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Thalia Drummond kehrte in ihr möbliertes Zimmer zurück, das sie schon bewohnt hatte, bevor sie ihre Stellung bei Mr. Froyant antrat. Sie hatte eine sehr unangenehme Woche hinter sich. Mehrere Tage lang hatte man sie festgehalten, und ihre Kleider schienen noch dumpfe Gefängnisluft auszuatmen.
Gegen Mittag fuhr sie mit einem Omnibus in die City. In der Fleet Street stieg sie aus und ging zu dem Büro einer bekannten Zeitung. Sie nahm ein Annoncenformular, schaute eine Weile nachdenklich auf das weiße Blatt und schrieb dann:
»Sekretärin. – Junge Dame aus den Kolonien sucht Stellung als Sekretärin. Wohnung im Hause bevorzugt. Kleines Gehalt. Stenographie und Schreibmaschine.«
Sie ließ einen Platz für die Chiffre frei, gab die Anzeige am Schalter ab und bezahlte die Gebühr.
Am Abend erhielt sie einen Brief. Sie lächelte, als sie ihn beim Schein der Lampe betrachtete. Die Adresse war mit gedruckten Buchstaben geschrieben. Sie drehte das Kuvert um und schaute auf die Briefmarke, bevor sie es öffnete und eine dicke weiße Karte hervorzog.
»Wir brauchen Sie. Steigen Sie morgen abend in den Wagen, der um zehn Uhr an der Ecke von Steyne Square wartet«, stand in dem roten Kreis.
Thalia legte die Karte auf den Tisch und starrte sie an.
Der Rote Kreis brauchte sie.
Sie hatte die Aufforderung allerdings erwartet, aber sie kam eher, als sie dachte.
*
Drei Minuten vor zehn fuhr am folgenden Abend ein geschlossenes Auto zum Steyne Square und hielt an der Ecke der Clarges Street. Kurz darauf kam Thalia Drummond von der anderen Seite her auf den Platz. Sie trug einen langen, schwarzen Mantel und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen.
Ohne einen Augenblick zu zögern, öffnete sie die Tür und stieg ein. Da es vollständig dunkel war, konnte sie die Gestalt des Chauffeurs nur undeutlich erkennen. Er wandte den Kopf nicht um und fuhr auch nicht weiter, obwohl der Motor nicht abgestellt war.
»Sie standen gestern vor dem Polizeigericht in Marylebone, und zwar waren Sie wegen Diebstahls angeklagt«, begann der Fremde ohne weitere Einleitung. »Gestern nachmittag gaben Sie sich in einer Annonce als eine Dame aus den Kolonien aus. Sie suchen eine Stellung, die es Ihnen ermöglicht, weitere Diebstähle zu begehen.«
»Sehr interessant«, erwiderte Thalia ruhig. »Aber Sie haben mich doch gewiß nicht herbestellt, um mir meine Vergangenheit zu erzählen. Ich dachte, Sie brauchen mich? Stimmt das nicht?«
»Wenn ich zu antworten wünsche, werde ich das tun.«
»Schön.« Thalia lächelte im Dunkeln. »Aber nehmen Sie einmal an, ich hätte mich mit der Polizei in Verbindung gesetzt und wäre hier mit Mr. Parr und dem klugen Mr. Yale erschienen?«
»Dann würden Sie jetzt tot auf dem Gehsteig liegen. Miß Drummond, ich will es Ihnen leicht machen, Geld zu verdienen, und ich will Ihnen eine ausgezeichnete Stellung verschaffen. Wenn Sie sich in Ihrer freien Zeit mit Ihren Liebhabereien beschäftigen, habe ich nichts dagegen. Aber Ihre Hauptaufgabe ist es in Zukunft, mir zu dienen. Verstehen Sie?«
»Ja.«
»Ich bezahle Sie gut für alles, was Sie tun, und ich bin immer zur Hand, um Ihnen zu helfen – oder um Sie zu bestrafen, wenn Sie mich verraten. Verstehen Sie?«
»Durchaus.«
»Ihre Arbeit ist sehr einfach. Morgen stellen Sie sich in Brabazons Bank vor. Er braucht eine Sekretärin.«
»Aber wird er mich anstellen? Muß ich unter einem anderen Namen gehen?«
»Nein. Hier sind zweihundert Pfund für Ihre Dienste.« Er reichte ihr zwei Banknoten über die Schulter, und sie nahm sie.
Dabei berührte sie ihn zufällig und fühlte etwas Hartes unter seinem Mantel.
»Eine kugelsichere Weste«, dachte sie.
»Was soll ich Mr. Brabazon über meine frühere Tätigkeit sagen?« fragte sie laut.
»Es ist weder nötig, etwas zu sagen, noch etwas zu tun. Von Zeit zu Zeit erhalten Sie Ihre Befehle. Das ist alles.«
Wenige Minuten später saß Miß Drummond in einer Autodroschke, die sie nach der Lexington Street zurückbrachte. In einigem Abstand folgte ihr ein anderer Wagen, und als sie den Schlüssel in ihre Haustür steckte, war Inspektor Parr nur wenige Schritte von ihr entfernt.
Parr wartete einige Augenblicke und beobachtete das Haus von der gegenüberliegenden Seite aus. Als eins der oberen Fenster erleuchtet wurde, drehte er sich um und ging zu dem Auto zurück, das ihn so weit ostwärts gebracht hatte.
Er wollte gerade einsteigen, als jemand an ihm vorüberging. Trotzdem der Fremde den Kragen hochgeschlagen hatte und in schnellem Tempo daherkam, erkannte Parr ihn doch.
»Flush!« rief er.
Der kleine, dunkle Mann mit dem mageren Gesicht und der geschmeidigen Gestalt drehte sich um. Als er den Inspektor sah, erschrak er.
»Sie sind hier, Mr. Parr!« rief er mit erheuchelter Fröhlichkeit. »Wie kommen Sie denn in diesen Teil der Welt?«
»Ich würde mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten. Kommen Sie mit?«
»Sie haben doch nichts gegen mich?« fragte Flush kleinlaut.
»Nicht das Geringste. Sie gehen doch jetzt den geraden Weg der Tugend? Wenigstens haben Sie mir das versprochen, als Sie aus dem Gefängnis entlassen wurden.«
»Das stimmt.« Flush Barnet atmete erleichtert auf. »Ich verdiene mir jetzt meinen Lebensunterhalt, und ich will bald heiraten.«
»Was Sie nicht sagen! Ist es Bella oder Milly?«
»Milly.« Flush verfluchte innerlich das ausgezeichnete Gedächtnis des Inspektors. »Sie geht auch keine krummen Wege mehr, sie ist in einem Geschäft angestellt.«
»Um genau zu sein, in Brabazons Bank«, erwiderte Parr und drehte sich um, als ob ihm ein Gedanke gekommen wäre. »Ich möchte nur wissen«, murmelte er, »ob es das ist.«
»Milly ist eine vollendete Dame«, versicherte Mr. Flush. »Ehrlich wie die liebe Sonne. Nicht einmal eine Uhr würde sie nehmen, und wenn ihr Leben davon abhinge. Sie dürfen wirklich nicht schlecht von ihr denken, Mr. Parr.«
»Großartige Neuigkeiten. Wo ist Milly denn jetzt zu finden?«
»Sie wohnt möbliert. Sie wollen doch nicht alte Geschichten aufwühlen, Inspektor?«
»Um's Himmels willen, nein! Ich hätte nur gern einmal mit ihr gesprochen. Vielleicht –« er zögerte. »Ach, ich kann warten. Es war wirklich eine Fügung des Schicksals, daß ich Sie getroffen habe, Flush.«
Flush teilte diese Ansicht nicht, wenn er auch äußerlich zustimmte.
»Also doch«, sagte Parr zu sich selbst. Aber als er eine halbe Stunde später Derrick Yale in seinem Klub traf, teilte er ihm seinen Verdacht nicht mit. Und als in einer langen Unterredung das Geheimnis des Roten Kreises nach allen Richtungen hin besprochen wurde, erwähnte er ebensowenig etwas von Thalia Drummonds Zusammenkunft mit einem Unbekannten am Steyne Square.
Am nächsten Morgen fuhren die beiden zeitig nach der kleinen Provinzstadt, in der Ambrose Sibly unter Mordverdacht festgehalten wurde. Dieser Mann, der seiner Nationalität nach halb Schotte und halb Schwede war, konnte weder lesen noch schreiben und hatte vorher schon mit der Polizei zu tun gehabt. Erst wollte er sich in keiner Weise bloßstellen, aber später gelang es mehr dem geschickten Kreuzverhör Derrick Yales als Parrs Bemühungen, ihn zum Geständnis zu zwingen.
Sie saßen in einer Zelle, und ein Stenograph schrieb die Aussage des Gefangenen nieder.
»Sie hätten mich niemals erwischt, wenn ich nicht betrunken gewesen wäre«, sagte Sibly. »Und wenn ich die Sache nun schon einmal gestehen muß, kann ich auch gleich den Mord an Harry Hobbs zugeben. Aufhängen kann man mich ja doch nur einmal. Neunzehnhundertzwölf waren wir zusammen auf der Oritianga. Ich machte ihn kalt und warf ihn über Bord. Es war eine Weibergeschichte. Aber jetzt will ich Ihnen erzählen, wie die Sache hier passierte. Vor einem Monat versäumte ich mein Schiff und landete schließlich im Seemannsheim in Wapping. Dort flog ich 'raus, weil ich wieder betrunken war, und obendrein steckten sie mich auf acht Tage ins Kittchen. Hätte mir der dumme Kerl einen Monat gegeben, dann säße ich jetzt nicht hier. Als ich wieder loskam, hatte ich schrecklichen Durst und außerdem scheußliche Zahnschmerzen –«
Parr warf Yale einen Blick zu, den dieser lächelnd erwiderte.
»Unterwegs schaute ich nach Zigarrenstummeln aus«, fuhr Sibly fort, »und dachte nur an Essen und Unterschlupf. Es fing an zu regnen, und es sah aus, als ob ich die Nacht auf der Straße bleiben müßte. Aber plötzlich rief mir jemand zu: ›Kommen Sie herein‹. Ich drehte mich um, und da stand ein Auto neben mir. Der Mann sagte noch einmal: ›Kommen Sie herein – ich meine Sie‹. Dann nannte er meinen Namen. Wir fuhren dann umher, ohne daß er etwas sagte. Aber er ging allen hellen Straßen aus dem Weg.
Nach einer Weile hielt er an und erzählte mir, wer ich war. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie verblüfft ich war. Er kannte meine ganze Lebensgeschichte. Sogar die Sache mit Hobbs war ihm bekannt. Ich war seinerzeit freigesprochen worden. Dann fragte er mich, ob ich mir hundert Pfund verdienen wollte. Als ich Ja sagte, sprach er von einem alten Herrn, der auf dem Lande lebte und ihn sehr geschädigt hätte. Den wollte er um die Ecke gebracht haben. Zuerst wollte ich nichts damit zu tun haben, aber er redete auf mich ein und sagte, daß er mich für den Mord an Hobbs hängen lassen könnte. Außerdem sei die Sache ungefährlich – zur Flucht wolle er mir ein Rad geben.
Schließlich willigte ich ein. Eine Woche später kam ich am Steyne Square mit ihm zusammen, und dort sagte er mir genau, was ich zu tun hätte. Als es dunkel wurde, ging ich zu Beardmores Haus und versteckte mich in der Nähe im Walde. Ich sollte es mir dort für die Nacht bequem machen. Jeden Morgen ging Mr. Beardmore durch den Wald spazieren. Aber ich war noch keine Stunde dort, als ich einen mächtigen Schrecken bekam. Ein großer Kerl ging vorbei – es muß wohl ein Wildhüter gewesen sein. Ich konnte ihn aber nur flüchtig sehen.
Als dann der alte Beardmore am nächsten Morgen in den Wald kam, erschoß ich ihn. Ich weiß keine Einzelheiten, denn ich war betrunken. Eine Flasche Whisky hatte ich mir mitgenommen. Aber ich war noch nüchtern genug, um auf das Rad zu steigen und wegzufahren. Und wenn die verdammte Sauferei nicht gewesen wäre, hätten sie mich sicherlich nicht bekommen.«
»Ist das alles?« fragte Parr, nachdem das Geständnis noch einmal durchgelesen worden war. Sibly hatte ein schiefes Kreuz darunter gesetzt.
»Das ist alles«, erwiderte der Seemann.
»Und Sie wissen nicht, wer Sie engagiert hat?«
»Nein, habe nicht die geringste Ahnung. Etwas könnte ich Ihnen allerdings sagen. Er hatte die Gewohnheit, ein Wort zu gebrauchen, das ich noch nie vorher gehört hatte.«
»Wie hieß denn dieses Wort?«
Der Mann kratzte sich den Kopf.
»Sobald es mir wieder einfällt, sage ich es Ihnen.«
Die anderen überließen ihn sich selbst und entfernten sich.
Vier Stunden später brachte der Aufseher dem Gefangenen das Essen. Sibly lag auf dem Bett, und der Mann schüttelte ihn an der Schulter.
»Wachen Sie auf«, sagte er, aber Ambrose Sibly wachte niemals wieder auf.
Er war tot.
Ein halb mit Wasser gefüllter Becher stand neben seinem Bett. Er hatte anscheinend seinen Durst stillen wollen, aber die Blausäure, die man in dem Gefäß fand, hätte genügt, um fünfzig Menschen zu töten.
Das Gift interessierte Inspektor Parr jedoch nicht so sehr wie der kleine rote Kreis aus Papier, der auf dem Wasser schwamm.