Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX.

Die ganze Häuslichkeit von Allensteins trug den Stempel der Trauer. Es war, als läge selbst auf den bunten Smyrna-Imitationen der Treppenläufer und dem roten Sammetpolster des Geländers ein unsichtbarer Flor. Die Patienten dämpften unwillkürlich die Stimmen, wenn sie der Diener mit langgezogenem Gesicht einließ.

Der sonst so häufige Besuch wurde nicht angenommen. »Frau Doktor bedauern, Frau Doktor sind leidend!«

In Trauercrêpe gehüllt, lag Susanne auf ihrer Chaiselongue. Sie wollte von der Welt nichts sehen noch hören; die Jalousien waren herabgelassen, kein Laut von außen drang in die Stille des Gemachs. Sie lebte ganz ihrem Schmerz.

Allenstein wurde es recht schwer, sein Gesicht immer in die gleichen, traurigen Falten zu legen. Nicht, daß der Doktor den Schwager nicht herzlich betrauert hätte, aber er war der sogenannte » bel homme«, diese gewisse herabgezogene Falte längs der Nase paßte schlecht zu seinem blondbärtigen Siegfriedgesicht.

Onkel Hermann war noch immer in Berlin. Er hatte der Schwester gnädig erlaubt, zum Begräbnis herzukommen; nun war er sehr ungnädig, sie konnte nicht kommen, sie war auf der Kellertreppe ausgeglitten und hatte sich den Fuß verstaucht. Sie schickte nur an Lena einen selbstgewundenen Kranz; all ihre Blumen hatte sie abgeschnitten, selbst die letzte blasse Rosenblüte von ihrem Stöckchen am Fenster. Ein Zettel lag dabei: »Die Liebe höret nimmer auf.« Den bewahrte Lena.

Es waren acht Tage her, seit man ihn zur Ruhe bestattet, draußen, weit draußen auf dem Kirchhof im flachen, öden Feld. In den Nächten fiel noch zuweilen Flatterschnee, aber an den Tagen leckten gierige Sonnenstrahlen das Naß auf, und aus dunklen Ackerfurchen hob sich jubelnd die erste Lerche.

Lena wollte nicht zur Mutter ziehen, sie wohnte noch allein in der Elsholzstraße; auch nachts wünschte sie niemanden bei sich zu haben. Sie bestand eigensinnig auf ihrem Willen. »Ich bin nicht allein«, sagte sie. Nein, das war sie auch nicht! In der Nacht stieg die Vergangenheit aus dem Grab und schmiegte sich an ihre Seite; und unterm Herzen regte sich ihr etwas, das ihre ganze Zukunft bedeutete, eine trübe, bange, aber doch immer eine Zukunft.

Frau Langen war einigermaßen gekränkt durch das Benehmen der Tochter, aber sie konnte ihr nicht zürnen. Sie weinte immerfort, sie war selbst so trost- und hilfsbedürftig, daß sie niemandem Stütze sein konnte; sie fühlte das auch wohl, wenn sie sagte: »Ach, daß dein Bruder hier wäre! Ach, wenn Fritz da wäre!«

Der Landgerichtsrat hatte sofort an die Schwester geschrieben, Frau Amalie den herrlichsten Kranz geschickt. Warum starrte Lena nur so düster auf den Brief mit sehnsüchtigen, verlangenden Augen? Mehr Liebe, mehr Liebe hätte sie gewünscht; es verlangte sie ganz besonders danach. Wunderbar, daß sie gerade jetzt im tiefsten Leid an den Kummer ihrer Kinderjahre denken mußte, in denen sie jede kindische Betrübnis am Herzen des großen Bruders ausgeweint. Ach, noch einmal, noch einmal den Kopf unter seinem Rock verbergen, sich da verstecken und geborgen fühlen!

Die Zeiten waren vorbei! –

Allein stieg Lena die Treppe zu Allensteins empor. Die Mutter hatte ihr angeboten, mitzukommen. »Laß nur,« hatte ihr die junge Witwe erwidert, »es ist sehr gut von dir, aber du kannst mir nicht helfen. Es sind seine Verwandten; ich werde mich schon mit ihnen verständigen.« Mit fliegender Röte auf dem blassen Gesicht setzte sie hinzu: »Um seines Kindes willen!«

Die Zukunft sollte besprochen, die Verhältnisse mußten geordnet werden; dazu hatte man diese Stunde anberaumt.

Wie ein Schatten, in schwarzer Silhouette, hohläugig, düster, glitt die Einsame die Stufen hinauf; der mühsame Tritt verriet das schwer beladene Menschenkind. Mitunter rastete sie einen Augenblick und preßte unter dem langen Crêpeschleier die Hand aufs Herz. Hier war sie lange nicht gegangen, und auch früher nur selten, und immer mit ihm; allein nie.

Sie lehnte sich, schwer atmend, fest gegen das Geländer – warum mußte sie nur so sehr an jenes erstemal denken?! Da war sie das erste und einzige Mal allein hier hinaufgegangen, auch Angst im Herzen, aber sie flog die Stufen hinan mit ungeduldigem, elastischem Mädchentritt – und herunter kam sie, von ihm geleitet, von seinem Arm umschlungen. Hier in der Nische war's – hier hatte er sie ans Herz gedrückt, und sie hatte an seinen Lippen gehangen in namenlosem, hoffnungsseligem Entzücken.

Vorbei – Hoffnung wie Entzücken längst vorbei!

Ohne ihn!

Der Diener, der Frau Bredenhofer oben einließ, verzog das sonst so wohlgeschulte Gesicht mitleidig; die ganze Dressur verließ ihn, als er ihr nachblickte, wie sie im Zimmer verschwand. Er fuhr sich mit dem Handrücken über Nase und Augen.

Drinnen im Salon saßen Allensteins und Onkel Hermann; Susanne auf dem Sofa, rechts und links vom Sofa die beiden Herren; sie erhoben sich alle drei, als die Trauergestalt eintrat.

Susanne schloß die Witwe ihres Bruders in die Arme: »Meine liebe Lena, lege ab und nimm hier neben mir Platz! Wie angegriffen du aussiehst! Ja, ich kann mir denken, wie dir zumute ist, wenn ich meinen eigenen Schmerz ermesse! – Du willst nicht ablegen?« fragte sie verwundert, als Lena nur den Schleier zurückschlug und ihren Trauerschal fester um sich zog.

»Mich friert«, sagte die junge Frau tonlos und sah um sich mit so verirrten, abwesenden Augen, daß Onkel Hermann unwillkürlich nach dem Taschentuch fuhr.

»Na, Frau Nichte,« brachte er nach einem kräftigen Schneuzen hervor und legte die aus gebreitete Hand vor sie auf den Tisch, »seien Sie man nicht so betrübt! Es wird sich schon alles machen, Sie sind ja noch jung! Und wenn der Junge erst da ist, dann lachen Sie auch wieder – wetten?«

»Wie gedenkst du dir dein Leben einzurichten, liebe Lena?« unterbrach Frau Allenstein den Onkel. »Karl, ich bitte dich laß mich reden, du machst mich ganz nervös!«

Der Doktor hatte den Mund nicht aufgetan.

»Also, liebe Lena, was denkst du? Wir haben uns schon überlegt, es ist das beste, du gibst die Wohnung so bald als möglich auf – Todesfall löst ja den Kontrakt – und ziehst zu deiner Mutter.«

Die Witwe gab keinen Laut von sich, sie blickte immer in ihren Schoß.

»Nun, du antwortest ja gar nicht,« klang Frau Allensteins spitze Stimme, »ist dir der Vorschlag nicht recht? Ich bitte dich, äußere deine Pläne ganz unverhohlen; wir sind jederzeit bereit, auf dieselben einzugehen. Nun?«

»Ich habe noch keine Pläne«, antwortete sie mit tonloser Stimme wie vorhin. »Aber ich kann ja zu meiner Mutter ziehn.«

»Sehr verständig«, die Schwägerin nickte befriedigt. »Es ist ja natürlich viel vorteilhafter, die ganzen Kosten für einen zweiten Haushalt werden gespart. Mein Gott, es ist schrecklich«, – sie seufzte und hielt das feine Taschentuch für Momente an die Augen – »daß man darüber sprechen muß! Aber unser teurer, guter, geliebter Richard hat so wenig hinterlassen; so gut wie gar nichts!«

Eine tiefe Röte flog über das todblasse Gesicht der jungen Frau. »Ich werde Gesang- und Klavierstunden geben«, brachte sie mühsam heraus.

»Sehr verständig, liebe Lena –«

»Na, erlaube mal, Susanne,« unterbrach der alte Bredenhofer barsch, »was du für verständig hältst, finde ich noch lange nicht so. Du denkst wohl, weil du hier in diesem Berlin wohnst, bist du neunmal klug! Na!« Er schnalzte mit der Zunge und wiegte den dicken Kopf hin und her. »Die richtige Ansicht ist, und meine ist es dazu, die junge Frau hier muß erst rote Backen kriegen und wieder Blut in den Leib. Ist das 'ne Verfassung, um 'nen gesunden, strammen Jungen in die Welt zu setzen? Und ich will, daß mein Patenkind ein Bube wird, vor dem die Leute stillstehen. Ich hinterlaß ihm mal mein Gut, das ist ein ganz netter Posten. Da muß er vorerst mit den Bauernbengels raufen, und ich muß ihm mitunter eine Geschichte erzählen. Weibererziehung ist für die Katze; ein strammer Junge muß unter männliche Zucht.«

Onkel Hermann sah sich mit rollenden Augen triumphierend um; dann trübte sich plötzlich sein Blick, er wollte nach dem Taschentuch greifen und suchte ungeschickt nach seiner hinteren Rocktasche.

»Verdammt, wo ist denn – ach, mein armer Richard, wenn der ihn hätte sehen können! Der arme, arme Junge, hat so früh sterben müssen! Es ist 'ne Niedertracht, eine – nichts wie Undank, schnöder Undank – armer Junge –!« Er brach mit einem Schlucken ab.

Nachdem er umständlich das endlich gefundene Taschentuch benutzt hatte, legte er wieder die ausgebreitete Hand auf den Tisch. »Was, Frau Nichte, das ist eine Idee? Sie kommen nach Althöfchen, und ich erziehe ein Musterexemplar von einem Jungen. Schlagen Sie ein, Frau Nichte!«

Lena schien zu schaudern und zog ihr Tuch krampfhaft um sich. Wie hilfesuchend glitt ihr verlorener Blick an den Wänden entlang. Dies junge, blasse Frauengesicht mit dem schmerzlichen Mund war ein erbärmlicher Anblick.

Doktor Allenstein rückte auf seinem Platz hin und her, er zwinkerte mit den Augen, als habe sich in ihr schönes, klares Blau etwas Unangenehmes hinein verirrt. »Gestatte, lieber Onkel«, sagte er und legte dem Eifrigen die wohlgepflegte Hand mit den sorgsam polierten Nägeln – sie war weiß und weich wie eine Frauenhand – auf den Rockärmel. »Gestatte mir als Arzt auch ein Wort! Meine liebenswürdige Schwägerin hat bisher ja viel Fassung und Haltung bewiesen, daß ich überzeugt bin, sie wird auch fernerhin ihrer Aufgabe gewachsen sein; ich –«

»Karl, laß uns nur –«

Er beachtete diesmal seine Frau gar nicht; unentwegt sprach er weiter, dabei den glänzenden Bart streichend. »Ich kann es jedenfalls als Arzt nicht zugeben, daß eine Frau zu dieser Zeit, bei einer solchen Umwälzung, wie sie sich mit ihrer ganzen Konstitution vollzieht, auch vollständig die gewohnte Lebensweise verändert. Sie muß unbedingt in den alten Verhältnissen bleiben, jede Neuerung muß ihr tunlichst ferngehalten werden; das ist das erste Erfordernis, das nötigste Bedingnis für die Geburt eines normalen, lebensfähigen Kindes. Sie muß hierbleiben, leben, wie sie will!«

Ein erlöstes »Ah« wollte sich über Lenas Lippen drängen; sie lockerte die krampfhaft ineinandergekrallten Hände und sah Allenstein dankbar an.

Der Alte wurde unsicher. »Na, denn – freilich, wenn du meinst – schade, schade! Was meinst du, Susanne?« Er sah die Nichte erwartungsvoll an.

»Ich meine gar nichts.« Frau Allenstein zuckte die Achseln.

»Na – denn nicht –!« Onkel Hermann sprach recht lang gezogen, man merkte es ihm an, wie schwer es ihm wurde, seinen Plan aufzugeben. »Aber das sag' ich, mit dem Stundengeben und Abrackern ist das nichts! Sie kriegen alle Monat ihr Festes; was braucht denn so 'ne alleinstehende Frau groß?! Der Richard soll sich nicht noch im Grabe umdrehen und sagen, daß seine Verwandten seine Witwe im Stich lassen. Nee! Ich halte die Hand drüber. Und ob sie nu hier in Berlin wohnt oder in Althöfchen – meine Sache. Sie können alle Woche frische Eier kriegen, Frau Nichte, und Sahnenbutter; Berlin ist nicht aus der Welt. Ich leite das Ganze, punktum!«

Unwillkürlich fuhr ein Ruck durch Lenas Glieder, sie wollte aufspringen, die Hände ballen, gellend schreien: »Behaltet eure Wohltaten, ich will sie nicht!« Wie durch eine dicke, undurchdringliche Wand hörte sie eine matte Stimme herüberklingen: »Daß du so krank geworden« – und dann, noch matter, noch ersterbender: »Sie lassen mich nicht ruhn –!«

Das junge Weib bäumte sich. »Ihr habt uns nie allein gelassen, uns beide; laßt wenigstens mich allein!«

Hatte sie's geschrien? Nein. Ihre Lippen preßten sich fest ineinander. Sie neigte den Kopf, tief, wie eine demütige Blume; eine Stimme sprach in ihr: »Um des Kindes willen!« – –

Und nun redeten sie noch mancherlei.

Onkel Hermann konnte es nicht lassen, von dem Jungen zu phantasieren; er war in einer sehr weichen Stimmung. Dabei sprach er polternd und fuhr der jungen Witwe mit seiner breiten Hand ums Kinn und streichelte ihr die zarten Finger. »Richard soll er heißen, was? Ich will ja gar nicht, daß er Hermann heißt – nein, nach seinem Vater! Ach, mein guter, mein lieber Richard! Wie ein Sohn ist er mir gewesen, und ich immer wie sein Vater! Schicken Sie mir man alle Rechnungen zu, Frau Nichte, ich komme für den Rummel auf. Ach, ach, ach!« Er stieß fette Seufzer aus und benutzte eifrig das rot und gelb Gepunktete.

Frau Susanne war auch sehr liebevoll. Sie weinte und klagte über ihre Nerven, drückte die Hand der Schwägerin und behielt sie in der ihren; wie Klammern preßten die feuchten, kalten, nervösen Frauenfinger. Sie sagte: »Meine liebe Lena, tröste dich«, und dann weinte sie wieder und klagte.

Es war schon eine lange Zeit vergangen. Es wurde Lena allmählich heiß in ihrem Tuch, aber sie mochte es nicht ablegen; sie fühlte sich hier nicht daheim. Würde sie denn noch nicht gehen können? Eine unsagbare Bangigkeit kam über sie.

»Richard«, stöhnte sie plötzlich und legte den Kopf auf den Tisch.

Sie waren wirklich sehr nett zu ihr; sie streichelten sie und sprachen davon, immer über ihr zu wachen. Onkel Hermann machte den Vorschlag, sie morgen in der Droschke abzuholen und mit ihr auf den Kirchhof zu fahren; da wollten sie nebenan bei dem Grabsteinmetzen ein schönes Kreuz für Richard bestellen.

Sie schüttelte stumm verneinend den Kopf; es stieß ihr das Herz ab. »Sie könne jetzt nicht hinfahren«, sagte sie stockend. –

Endlich konnte sich Lena verabschieden. Endlich schlich sie über die Straße.

Endlich war sie wieder allein – allein!

Der frühe Lenzsonnenschein glänzte auf dem Pflaster, geputzte Mütter mit geputzten Kindern trippelten vorüber. An den Ecken, in den Körben der Händler, Anemonen und tiefblaue Veilchen. Schirpende Sperlinge bei den Droschkenhalteplätzen. Und die Luft so lind, so wehmütig weich; schmeichelnd koste sie um die schwarze Gestalt.

Eine ungeheure Sehnsucht krampfte Lenas Herz zusammen. Sie winkte der nächsten Droschke und ließ sich hinaus zum Kirchhof fahren. Sie mußte die Sehnsucht stillen.

Durch endlose Straßen fuhr sie dahin, holperte über Pferdebahngeleise, durch Lärm und Getriebe. Sie merkte nichts von alledem. Vor ihr her jagte die Sehnsucht und sah sie an mit grabesdunklen, verlangenden Augen.

Endlich die letzten Häuser. Jetzt kam ödes Feld, und da war die Kirchhofsmauer. Klirrend sprang die Gitterpforte auf.

»Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig
und beladen seid, ich will euch erquicken!«

stand über dem Eingang.

Lena hob den Blick und las die in goldenen Lettern blinkenden Worte.

Die Sonne beglänzte noch den Kiesweg, der Buchsbaum zu den Seiten fing an, neu zu grünen. Aber kein schützender Baum stand über den Gräbern; den Winterwinden preisgegeben, der Sonnenglut ausgesetzt, lagen diese Beete im Garten des Todes.

Jetzt war die Luft mild und still; fern sang ein Vogel. Die Einsame atmete tief auf und schlug den Schleier zurück; schwerfällig schritt sie weiter. Schon viele, viele Reihen – da, sein Grab!

Die Kränze waren fast frisch und unverwelkt; weiße Rosen und Palmen und Lorbeeren, wie er sie im Leben nicht gepflückt. Die Augen zudrückend, die Arme weit ausgebreitet, sank das junge Weib langsam nieder in die Knie. –

Ein zarter Dämmerschein lag auf dem öden Feld, als Lena den Kirchhof verließ. Die Sonne beglänzte nicht mehr den Kiesweg, aber golden schimmerten noch die Worte über der Pforte.

»Mühselig und beladen« – ja, das war sie! Die Trauernde nickte, dann schüttelte sie schwermütig den bleichen Kopf – »erquickt« erquickt war sie nicht! Sie hatte am Grab gelegen und unter der feuchten Erde den gesucht, um den sie weinte. Die ungeheure Sehnsucht war geblieben, keine Brücke führte von ihr zu dem Abgeschiedenen; er dort, sie hier.

Die Witwe schauderte, ein eisiges Frösteln lief ihr über den Rücken. Eine Hand, nur eine warme, lebensvolle Menschenhand, die ihr übers Gesicht strich, wie man's einem weinenden Kinde tut!

Eine Stimme, eine liebe, altvertraute Menschenstimme, die da spricht: »Komm', ich tröste dich!« – – –

Lena schrie plötzlich laut auf: »Mein Bruder!«

Und dann jagte sie von dannen, so rasch ihr Fuß sie trug; ihr Atem keuchte, sie lief und lief. Sie hastete einem Ziele zu; sie wußte nun, was ihre Sehnsucht wollte. Hinknien vor ihn, den Kopf an seiner Brust verbergen – würde er wieder den Rock über sie ziehen und sie verstecken vor aller Welt?

Jetzt waren es keine Kindestränen mehr, die sie weinte – leicht vergossen, leicht vergessen – es waren Weibestränen, schwerflüssig wie Blei und schwer zu trocknen.

Würde er sie von sich weisen –?!

»Ich komme, mein Bruder«, flüsterte Lena, atemlos vom schnellen Lauf.


 << zurück weiter >>