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31

Bei ihrer Ankunft in London konnte man in sämtlichen Zeitungen schon die neueste Sensation lesen. Der Rote Kreis hatte ein äußerst anspruchsvolles Programm veröffentlicht. In einem kurzen Kommuniqué hatte man der Presse den Gang der Ereignisse mitgeteilt:

 

»Heute morgen hat jedes Mitglied der Regierung ein mit Schreibmaschine geschriebenes Dokument erhalten, das weder eine Adresse noch den Namen des Absenders trug. Es war nur auf jeder Seite ein roter Kreis aufgedruckt. Das Dokument lautet:

›Alle Anstrengungen der offiziellen und der privaten Polizei waren vergeblich. Weder dem Genie Derrick Yale noch dem eifrigen Inspektor Parr ist es gelungen, Unsere Tätigkeit einzuschränken. Die wirkliche Anzahl Unserer Erfolge ist nicht bekannt. Leider war es Unsere unangenehme Pflicht, eine Anzahl von Menschen aus dem Weg zu räumen. Wir taten das weniger aus Rache als vielmehr zur Warnung für Andere. Noch heute morgen mußten Wir den Rechtsanwalt Samuel Heggitt erledigen, weil er sich im Auftrag des verstorbenen Harvey Froyant Unserer Person in lästiger Weise näherte. Es war ein Glück für die anderen Mitglieder seiner Firma, daß er diese Arbeit persönlich unternahm. Man wird ihn zwischen Brixton und Marsden neben den Eisenbahnschienen finden.

Da die Polizei Uns gegenüber völlig machtlos ist, und da Wir den Behörden vollständig rechtgeben, wenn sie Uns für die größte Gefahr der Gesellschaft erklären, haben Wir uns entschlossen, unsere Tätigkeit unter gewissen Bedingungen aufzugeben. Wir fordern, daß der Betrag von einer Million Pfund Sterling zu Unserer Verfügung gestellt wird. Wie das Geld überwiesen werden soll, ist Sache späterer Abmachungen. Weiterhin verlangen wir eine allgemeine Begnadigung, so daß wir Uns dieses Dokuments bedienen können, falls Unsere Identität erraten werden sollte.

Eine Ablehnung Unserer Bedingungen würde unangenehme Folgen nach sich ziehen. Am Schluß dieser Erklärung nennen Wir zwölf Parlamentarier, die als Geiseln für die Erfüllung Unserer Wünsche haften müssen. Hat sich die Regierung am Ende der Woche Unseren Forderungen nicht gefügt, so muß einer der Herren daran glauben.‹«

 

Kurz nach seiner Ankunft in Whitehall traf Parr Derrick Yale, und zum erstenmal in seinem Leben sah der Detektiv besorgt aus.

»Ich habe diese Entwicklung befürchtet«, meinte er. »Das Seltsamste ist, daß sie gerade in dem Augenblick eintrat, als ich glaubte, den Hauptverbrecher fassen zu können.«

Er nahm Parrs Arm und ging in dem düsteren Gang mit ihm auf und ab.

»Nun fahre ich natürlich nicht zum Fischen nach Deal«, fuhr er nach einer Weile fort.

»Ach, natürlich! Heute ist ja Ihr Todestag! Aber ich glaube, Sie sind durch die allgemeine Amnestie des Roten Kreises begnadigt worden«, erwiderte er trocken.

Yale lachte.

»Bevor wir jetzt zu dieser Sitzung gehen, möchte ich Ihnen sagen, daß ich ohne jeden Vorbehalt zu Ihrer Verfügung stehe. Die gegenwärtigen Wünsche des Kabinetts laufen nämlich darauf hinaus, mir eine offizielle Anstellung zu geben und die ganze Untersuchung in meine Hände zu legen. Man hat bei mir angefragt, aber ich habe eine bestimmte Absage gegeben. Ich bin überzeugt, daß Sie der beste Mann für diesen Fall sind, und ich will unter keinem anderen Vorgesetzten arbeiten.«

»Besten Dank«, erwiderte Parr. »Das Kabinett ist aber vielleicht anderer Ansicht.«

Die Sitzung wurde in den Räumen des Innenministeriums abgehalten. Parr kannte dem Aussehen nach die meisten Leute der glänzenden Versammlung, und da er der entgegengesetzten politischen Partei angehörte, hatte er vor keinem besondere Achtung. Er fühlte eine Atmosphäre von Feindschaft um sich, und das kühle Kopfnicken des Premierministers verstärkte bei ihm noch diesen Eindruck.

»Mr. Parr«, begann der Premierminister mit kalter Stimme, »wir sprechen hier über die Angelegenheit des Roten Kreises, der beinahe zu einem nationalen Problem geworden ist. Der gefährliche Charakter der Verbrecherbande ist noch durch eine Mitteilung erhöht worden, die sämtliche Mitglieder des Kabinetts erhalten haben. Sie haben sie natürlich in der Zeitung gelesen?«

»Jawohl.«

»Wir wollen absolut nicht verheimlichen, daß wir mit der Art und Weise, wie Sie die Untersuchung geführt haben, sehr unzufrieden sind. Obgleich Sie jede Möglichkeit und Vollmacht –«

»Ich möchte nicht, daß die Versammlung erfährt, welche Vollmachten ich erhalten habe«, unterbrach ihn Parr entschieden. »Ebensowenig, welche besonderen Vorrechte mir von dem Herrn Innenminister eingeräumt worden sind.«

Der Premierminister sah ihn erstaunt an.

»Gut. Ich muß aber feststellen, daß es Ihnen trotz alledem nicht gelungen ist, den Verbrecher zu stellen und vor Gericht zu bringen.«

Der Inspektor nickte.

»Es war unsere Absicht, den Fall Mr. Derrick Yale zu übertragen, der bei der Verfolgung zweier Mörder so erfolgreich war, wenn es ihm auch nicht glückte, den Hauptschuldigen zu fassen. Er weigert sich jedoch, den Auftrag zu übernehmen, wenn die Sache nicht unter Ihrer Leitung steht. In freundlicher Weise hat er seine Bereitwilligkeit erklärt, unter Ihnen zu arbeiten, und wir haben zugestimmt. Ich höre, daß Ihr Abschiedsgesuch dem Kommissar bereits vorliegt, und daß ihm formell stattgegeben worden ist. Vorläufig wollen wir diese Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Denken Sie daran, Mr. Parr, daß es vollständig unmöglich ist, der Forderung des Roten Kreises nachzugeben. Das würde einer Verneinung jeden Gesetzes und der Preisgabe jeder Autorität gleichkommen. Wir verlassen uns darauf, daß Sie jedem bedrohten Mitglied der Regierung den Schutz angedeihen lassen, auf das es als Bürger ein Recht hat. Ihre ganze Karriere steht auf dem Spiel.«

Parr, der damit entlassen war, stand langsam auf.

»Wenn der Rote Kreis sein Wort hält, so will ich garantieren, daß keinem Regierungsmitglied in London ein Haar gekrümmt werden soll. Ob ich den Mann fassen kann, der sich ›Roter Kreis‹ nennt, muß ich dahingestellt sein lassen.«

»Es besteht wohl kein Zweifel darüber, daß der unglückliche Heggitt wirklich getötet worden ist«, sagte der Premierminister.

»Man fand ihn schon heute morgen«, erwiderte Yale. »Gestern abend verließ er London mit dem Zuge. Das Verbrechen ist wahrscheinlich unterwegs begangen worden.«

Der Premierminister schüttelte den Kopf.

»Eine Orgie von Mord und Verbrechen! Und wir scheinen noch nicht am Ende angelangt zu sein.«

*

Zweifellos war der Rote Kreis die Sensation des Tages. Überall wurde besprochen, ob die Möglichkeit bestünde, daß er seine Drohungen ausführen könnte.

Thalia Drummond schaute auf, als ihr Chef eintrat. Die Abendzeitung lag vor ihr. Sie hatte Zeile für Zeile und Wort für Wort gelesen.

Derrick bemerkte ihr Interesse und auch ihre Verwirrung, als sie die Zeitung faltete und weglegte.

»Wie denken Sie über die letzte Tat, Miß Drummond?«

»In mancher Beziehung bewundernswert.«

Er schaute sie ernst an.

»Ich wüßte nicht, was man daran bewundern sollte. Sie haben sehr merkwürdige Vorstellungen über diese Dinge.«

»Glauben Sie? Vergessen Sie bitte nicht, Mr. Yale, daß ich überhaupt einen sehr merkwürdigen Charakter habe.«

»Sie dürfen sehr froh sein, daß Mr. Johnson in der Mildred Street Ihre interessanten Mitteilungen nicht mehr erhält«, sagte er und schwieg eine Weile. »Ich werde mein Büro jetzt wahrscheinlich nach dem Polizeipräsidium verlegen«, meinte er dann. »Sie werden dort nicht gedeihen, und ich will Sie deshalb hierlassen, um meine gewöhnlichen Geschäfte zu erledigen.«

»Übernehmen Sie die Verantwortung, den Roten Kreis zu fangen?« fragte sie ruhig.

»Inspektor Parr hat die Leitung – ich arbeite nur unter ihm.«

Er erwähnte seine neue Aufgabe nicht weiter, sondern kümmerte sich um die laufende Korrespondenz. Bevor er zum Lunch ging, gab er ihr Anweisung, wie sie gewisse Briefe beantworten sollte, und sagte, daß er heute nicht mehr zurückkommen würde.

Er war kaum gegangen, als das Telephon klingelte. Thalia ließ beinahe den Hörer fallen, als sie die Stimme erkannte.

»Ja, ich bin es, Mr. Beardmore«, sagte sie. »Guten Morgen.«

»Ist Yale dort?« fragte er.

»Er ist eben weggegangen und kommt heute nicht mehr hierher. Wenn Sie ihm etwas Wichtiges mitzuteilen haben, will ich versuchen, ihn zu erreichen«, erwiderte sie und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

»Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Ich sah heute morgen die Papiere meines Vaters durch – eine recht unangenehme Arbeit – und dabei fand ich mehrere Schriftstücke, die sich auf Marl beziehen.«

»Auf Marl?« fragte sie langsam.

»Ja. Mein Vater wußte anscheinend viel mehr über ihn, als wir annahmen. Ist Ihnen bekannt, daß Marl im Gefängnis war?«

»Nein, aber das hätte ich mir denken können.«

»Mein Vater zog immer erst Erkundigungen ein, bevor er neue Geschäftsverbindungen einging, und ein französisches Auskunftsbüro hat eine Unmenge Informationen über Marls früheres Leben gesammelt. Er muß ein sehr schlechter Mensch gewesen sein. Es wundert mich wirklich, daß mein Vater mit ihm Geschäfte machte. Bei den Papieren ist auch ein Umschlag mit der Überschrift ›Photographie der Hinrichtung‹. Er ist von den Franzosen versiegelt worden, und mein Vater hat ihn anscheinend nicht geöffnet. Er hatte einen Abscheu vor derartig grausigen Dingen.«

»Haben Sie das Kuvert geöffnet?« fragte sie schnell.

»Nein«, erwiderte er erstaunt. »Aber warum fahren Sie mich denn plötzlich so an?«

»Jack, wollen Sie mir einen Gefallen tun?«

Sie nannte ihn zum erstenmal beim Vornamen, und sie glaubte sehen zu können, wie er errötete.

»Gewiß – selbstverständlich, Thalia. Ich tue alles für Sie«, erklärte er bereitwillig.

»Dann öffnen Sie bitte den Umschlag nicht«, bat sie eindringlich. »Und verwahren Sie alle Papiere, die sich auf Marl beziehen, an einem sicheren Platz. Wollen Sie mir das versprechen?«

»Ja.«

»Haben Sie schon mit jemand darüber gesprochen?«

»An Inspektor Parr habe ich ein paar Zeilen geschickt.«

Er hörte einen ärgerlichen Ausruf.

»Bitte, schweigen Sie auch über die Photographie.«

»Natürlich, Thalia. Wenn Sie wollen, schicke ich sie Ihnen.«

»Nein, nein, tun Sie das nicht.« Damit brach sie die Unterhaltung ab.

Sie blieb eine Weile sitzen und atmete schwer. Dann kämpfte sie ihre Erregung nieder, setzte ihren Hut auf und ging auch zum Lunch.


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