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26

Harvey Froyant verließ sich auf keinen Menschen. Auch seinem Rechtsanwalt traute er nur bis zu einem gewissen Grade, denn dessen Verbindung mit fragwürdigen Leuten war bekannt genug.

Zwei Abende nach dem Attentat auf Inspektor Parr sprach der kleine Rechtsanwalt bei seinem Klienten vor. Er zitterte vor Aufregung, denn er hatte eine der neuen Banknoten aufgespürt, die der Rote Kreis von Brabazon genommen hatte.

»Nun haben wir eine gute Grundlage, auf der wir arbeiten können«, sagte er eifrig. »Wenn wir in dieser Richtung fortfahren, finden wir bald den Mann heraus, der sie zuerst wechselte.«

Aber hierzu war Mr. Froyant nicht zu bewegen. Die Weiterbearbeitung dieser Angelegenheit konnte und wollte er nicht vollständig in die Hände dieses Mannes legen. Den Anfang konnte die Firma machen, aber alles übrige wollte er auf eine andere Art und Weise erledigen. Das sagte er auch mit wenigen Worten.

»Es tut mir leid, daß Sie mich nicht weiterarbeiten lassen wollen«, erwiderte Heggitt enttäuscht. »Ich habe diese Nachforschungen persönlich angestellt, und ich kann Ihnen versichern, daß zwischen dem Mann, den wir entdeckt haben, und dem Gesuchten nur noch wenige Schritte liegen.«

Harvey Froyant wußte das ebensogut wie der Anwalt.

Jack Beardmore hatte die Wahrheit gesprochen, als er sagte, daß sich dieser geizige Mann nicht eher zufriedengeben würde, als bis er wieder im Besitz des verlorenen Geldes war. Dieser Verlust quälte ihn und reizte ihn immer wieder aufs neue auf. Nachts hinderten ihn die Gedanken daran am Schlafen, und tagsüber lief er verzweifelt herum.

Aber nachdem der Boden nun geebnet war, konnte Froyant die Nachforschungen selbst zu Ende führen. Er hatte sein Vermögen erworben, indem er in allen Erdteilen Grundstücke kaufte und verkaufte, und er hatte es nicht dadurch erreicht, daß er im Büro saß und sich auf seine Untergebenen verließ. Lange Reisen, mühevolle Nachforschungen, rücksichtsloses Eindringen in die persönlichen Verhältnisse der Geschäftsleute waren nötig gewesen. Er hatte, ohne es zu wissen, ähnlich gearbeitet wie James Beardmore.

Mit größtem Eifer nahm er nun die Angelegenheit auf, aber weder Parr noch Yale erfuhren das Geringste über seine Absichten.

Wie Heggitt gesagt hatte, war es ziemlich leicht, die Spur der Banknoten an drei Stellen zu finden. Die Nachforschungen führten Mr. Froyant erst in eine Wechselstube am Strand, dann in ein Reisebüro und schließlich zu einer sehr angesehenen Bank. Er hatte dabei großes Glück, denn es handelte sich um die Zweigstelle einer Bank, die seine Geschäfte erledigte.

Drei Tage lang forschte er, stellte Fragen und durchsuchte Bücher – wozu er kein Recht hatte. Dann kam er langsam, aber sicher zu einem Entschluß. Er gab sich auch nicht damit zufrieden, den ursprünglichen Wechsler des Geldes herausgefunden zu haben. Nicht einmal der Geschäftsführer der Bank, der es ihm ermöglichte, die einzelnen Konten durchzusehen, wußte, welches Ziel er verfolgte, oder gegen wen sich die Nachforschungen richteten.

An einem der nächsten Tage fuhr Froyant nach Frankreich. In Paris hielt er sich nur zwei Stunden auf und reiste nachts nach dem Süden weiter. Um neun Uhr morgens erreichte er dann Toulouse. Hier hatte er wieder Glück, denn einer der höheren städtischen Beamten war früher bei einem Grundstücksankauf sein Agent gewesen.

Monsieur Brassard hieß ihn herzlich willkommen, und Mr. Froyant schrieb das dem Umstand zu, daß sein früherer Agent glaubte, ein neues Geschäft stünde in Aussicht. Dies schien auch tatsächlich der Fall zu sein, denn sobald der Mann den eigentlichen Grund des Besuches erführ, ließ seine Begeisterung nach.

»Ich gebe mich mit solchen Sachen nicht ab«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Obgleich ich Rechtsanwalt bin, mein lieber Froyant, habe ich mit Strafsachen nichts zu tun. An Marl erinnere ich mich sehr gut – an Marl und an einen anderen Engländer.«

»Einen gewissen Lightman?«

»Ja, so heißt der Kerl. Großer Gott, ja!« Sein Gesicht zeigte einen widerwilligen Ausdruck. »Es ist ja eine allgemein bekannte Geschichte. Das waren Schufte, diese beiden! Der eine erschoß den Kassierer und den Nachtwächter der Bank in Nimes; außerdem brachte man sie noch in Zusammenhang mit zwei Morden, die hier in Toulouse verübt wurden. Ich erinnere mich sehr gut, und dann – der entsetzliche Zwischenfall!«

»Welcher entsetzliche Zwischenfall?« fragte Mr. Froyant neugierig.

»Als Lightman zur Hinrichtung geführt wurde. Ich glaube, die Henker waren betrunken, denn das Fallbeil funktionierte nicht. Zweimal – dreimal fiel es nieder, berührte aber nur seinen Nacken. Als sich dann die empörten Zuschauer einmischten – die Franzosen sind doch bekanntlich leicht erregbar –, wäre es zum Aufruhr gekommen, wenn man den Gefangenen nicht ins Gefängnis zurückgeführt hätte. Der Rote Kreis entging dem Messer.«

Mr. Froyant, der gerade eine Tasse Kaffee trank, sprang auf und warf dabei die Tasse um.

»Wer?« rief er.

Monsieur Brassard schaute ihn verblüfft an.

»Was ist denn los?«

»Der Rote Kreis! Was wollten Sie damit sagen?« Froyant zitterte vor Aufregung.

»Lightman hieß so«, erwiderte Brassard, der die Situation nicht verstehen konnte. »Das war sein allgemein bekannter Name. Aber mein Angestellter wird mehr darüber wissen. Er interessierte sich damals besonders für diesen Fall.«

Er klingelte, und ein älterer Mann trat ein.

»Können Sie sich noch an den Roten Kreis erinnern, Jules?«

Der Schreiber nickte.

»Sehr gut. Ich war bei der Hinrichtung dabei. Es war einfach schrecklich!«

»Warum wurde er der Rote Kreis genannt?«

»Um seinen Hals lief ein roter Kreis. Lange vor seiner Hinrichtung hieß es schon, daß kein Messer ihn berühren würde, denn solche Male sollen wie ein Zauber wirken. Ich glaube, es war ein Geburtsmal. Auf dem Weg zur Hinrichtung traf ich viele Leute, die davon überzeugt waren, daß er nicht sterben würde. Wenn sie ebenso sicher prophezeit hätten, daß der Henker und seine Gehilfen betrunken sein und die Guillotine schlecht aufstellen würden, hätten sie meiner Meinung nach mehr Verstand bewiesen.«

Mr. Froyant atmete schnell. Nach und nach wurde die Wahrheit offenbar, und er sah jetzt alles klar vor sich.

»Was geschah denn nachher mit dem Roten Kreis?« fragte er.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Jules achselzuckend. »Er wurde nach einer Insel deportiert. Marl ließ man frei, weil er Zeuge für die Staatsanwaltschaft geworden war. Vor einiger Zeit hörte ich, daß Lightman entflohen sei, aber ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt.«

Lightman war entflohen, wie Froyant bereits erraten hatte. Froyant suchte den ganzen Tag fieberhaft nach Dokumenten, besuchte den Staatsanwalt und sah im Büro des Gefängnisdirektors stundenlang Photographien an.

Abends ging er mit einem Gefühl tiefer Genugtuung zu Bett. Er hatte Erfolg gehabt in einem Fall, den nicht einmal die tüchtigste Polizei hatte aufklären können. Das Geheimnis des Roten Kreises hatte aufgehört, ein Geheimnis zu sein.


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