldsvollen Lächeln. »Da er ein Mitglied der Regierung ist, hätten Sie es doch sicherlich auch nicht gern gesehen, wenn ich ihm die Bitte abgeschlagen hätte?«

»Wie haben Sie denn Mr. Willings kennengelernt?«

Sie schaute ihn fast verächtlich an.

»Man kann Herren auf vielerlei Weise kennenlernen. Zum Beispiel kann man eine Heiratsanzeige in die Zeitung setzen, man kann eine Zusammenkunft im Park verabreden, man kann ihnen auch vorgestellt werden. Ich bin Mr. Willings vorgestellt worden.«

»Wann?«

»Heute morgen, ungefähr um zwei Uhr. Ich gehe nämlich manchmal in den Merro-Club und tanze dort«, erklärte sie. »Diese Erholung verlangt meine Jugend. Und dort haben wir uns kennengelernt.«

Yale nahm etwas Geld aus der Tasche und legte es auf den Tisch.

»Hier ist Ihr Gehalt für diese Woche, Miß Drummond«, sagte er gelassen. »Von morgen ab benötige ich Ihre Dienste nicht mehr.«

Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Ich dachte, Sie wollten mich bessern?« fragte sie ernst.

Er schaute sie erst verblüfft an, dann lachte er.

»Sie können nicht mehr gebessert werden. Ich kann viele Dinge entschuldigen; selbst wenn in der Portokasse etwas gefehlt hätte, würde ich ein Auge zugedrückt haben. Aber ich kann nicht zugeben, daß Sie das Büro verlassen, wenn Sie ausdrückliche Anweisung haben, hierzubleiben.«

Sie nahm das Geld und zählte es.

»Stimmt genau«, sagte sie spöttisch. »Sicherlich sind Sie ein Schotte, Mr. Yale.«

»Es gibt nur einen Weg, Sie zu bessern, Thalia Drummond.« Seine Stimme klang ernst, und es schien ihm schwer zu fallen, die richtigen Worte zu finden.

»Und welcher Weg ist das?«

»Daß jemand Sie heiratet. Ich wäre nicht abgeneigt, den Versuch zu machen.«

Sie hatte sich auf den Rand des Schreibtisches gesetzt und schüttelte sich vor Lachen.

»Sie sind zu komisch«, sagte sie endlich. »Jetzt sehe ich auch, daß Sie wirklich ein Menschenfreund sind. Gestehen Sie ein, Mr. Yale, daß Sie nur mit mir experimentieren wollen, und daß Sie nicht mehr Zuneigung für mich fühlen als für die große Fliege, die dort an der Wand krabbelt.«

»Ich bin allerdings nicht in Sie verliebt – wenn Sie das meinen.«

»Ja, so etwas Ähnliches meinte ich. Nein, ich nehme meine Entlassung und meinen Wochenlohn an. Im übrigen danke ich Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit gegeben haben, ein so glänzendes Genie wie Sie kennenzulernen.«

Er brach die Unterhaltung ab, als ob er einen geschäftlichen Vorschlag gemacht hätte, der abgelehnt worden war, und sagte noch ein paar Worte über ein Empfehlungsschreiben. Damit war die Sache für ihn erledigt, und er ging in sein Büro.

Und doch machte die Entlassung die Situation für Thalia kritisch. Denn entweder hatte Derrick Yale sie jetzt in Verdacht, oder ihre Entlassung war eine List und der Teil eines großangelegten Plans, um sie ins Verderben zu stürzen.

Auf dem Heimweg dachte sie an seine Anspielung auf Johnson in der Mildred Street. Dahinter konnte mehr stecken als die einfache Mitteilung, daß er ihre Verbindung mit dem Roten Kreis kannte und sie dies wissen lassen wollte.

In ihrer Wohnung wartete ein Brief auf sie. Soweit sie in Betracht kam, war der Rote Kreis ein eifriger Briefschreiber.

In ihrem Schlafzimmer öffnete sie das Kuvert und las die Nachricht.

 

»Sie haben meine Anweisungen ausgezeichnet ausgeführt. Die Vorstellung bei Willings war gut inszeniert und nicht allzu schwer, wie ich Ihnen versprach. Sie müssen diesen Mann jetzt näher kennenlernen und seine kleinen Schwächen herausfinden. Studieren Sie vor allem seine Einstellung zu dem Vorschlag, den ich dem Kabinett gemacht habe. Das Kleid, das Sie heute zum Lunch trugen, war nicht gut genug. Scheuen Sie in dieser Beziehung keine Ausgaben. Derrick Yale wird Sie heute nachmittag entlassen, aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Es ist kein Grund mehr vorhanden, noch länger in seinem Büro zu bleiben. Heute abend speisen Sie mit Willings. Er ist für weibliche Reize besonders zugänglich, und wenn möglich, lassen Sie sich in sein Haus einladen. Er besitzt eine Sammlung alter Schwerter, auf die er sehr stolz ist. Auf diese Weise können Sie sich über die Lage der einzelnen Räume im Hause informieren.«

 

Thalia schaute in das Kuvert. Es lagen noch zwei neue Banknoten von je hundert Pfund darin, und sie legte die Scheine mit ernstem Gesicht in ihre Handtasche.


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