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Mr. Brabazon saß in einem der oberen Räume des Hauses am Flusse und aß ein großes Stück Brot, das mit Käse belegt war. Er trug noch immer den Frack, den er gerade anhatte, als ihn die Warnung erreichte. Aber er sah jetzt beschmutzt und staubig aus, und sein weißes Hemd war grau geworden; den Kragen hatte er abgenommen, und ein wilder Stoppelbart trug noch mehr zu seinem wenig sympathischen Äußeren bei.
Er beendete seine Mahlzeit, öffnete das Fenster vorsichtig und warf ein paar Brotkrumen hinaus. Dann stieg er durch die Falltür die Treppe hinunter und ging nach der großen Küche im hinteren Teil des Hauses. Er hatte weder Seife noch Handtuch, aber er machte einen Versuch, sich ohne deren Hilfe zu waschen. Er benutzte dazu eins der beiden Taschentücher, die er auf seiner Flucht bei sich hatte. Er war in keiner Weise für dieses Abenteuer ausgerüstet.
Die Vorräte, die ihm der geheimnisvolle Mann an seinen Zufluchtsort gebracht hatte, waren beinahe aufgezehrt, und seine Nerven waren vollkommen zerrüttet. Tiefe Furchen hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Er hatte eine Woche in diesem verlassenen Haus leben müssen, und er wußte, daß er von der Polizei verfolgt wurde.
Als die Detektive die Räumlichkeiten durchsuchten, hatte er sich in eine Ecke hinter der Tür gekauert, die zu dem Dachboden führte. Die Erinnerung an Derrick Yales Besuch lastete wie ein Alpdruck auf ihm.
Er setzte sich auf den alten Stuhl, den er im Hause gefunden hatte, um noch eine weitere Nacht hier zu verbringen. Der Mann, der ihn damals gewarnt hatte, mußte bald wiederkommen und ihm neue Nahrungsmittel bringen.
Endlich drehte sich der Schlüssel im Schloß, und Brabazon sprang schnell auf. Auf Zehenspitzen schlich er zur Falltür und hob sie auf. Gleich darauf hörte er die schallende Stimme des Unbekannten.
»Kommen Sie herunter«, sagte der Mann.
Brabazon gehorchte.
Die frühere Unterredung hatte im Gang stattgefunden, wo die Dunkelheit am undurchdringlichsten war. Er hatte sich bereits an die Finsternis gewöhnt und stieg die wacklige Treppe ohne Unfall hinunter.
»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind«, befahl die Stimme. »Ich habe Ihnen Lebensmittel und Kleider mitgebracht. Sie finden alles, was Sie brauchen. Rasieren Sie sich, damit Sie anständig aussehen.«
»Wohin soll ich denn gehen?«
»Ich habe für Sie Passage auf einem Dampfer belegt, der morgen vom Victoria-Dock nach Neuseeland fährt. Ihren Paß und die Fahrkarte finden Sie in der Ledertasche. Hören Sie jetzt zu. Ihren Schnurrbart lassen Sie stehen, aber die Augenbrauen rasieren Sie ab, denn die machen Ihr Gesicht auffällig.«
Brabazon fragte sich, wann dieser Mann ihn wohl gesehen haben mochte. Mechanisch hob er die Hand an die Brauen. Der geheimnisvolle Besucher hatte recht.
»Geld habe ich Ihnen nicht mitgebracht. Sie haben sechzigtausend Pfund von Marl – Sie schlossen sein Konto und fälschten seinen Namen in der Erwartung, daß ich mit ihm abrechnen würde – was ich auch tat.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin der Rote Kreis. Aber warum stellen Sie diese Frage? Sie haben mich doch schon früher getroffen.«
»Ja, selbstverständlich. Ich glaube, dieser Platz hier macht mich verrückt. Wann kann ich das Haus verlassen?«
»Morgen. Warten Sie bis zum Einbruch der Dunkelheit. Ihr Schiff fährt am folgenden Tag ab, aber Sie können schon morgen an Bord gehen.«
»Aber man wird das Schiff beobachten – glauben Sie nicht, daß es zu gefährlich ist?«
»Für Sie besteht keine Gefahr. Geben Sie mir Ihr Geld.«
»Mein Geld?« fragte der Bankier erstaunt und wurde bleich.
»Geben Sie mir Ihr Geld.« Die Stimme hatte jetzt einen drohenden Klang.
Brabazon gehorchte zitternd, und zwei große Bündel gingen in die Hand des Fremden über.
»Hier, nehmen Sie das«, sagte er dann.
»Das« war ein viel dünneres Päckchen Banknoten, und das Knistern der Scheine verriet dem Bankier sofort, daß es sich um neue handelte.
»Sie können sie umwechseln, wenn Sie im Ausland sind.«
»Könnte ich nicht schon heute abend gehen?« Brabazons Zähne klapperten vor Furcht. »Ich werde hier wirklich verrückt!«
»Wenn Sie wollen«, erwiderte der Fremde nach kurzer Überlegung. »Aber Sie müssen bedenken, daß es gefährlich für Sie ist. Gehen Sie jetzt wieder nach oben.«
Der Befehl klang streng und bestimmt, und Brabazon erfüllte ihn schweigend.
Er hörte, wie sich die Tür schloß, und als er durch die staubigen Fenster schaute, sah er einen dunklen Schatten in der Finsternis verschwinden.
Nun suchte er nach der Ledertasche, die der Mann zurückgelassen hatte, und trug sie in die Küche. Hier konnte er ohne Furcht vor Entdeckung Licht machen. Er brannte ein Kerzenende an, das er bei der Durchsuchung des Hauses gefunden hatte.
Der Fremde hatte nicht übertrieben, als er sagte, daß die Handtasche alles enthielte, was Brabazon brauchte. Der erste Gedanke Brabazons war es, das Geld zu untersuchen, das ihm in die Hand gedrückt worden war. Es handelte sich um Banknoten verschiedener Serien und Nummern. Seine eigenen liefen in einer Serie und waren auch neu. Er schaute sie verwundert an. Neue Banknoten wurden nicht ohne weiteres ausgegeben. Schließlich erriet er, warum ihm der Fremde die Scheine gegeben hatte. Der Rote Kreis hatte sie von jemand erpreßt und verlangt, daß sie nicht fortlaufende Nummern haben dürften. Er legte das Geld nieder und kleidete sich um.
Als er eine Stunde später durch die Gartenpforte schritt, sah er sehr schmuck aus. Die abrasierten Augenbrauen veränderten sein Gesicht derart, daß er am gleichen Abend von einem Kriminalbeamten nicht erkannt wurde, der auf der Suche nach ihm war.
Er nahm in der Nähe des Euston-Bahnhofes ein kleines Hotelzimmer und ging zu Bett. Das war seit einer Woche die erste Nacht ungestörten Schlafes.
Da er sich bei Tageslicht nicht auf der Straße zu zeigen wagte, verbrachte er den nächsten Tag auf seinem Zimmer. Auch die Abendmahlzeit nahm er dort ein. Aber dann ging er aus, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Sein Vertrauen wuchs, und er war jetzt eigentlich davon überzeugt, daß er der Kontrolle auf dem Schiff entgehen würde. Er wählte weniger belebte Straßen. Als er am Museum vorbeiging, sah er plötzlich eine neu angebrachte Bekanntmachung. Er blieb stehen, um sie zu lesen.
Und während er las, reifte ein Gedanke in ihm. Zehntausend Pfund und Straffreiheit! Es war noch gar nicht sicher, daß es ihm am nächsten Morgen gelingen würde zu entfliehen. Im Gegenteil, es war viel wahrscheinlicher, daß man ihn entdecken würde. Zehntausend Pfund und die Freiheit! Und niemand wußte etwas von dem Gelde, um das er Marls Erben betrogen hatte. Am Morgen wollte er es in einem Safe unterbringen und wollte sofort zum Polizeipräsidium gehen, um dort Angaben zu machen, die zur Vernichtung des Roten Kreises führen würden.
»Ich werde es tun«, sagte er laut.
»Ich glaube, das wäre äußerst vernünftig.«
Brabazon fuhr herum, als er den Klang dieser Stimme hörte.
Ein kleiner, untersetzter Mann war ihm geräuschlos auf Gummisohlen gefolgt. Der Bankier erkannte ihn sofort.
»Inspektor Parr!« stammelte er.
»Ganz richtig. Wollen Sie etwas mit mir spazierengehen, oder wollen Sie Schwierigkeiten machen?«
Als sie in die Polizeiwache traten, kam gerade eine Frau heraus, aber Brabazon erkannte seine frühere Angestellte nicht. Er stand hinter dem Eisengeländer, während seine Verfehlungen in der kalten Beamtensprache des Haftbefehls aufgezählt wurden.
»Sie können sich viele Unannehmlichkeiten ersparen, wenn Sie mir die Wahrheit sagen«, ermahnte ihn Inspektor Parr. »Ich weiß, in welchem Hotel Sie wohnen, und daß Sie auf der ›Itinga‹, die morgen früh abfährt, Passage belegt haben.«
»Großer Gott!« rief Brabazon erstaunt. »Woher wissen Sie denn das alles?«
Darüber gab ihm der Inspektor jedoch keine Auskunft.
Brabazon hatte nicht die Absicht zu lügen. Er erzählte alles, was er wußte, und zwar von dem Augenblick an, in dem er telephonisch gewarnt wurde.
»Sie waren also die ganze Zeit im Hause?« fragte Parr nachdenklich. »Wie ist es Ihnen denn gelungen, Mr. Yale zu entgehen, als er das Haus durchsuchte?«
»Oh, war das Yale? Ich dachte, Sie wären es gewesen. Ich versteckte mich hinter einer Tür, aber ich bin vor Schreck fast gestorben.«
»Also hatte Yale wieder einmal recht, denn Sie waren wirklich dort«, sagte der Inspektor wie zu sich selbst. »Was wollen Sie nun tun?«
»Ich möchte Ihnen alles erzählen, was ich über den Roten Kreis weiß. Ich glaube, daß meine Angaben zur Festnahme des Mannes führen werden. Aber Sie müssen schlau sein. Ich sagte Ihnen schon, daß er meine Banknoten mit den seinen vertauschte. Das tat er, weil er befürchtete, die Nummern wären notiert. Aber meine Banknoten sind alle von einer Serie – E. 19, und ich kann Ihnen jede Nummer angeben. Er würde nie wagen, seine Noten einzuwechseln.«
»Ich glaube, das war Froyants Geld«, meinte Parr. »Aber fahren Sie nur fort.«
»Das konnte er nicht wagen umzuwechseln; aber meins will er wechseln. Sehen Sie ein, welche Gelegenheit Ihnen hier geboten wird?«
Der Inspektor zweifelte. Aber trotzdem rief er Froyant an, nachdem Brabazon in eine Zelle eingeschlossen war. Er erzählte ihm, was geschehen war, allerdings nur soviel, wie dieser Mann zu wissen brauchte.
»Sie haben das Geld?« fragte Froyant gierig. »Kommen Sie sofort zu mir.«
»Ich will es Ihnen gern bringen, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß es nicht Ihr Geld ist, obgleich es tatsächlich die Banknoten sind, die durch Sie in die Hände des Roten Kreises gekommen sind.«
Später erklärte er Mr. Froyant persönlich die Lage. Der hagere Mann versuchte nicht, seine Enttäuschung zu verbergen. Er war der Meinung, daß er das Geld beanspruchen konnte, ganz gleich, unter welchen Umständen man es auch wiedererlangt hätte. Schließlich überzeugte ihn aber Mr. Parr.
»Haben Sie die Nummern der Banknoten, die Brabazon ihm gab?« fragte Froyant plötzlich.
»An die erinnere ich mich leicht, sie gehören einer Serie an.« Er nannte die Nummern, und Mr. Froyant machte sich Notizen auf seiner Schreibunterlage.