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33

Mr. Raphael Willings war ein Produkt seiner Zeit. Obgleich er erst etwas mehr als vierzig Jahre zählte, war es ihm doch schon gelungen, in das Kabinett zu kommen. Er war jedoch weder bei seinen Kollegen noch im Lande beliebt. Aber er hatte eine Anzahl von Anhängern, auf die er sich verlassen konnte. Und die Regierungsmehrheit war zu gering, um es wagen zu können, den Willings-Block auszuschließen.

Er sah gut aus und besaß eine gewisse persönliche Anziehungskraft, wenn er auch etwas kahlköpfig war und ein wenig zur Korpulenz neigte. Er glaubte, daß er die Bekanntschaft mit Thalia Drummond auf äußerst geschickte Weise angeknüpft hätte. Wie entsetzt wäre er gewesen, wenn er gewußt hätte, daß die Dame, die ihn vorstellte, erst am Morgen vom Roten Kreis die Weisung erhalten hatte, diese Bekanntschaft zu vermitteln. Der Rote Kreis hatte Agenten in allen Berufen und in allen Gesellschaftsklassen. Sie wurden gut bezahlt, und ihre Pflichten waren manchmal nicht beschwerlich. Zuweilen hatten sie weiter nichts zu tun, als zwei Leute einander vorzustellen, die der Rote Kreis zusammenbringen wollte.

Die Organisation dieser großen Verbrechergesellschaft war ungewöhnlich vollendet. Der geheimnisvolle Führer wußte fast eher als die bedauernswerten Opfer selbst, wann Armut und Unglück drohte, und nahm sie im geeigneten Moment in seine Gesellschaft auf. Keiner kannte den anderen, und vor allem kannte niemand das Oberhaupt. Jeder hatte seine bestimmte Tätigkeit, und die Rolle der untergeordneten Mitglieder war manchmal lächerlich klein und unwichtig.

Einige Mitglieder hatten in ihrem ersten Schrecken dem Polizeipräsidium Angaben gemacht, und von ihnen erfuhr man, wie einfach manche der Aufgaben waren, die der rätselhafte Mann stellte.

Aus Furcht vor den schweren Folgen des Verrats blieb aber die Mehrheit ihrem unbekannten Anführer treu.

An dem Tage, an dem Derrick Yale von Morton zum Lunch eingeladen wurde, erhielten die Mitglieder eine Aufforderung, zur ersten Versammlung des Roten Kreises zu erscheinen. Sie bekamen genaue Anweisung, welche Kleidung sie zu tragen hätten, und was sie tun müßten, um nicht von ihren Genossen erkannt zu werden.

Für Thalia sollte diese Versammlung die interessanteste Erinnerung an ihre Verbindung mit dem Roten Kreise werden.

In der alten Kirche St. Agnes, die zwischen hohen Lagerhäusern lag, hielt der Rote Kreis die erste und letzte Versammlung seiner Mitglieder ab.

Auch hier war seine Organisation bewunderungswürdig. Jeder hatte genaue Vorschrift erhalten, wann er ankommen mußte, so daß nicht zwei Leute zu gleicher Zeit eintrafen. Auf welche Weise er den Schlüssel bekommen hatte, konnte Thalia Drummond nur vermuten.

Sie kam pünktlich in den Seitenweg und stieg zwei Stufen zu einer Tür hinauf, die sich öffnete. Nachdem das junge Mädchen in den Vorraum eingetreten war, schloß sie sich wieder. Nur durch die bunten Fenster drang schwaches Licht herein.

»Gehen Sie geradeaus«, flüsterte eine Stimme, »und setzen Sie sich an das Ende des zweiten Kirchenstuhls auf der rechten Seite.«

Es war eine schweigsame, fast geisterhafte Versammlung. Kein Mensch sprach zum anderen. Nach kurzer Zeit trat der Mann, der Thalia eingelassen hatte, an das Altargeländer. Sie wußte bei seinen ersten Worten, daß sie den Führer des Roten Kreises vor sich hatte.

Seine Stimme klang tief und dumpf, und Thalia nahm an, daß er wie bei ihrer ersten Begegnung einen Schleier über dem Kopf trug.

»Freunde«, begann er, »unsere Gesellschaft wird nun bald aufgelöst werden. Ihr habt mein Angebot in den Zeitungen gelesen. Ihr seid daran beteiligt. Ich habe mich entschieden, mindestens zwanzig Prozent des Geldes, das mir die Regierung schließlich geben muß, unter euch zu verteilen, da ihr mir treu gedient habt. Niemand braucht zu fürchten, daß wir hier unterbrochen werden. Die Polizeipatrouille kommt erst in einer Viertelstunde vorbei, und meine Stimme kann man nicht außerhalb der Kirche hören. Sollte aber jemand Verrat beabsichtigen und glauben, daß eine so allgemein angekündigte Versammlung mein Verderben werden muß, so mag er wissen, daß ich heute nacht nicht gefangengenommen werden kann. Meine Damen und Herren, ich will nicht leugnen, daß wir in großer Gefahr schweben. Bei zwei Gelegenheiten sind beinahe Tatsachen bekanntgeworden, auf Grund deren die Polizei mich identifizieren könnte. Derrick Yale und Inspektor Parr verfolgen meine Spuren. In diesem kritischen Augenblick fordere ich Sie deshalb alle auf, mich mit allen Kräften zu unterstützen. Morgen bekommen Sie von mir Anweisung für Ihr weiteres Verhalten. Denken Sie daran, daß die Gefahr für Sie ebenso groß ist wie für mich. Ihre Belohnung soll entsprechend hoch sein. Jetzt verlassen Sie in dreißig Sekunden Abstand einzeln die Kirche. Die ersten beiden auf der rechten Seite machen den Anfang, dann folgen die beiden auf der linken Seite. Los!«

In Abständen glitten die dunklen Gestalten an ihm vorbei und verschwanden.

Der Mann wartete, bis die Kirche leer war, dann entfernte er sich auch. Er verschloß die äußere Tür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Die Kirchenuhr schlug halb, als er ein Auto anrief, um nach dem Westen zu fahren.

Thalia Drummond, die eine Viertelstunde vor ihm die Kirche verlassen hatte, nahm in dem Wagen, der sie in dieselbe Richtung brachte, eine schnelle Veränderung ihrer äußeren Erscheinung vor. Sie legte den Hut mit dem Schleier und den alten schwarzen Regenmantel ab. Darunter trug sie einen Mantel von zarter Seide und ein herrliches Abendkleid.

Als sie vor dem hellerleuchteten Eingang zum Merro-Klub ausstieg, bot sie ein Bild strahlender Schönheit.

Jack Beardmore speiste auch mit einigen Freunden im Klub. Als er Thalia sah, schaute er eifersüchtig auf ihren höflichen Begleiter.

»Wer ist denn das?« fragte er einen Bekannten, der gelangweilt hinübersah.

»Die Dame kenne ich nicht, aber der Herr ist Mr. Willings. Er hat bei der Regierung viel zu sagen.«

Thalia hatte den jungen Mann schon entdeckt, bevor er sie gesehen hatte, und sie seufzte innerlich. Sie überhörte die Hälfte von dem, was Willings sagte, denn ihre Gedanken beschäftigten sich mit einer anderen Persönlichkeit. Erst als sie durch ein paar bekannte Worte an die Situation erinnert wurde, wandte sich ihr Interesse dem Minister zu.

»Altertümliche Schwerter«, wiederholte sie. »Ich habe gehört, daß Sie eine wundervolle Sammlung besitzen sollen?«

»Interessieren Sie sich dafür?« lächelte er.

»Ja, sogar sehr.«

»Darf ich Sie dann einmal zum Tee einladen?« fragte er. »Man findet höchst selten eine Frau, die sich dafür interessiert. Wollen wir es vielleicht für morgen festmachen?«

»Nein, nicht morgen«, erwiderte Thalia hastig. »Vielleicht übermorgen.«

Sie beobachtete, daß Jack den Klub verließ, ohne sich nach ihr umzusehen. Sie fühlte sich elend, denn sie hätte gern mit ihm gesprochen.

Mr. Willings bestand darauf, sie in seinem Wagen nach Hause zu bringen, und sie verabschiedete sich von ihm mit einem Seufzer der Erleichterung. An diesem Abend paßte seine Gesellschaft nicht zu ihrer Stimmung.


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