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Vor ihrem Nähtisch saß Frau Langen und weinte. Nun war Lena schon vierzehn Tage heimlich verlobt – das war so schön! – Aber nun war's losgebrochen. Lena selbst saß im Winkel des Zimmers, mit dem Rücken gegen den Ofen; es fror sie, und sie hielt sich die Hände vor die Augen. Ihr Gesicht konnte man nicht sehen, doch sagte es die ganze Stellung: sie war trotzig. Sie rührte sich nicht, hatte die Beine übereinander geschlagen und heraufgezogen; den Oberkörper hielt sie vornüber geneigt.
Mitten an dem Tisch im Korbstuhl saß Landgerichtsrat Langen; er sah müde aus. Neben ihm, die Hand auf seine Schulter gelegt, stand seine Frau.
»Wir müssen jetzt gehen, Fritz,« sagte Amalie, »wir können Allensteins nicht warten lassen, nachdem uns die Leute heut morgen das artige Billett geschrieben haben. Und dann will ich jedenfalls hinzu über die Linden fahren; da soll bei gutem Wetter viel Leben sein. Ich will jedenfalls die Linden sehen!«
»Ja, ja!« Mit einer ihm sonst fremden Ungeduld schob er ihre Hand von seiner Schulter. – »Und Lena, meine liebe Schwester,« er drehte sich ganz nach dem Ofen hin, »willst du wirklich darauf bestehen? Lena!«
Sie rührte sich nicht, sie drückte die Hände fester vor die Augen.
»Lena, ich habe die weite Reise hergemacht, ich habe so wenig Zeit, muß morgen abend wieder abreisen, ich muß die Sache bis dahin ins reine bringen. Laß doch mit dir sprechen! Sei verständig!«
Sie gab keine Antwort, sie zuckte nur ungeduldig mit den Schultern und warf den Mund auf.
»Sie ist trotzig!« sagte Amalie. Sie blickte an der eigenen stattlichen Figur herunter und dann in den gegenüberhängenden Spiegel. »Die Demut kleidet immer besser, liebe Lena. Mama,« sie wandte sich an Frau Langen, »du hast Lena zu sehr verwöhnt, Fritz und ich haben das immer gesagt. Mama,« sie ging an den Nähtisch und streichelte die weinende Frau, »rege dich nicht auf, der Herr wird dir helfen. Du bist eben zu gütig gewesen, ich will nicht sagen »schwach«.«
»Ja, ja«, Frau Langen weinte schmerzlicher. »Daß Lena mir das antut! Und wie sie mich hintergangen hat! Die ganze Zeit neben mir hergelebt und nichts von der Sache erzählt!«
»Sie ist trotzig«, sagte Amalie wieder.
»Sie hat kein Vertrauen gehabt, das kränkt mich am meisten. Mir ein X für ein U zu machen, solcher guten Mutter! Welches Glück, daß ihr gekommen seid, ich bin euch so dankbar. Ich habe mich bis dahin immer wieder beschwatzen lassen; nun sehe ich klarer. Ihr wollt ja nur Lenas Glück!«
»Ja, das wollen wir!«
»Oh du – du!« – Lena sprang plötzlich auf und trat kreideweiß, mit blitzenden Augen, vor die Schwägerin. »Sei du nur still; gehetzt habt ihr! Mutter war erst dafür, sie war gut zu mir, gut zu Richard; sie hat sich sogar darüber gefreut. Nun kommt ihr und schreit das Gegenteil und macht einen ganz wirr im Kopf! Du – du hast Fritz gehetzt!«
Ihre Stimme steigerte sich, sie klang gellend in Zorn und Schmerz und Angst:
»Du bist schuld daran!«
»Ruhe, Lena!« Der Bruder war aufgestanden und faßte das Mädchen am Handgelenk. »Ich sehe kein günstiges Resultat von deinem Verkehr mit Bredenhofer, deine aufgeregte Heftigkeit nimmt immer zu. Fahre nicht auf, Lena! Bredenhofer ist liebenswürdig und hat gewiß die besten Absichten. Aber was denkt er sich eigentlich?. Haltlos, vollkommen haltlos! Seine Verwandten, nach den Briefen, die ich mit ihnen gewechselt habe, überschätzen ihn wohl in gewisser Beziehung; aber im Grunde sind sie ganz meiner Ansicht. Entschieden erklären wir alle diese Verbindung für unmöglich. Er hat nichts, du hast nichts, und was das Schlimmste ist, ihr paßt nicht zueinander. Ich halte ihn überdies für krank; er ist sehr nervös und schwach auf der Brust. Ich gebe es nicht zu, daß meine einzige Schwester ins Unglück rennt.«
Frau Langen weinte laut und schmerzlich.
Sie schwiegen alle eine Weile. Amalie nickte mit dem Kopf, und Lena stand wie ein Geist mit weit aufgerissenen entsetzten Augen.
»Es tut mir leid um dich, Lena,« sagte der Bruder wieder, »du mußt es verschmerzen.« Und jetzt sehr weich: »Komm zu mir, Lena! Komm zu deinem Bruder!« Er breitete die Arme aus.
Lena stand ohne sich zu rühren; nun schüttelte sie den Kopf. – »Ich will nicht«, murrte sie finster.
»Lena, ich habe es immer gut mit dir gemeint! Lena, auch jetzt!«
»Geh nur, du willst mein Unglück! Ich habe niemanden, der mir beisteht – Richard, Richard!« Sie brach in verzweifeltes Schluchzen aus und taumelte zurück an die Wand. Dort stand sie, den Rücken nach der Stube gedreht, die Stirn gegen die Tapete gepreßt.
Mit einem tiefen Seufzer ließ Langen die Arme sinken. Er sagte nichts mehr, er sah sehr traurig aus.
Frau Langen und die Schwiegertochter flüsterten miteinander. In solchen Fällen war Amalie immer am Platz, da war sie die Mildtätige, die Versöhnerin.
Jetzt schwiegen die zwei Frauen auch. Es war so still in der Stube, daß jeder leise Atemzug hörbar war. Jetzt knisterte und knitterte es, Frau Amalie war zu ihrem Mann getreten: »Fritz, wir gehen!« Ihre große Hand legte sich auf seinen Arm.
Er zuckte zusammen: »Jawohl!« Ein mitleidiger Blick nach der Ecke. »Ich möchte doch noch einmal mit Lena –«
»Sie ist trotzig«, sagte Amalie zum drittenmal.
»Adieu, Mama!«
»Adieu, Kinder!«
»Adieu, Lena!«
Keine Antwort, das Mädchen rührte sich nicht. Die Tür fiel hinter dem Ehepaar ins Schloß.
»Lena!« Frau Langen war ärgerlich. »Du sagst nicht einmal deinen Geschwistern »Adieu«, und sie tun doch alles für dich, in deiner Angelegenheit! Du bist undankbar!«
»Un–dank–bar?« Lena drehte den Kopf; mechanisch, wie eine aufgezogene Puppe, kam sie auf den Nähtisch zugeschritten. Sie stemmte die Hand auf die Platte. »Was willst du von mir?« sagte sie tonlos. »Ihr macht mich tot. Erst hast du dich gefreut, und jetzt ist alles, alles schlecht. Das kommt von Amalie. Oh, ich weiß es wohl, wäre Fritz allein hier, es wäre besser! Aber sie mußte ja mit, sie läßt ihn nicht, sie muß Berlin ansehen. Ich hasse sie, ich hasse sie!« Sie stampfte mit den Füßen.
»Lena,« – Frau Langen rang die Hände – »was ist in dich gefahren? Du solltest dich freuen, wenn ihre Ehe jetzt eine bessere ist. Amalie liebt ihn eben so sehr, sie kann ihn nicht entbehren!«
»Und ich?!« – Bitter lachend hob Lena die Hand vom Tisch und lieh sie wieder schwer niederfallen. »Kann ich Richard entbehren?«
»Das ist etwas anderes, er ist doch nicht dein Mann.«
Die Mutter sprach sehr weise. »Das ist ganz anders, das verstehst du nicht. In der Ehe tritt man sich so nahe, daß es keine Trennung mehr gibt. Wie ich deinen Vater heiratete, habe ich ihn gar nicht so geliebt. Es war nun mal eben arrangiert. Aber nachher – oh du lieber Gott! Ich habe mich ohne ihn nie mehr im Leben zurechtfinden können.«
»Wenn ihr mich von ihm trennt, sterb' ich«, murmelte Lena. Ihre Augen blickten wie geistesabwesend. »Ihr macht mich unglücklich, ihr bringt mich um!« Wimmernd sank sie auf den nächsten Stuhl.
Frau Langen war ganz blaß geworden, ihre Lena sah zu jammervoll aus. Langsam kam sie an die Tochter heran. »Armes Kind!«
»Richard, Richard!« Mit einem lauten Jammerruf sank ihr Lena an die Brust. »Mutter, sei doch gut, hilf mir!« Sie umklammerte die zarte Frau; beide Gestalten zuckten unter dem wilden Schluchzen des Mädchens: »Richard – Mutter – hilf mir!«
»Sei still, sei still! Lena, Lenachen!« Frau Langen war ganz erschüttert – wenn ihr die Tochter stürbe?! Eine Riesenangst packte sie; es war auch wirklich hart, wie man mit dem Kinde umging! Die ganze Sache war eine Tücke des Schicksals. Das Leben war zu wunderlich; daß man doch nie mit dem zurechtkommen konnte! Bitterlich weinend preßte sie ihr Kind an sich: »Weine nicht, mein Herzchen, weine nicht! Ich, deine Mutter, bin ja bei dir; sie haben alle unrecht, ich helfe dir!« Wie ein Kind nestelte sich Lena an sie an.
Bei Allensteins stand der Diener hinter der angelehnten Korridortür. Wenn auch keine Sprechstunde war, Frau Doktor war zu angegriffen, es durfte nicht geklingelt werden.
Im Salon ging Susanne unruhigen Schritts auf und ab. Sie mußte sich zu sehr um den Bruder grämen. Da saß er nun wie ein Geist am Fenster, die Arme aufs Fensterbrett gestützt, und stierte hinunter auf die Straße. Es war wirklich besser, er war bei der Unterredung nicht zugegen, später konnte er ja hereinkommen. Es würde ihn zu sehr angreifen, und nebenbei hatte er eine geschwollene Ader auf der Stirn, und Augen, die nichts Gutes verhießen.
»Willst du nicht lieber hinaus gehen, Richard?« sagte sie so sanft wie möglich. »Die Langens müssen gleich kommen.«
»Ja, laß ihn hinausgehen«, echote eine dünne Stimme vom Sofa her, begleitet von einem wütenden Stricknadelgeklapper. »Geh, mein kleiner Richard, geh, der liebe Gott sei mit dir! Geh, mein Richardchen, es ist nicht gut für dich!«
»Steckt mir doch lieber einen Saugpfropfen in den Mund und wickelt mich in Windeln! Ich gehe schon!« Unwirsch stieß der junge Mann den Stuhl zurück und stürzte aus dem Zimmer.
»Mein Himmel«, sagte Tante Hannchen und ließ eine Masche fallen. Sie hatte schon geraume Zeit in der Sofaecke gesessen, still und unbeweglich, mit wackelnden grauen Löckchen an den Schläfen. Jetzt kam Bewegung in ihre Gestalt; sie hielt den Strickstrumpf gegen das Licht und bohrte nach der gefallenen Masche. »Wenn ich sie nur kriegte, wenn ich sie nur kriegte! Es ist ein rechtes Kreuz, daß ich nicht mehr gut sehen kann. Ach, wenn ich sie nur kriegte!«
»Siehst du denn nicht mehr gut?« fragte Frau Allenstein zerstreut.
»Es ist schrecklich,« seufzte Tante Hannchen, »er ist so diffizil. Neulich hatte eins von den Mädchen den schwarzen Daumen auf den Tellerrand gedrückt – ich sah's nicht – da schlug er den ganzen Teller entzwei. Man hätt's doch noch abwischen können; aber bei ihm heißt's: »Biegen oder brechen«. So was wird schlimmer mit dem Alter. Und dann die Manie! Allen Leuten sagt er die Wahrheit, ob die sie hören wollen oder nicht; sagt sie ihm aber mal einer, ist er stockböse – au, mein Himmel, nun liegt sie ganz unten.«
»Jammre nicht so, Tante,« sagte Susanna Allenstein, »ich kann's nicht anhören, ich bin nervös.«
Verschüchtert schwieg Tante Hannchen – so ging's ihr immer, nie durfte sie ungeniert etwas äußern! Der Bruder – »Er«, wie sie immer sagte – liebte Stillschweigen um sich; eine Meinung gab's neben der seinen überhaupt nicht.
Also auch hier sollte sie still sein?! Tante Hannchen warf der Nichte einen bitterbösen Blick zu und nahm sich vor, heute keinen Laut mehr von sich zu geben. Mochten sie in ihrer Familienkonferenz zusammen beraten, was sie wollten, sie würde ihre Weisheit verschweigen – ja! Sie kniff die Lippen zusammen und richtete sich kerzengrade auf; ingrimmig bohrte sie nach ihrer Masche.
Draußen kamen Schritte über den Gang, die Tür öffnete sich und Doktor Allenstein ließ Onkel Hermann respektvoll zuerst über die Schwelle treten. Der starke Mann war in Hut und Ueberzieher, er hatte nach Tisch seinen Verdauungsspaziergang gemacht. Die Leipziger-, die Friedrichstraße und die Linden war er entlang getrottet, als stampfte er durch Ackerfurchen; man sah ihm den Landjunker von weitem an.
»Schlechtes Nest, dieses Berlin,« brummte er und warf Hut und Ueberzieher von sich, »da, Hanne, schaff's weg! Den Leuten sollte mal ordentlich der Standpunkt klargemacht werden. Ich hab's aber auch dem Kerl an der Friedrichstraßenecke gehörig gesagt; steht da und hält unnützen Kram, kletternde Affen an 'ner Stange und Hanswürste feil! Kerngesunder strammer Mensch, kann der nicht arbeiten? Verdorbne Bevölkerung hier, ohne Respekt! »Sie Mummeljreis, oller Mummeljreis Sie!« schreit der freche Bengel hinter mir drein. Tut mir sehr leid, daß ich ihn nicht habe arretieren lassen. Ich dachte aber, ich käme zu spät her – nun sind die Leute noch nicht mal da, unpünktlich, sehr unpünktlich!« Aergerlich zog er seine dicke silberne Uhr.
»Du mußt schon verzeihen, lieber Onkel,« sagte Susanne geschmeidig, »die Langens sind fremd hier, sie haben die Entfernung wohl nicht berechnet.«
»Aeh – die – die –!« Onkel Hermann zog die Brauen zusammen. »Was starrst du mich an, Hanne, und hockst da, wie die Gans, wenn's wetterleuchtet? Wieder beleidigt? Na natürlich, die Wahrheit kannst du nicht vertragen. Ich sage dir,« er klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch, »ich habe die ganze Wirtschaft hier satt! Wenn's nicht wegen des Richard wäre – dem Jungen werde ich die Fladusen austreiben, hol' mich der Fuchs!« Er klatschte wieder auf den Tisch, daß Frau Allenstein zusammenfuhr. Aber sie sagte nichts.
Doktor Allenstein stand derweilen am Fenster, die Hände aus den Rücken gelegt, und guckte auf die Straße. Ein heimliches Lächeln verzog ihm die Mundwinkel, er suchte es zu unterdrücken; seine Frau sprach immer so viel von der Pietät gegen den Onkel, den einzigen Bruder ihres verstorbenen Vaters, daß er ihre Gefühle nicht verletzen wollte.
Er strich sich den glänzenden Bart und gähnte verstohlen – Himmel, wie langweilig! Diese Konferenzen waren ihm ein Greuel. Er entsann sich noch recht gut der Zeit, in der er um seine Frau angehalten und zitternd, wie ein armer Sünder vor Gericht, vor Onkel Hermanns scharfen Augen gestanden hatte. Die sahen ihn unter den buschigen Brauen an, als wollten sie ihn durch und durch sehen. Susanne war damals noch in Trauer um die Eltern. Schwarz stand ihr gut. Sie sprachen beide sehr viel von ihrer Liebe in des Onkels Junggesellenstube mit dem glatten Ledersofa und den vielen Pfeifen an den sonst kahlen Wänden. Onkel Hermann hatte sich geschneuzt – Susanne war sein Liebling – und dann den jungen Mann mit einem Schauer von Ermahnungen übergossen.
Huh! Dem Doktor schlugen noch in der Erinnerung die Zähne zusammen; er fühlte Mitleid mit Schwager Richard in sich aufsteigen.
Zu guter Letzt bezahlte Onkel Hermann einige Schulden aus der Studentenzeit und – das Brautpaar war fertig.
Allenstein schaute sich nach seiner Frau um. Sie stand am Tisch und fingerte nervös an der Decke herum. Sie sah doch lange nicht mehr so gut aus! Die zehn Jahre hatten sie etwas mitgenommen; die Figur war mager, das Gesicht spitz.
»Sie muß ins Bad«, dachte Doktor Allenstein und drehte sich wieder dem Fenster zu. Unten rasselte jetzt eine Droschke vor. »Sie kommen!«
Susanne schreckte zusammen; mit beiden Händen fuhr sie nach dem Herzen, es hämmerte und pochte. O die Nerven! Rasch griff sie in die Tasche und brachte ein Fläschchen zum Vorschein; in wenig Augenblicken roch die ganze Stube nach ätherischen Baldriantropfen. Nun stand sie mit zuckenden Mundwinkeln, eine forciert verbindliche Miene aufgezwängt, mitten im Zimmer und erwartete die Fremden.
Allenstein war ihnen entgegen gegangen. Draußen im Korridor verbeugte man sich.
»Landgerichtsrat Langen!«
»Allenstein!«
»Meine Frau!«
»Sehr angenehm, gnädige Frau, sehr angenehm!«
Der Doktor schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich tief vor der stattlichen Schönheit; er hatte ein Faible für vollbusige, breithüftige Gestalten. Dann schüttelte er dem andern freundschaftlich die Hand:
»Sehr erfreut, Herr Landgerichtsrat! Bitte, treten Sie näher!«
Nun stand man sich im Salon gegenüber, beide Parteien beobachteten einige Reserve. Kühl, mit großstädtischer Gelassenheit, begrüßte Frau Susanne die Fremden. Onkel Hermann brummte etwas Unverständliches und Tante Hannchen neigte nur stumm die grauen zittrigen Löckchen. Man tauschte einige gleichgültige Redensarten, vom Wetter, über Berlin, fragte nach der gegenseitigen Gesundheit; dann verstummte man. Eine Pause.
Langen war in einiger Verlegenheit, die Stille bedrückte; aller Augen richteten sich auf ihn, er würde wohl anfangen müssen.
Er rutschte auf dem Fauteuil hin und her und ließ den Blick über den Tisch mit den Prachtwerken und Albums irren – Lenas unglückliche Augen tauchten vor ihm auf, er hörte sie weinen – der Schweiß brach ihm aus.
»Nanu,« sagte Onkel Hermann plötzlich und streckte die Beine mit einem Ruck von sich, daß der Stuhl knackte – er saß nie auf Polstermöbeln, ein einfacher Rohrstuhl mußte es sein – »Herr Landgerichtsrat, ich, als Haupt der Familie, heiße Sie bei uns willkommen! Und die Frau Gemahlin auch!«
Er machte einen ungeschickten Kopfnicker nach dem Sofa hin, wo Amalie neben Tante Hannchen thronte.
»Sie müssen mir's nicht übel nehmen, aber ich muß Ihnen gestehen, ich hätte Sie lieber bei einer andern Gelegenheit kennen gelernt!«
Frau Allenstein blickte unsicher, sie legte ihre kalten Finger auf die Hand des Alten:
»Onkel!«
»I, laß nur, ein Mann, ein Wort! Wissen Sie, Herr Landgerichtsrat, ich will Ihnen gleich sagen, mein Neffe ist ein ganz windiger Patron. Talente mag er haben, davon verstehe ich Stoppelhopser nichts, aber er ist ein dummer Junge. Er hat nichts und sie hat nichts, das muß sich doch einer überlegen, ehe er an Heiraten denkt. Ich habe recht, nicht wahr?«
Es klang wie eine Frage und war doch schon eine Gewißheit. Er sah sein Gegenüber triumphierend an.
In Langens Gesicht stieg langsam eine Röte, er fühlte sich verletzt durch die Art dieses Mannes. Seine Schwester war doch kein Mädchen, von dem man so wegwerfend per »sie« redete! Und wenn sie auch kein Geld hatte, so hatte sie doch manches andre.
»Gestatten Sie,« sagte er ziemlich scharf, »mögen Sie über Ihren Herrn Neffen denken wie Sie wollen, jedenfalls möchte ich betonen, daß meine Schwester Magdalene ein Mädchen ist, das Ansprüche machen kann.«
Susanne biß sich auf die Lippen.
»Ansprüche?« wiederholte sie. »Ansprüche kann ein junger Mann erst recht machen. Mein Bruder ist ungemein begabt und so beliebt! Er könnte nur wählen unter den schönsten und reichsten Mädchen.«
Langen verneigte sich.
»So mag er wählen! Ich habe durchaus den Wunsch, diese übereilte Verlobung meiner Schwester rückgängig zu machen.«
»Ah!«
Von Susannes Herz fiel ein Stein, und doch ärgerte sie sich, daß man ihren Bruder so leicht aufgab. Ebenso ging es Onkel Hermann, er ärgerte sich auch; von ihm sollte die Auflösung der Verlobung ausgehen, kein andrer sollte ihm zuvorkommen. Er fühlte sich beleidigt.
»Donnerwetter! Sie sind ja gewaltig hochgeschnuffen!«
»Verzeihen Sie,« flüsterte Tante Hannchen der großen Dame neben sich zu, »wir sind vom Lande!« Das schwarze Seidenkleid der Gerichtsrätin imponierte ihr gewaltig. »Er ist zu Hause immer der erste, da hat er sich das so angewöhnt.«
»Oh,« nuschelte Frau Langen zwischen den Zähnen, »beunruhigen Sie sich nicht! Es ist Christenpflicht, Geduld mit den Schwächen der Nächsten zu haben; man hat ja selbst seine Fehler.«
Ah – Tante Hannchen rückte erfreut näher – wirklich eine nette Frau! Und geistige Interessen schien sie zu haben. Endlich einmal jemand, mit dem sich reden ließ! Beim Bruder ging alles unter in Roggen und Kartoffeln und – wie er sagte – im Mistfahren; hier, bei Allensteins, alles in eitler Weltlust. Und sie unterhielt sich so gern über etwas Höheres! Sie vertieften sich in ein halblautes interessiertes Gespräch.
»Hann, sei mal still!«
Onkel Hermann war sehr ärgerlich; eine Viertelstunde redeten sie nun schon herum und herum, sie waren eigentlich beide ganz derselben Meinung, aber – der Langen ließ sich eben gar nicht einschüchtern, da sah man so recht den Beamtentik.
»Bitte also, wollen Sie vielleicht Ihren Neffen hereinrufen?« sagte der Landgerichtsrat, »gestern habe ich dem jungen Herrn meine Ansichten bereits kund getan, aber ich möchte sie ihm noch einmal wiederholen, hier im Schoße seiner Familie.«
»Sogleich!« mischte sich Frau Allenstein ein. In nervöser Unruhe hatte sie dem Hin und Her der Männer gelauscht, ein plötzliches Bangen um den Bruder bemächtigte sich ihrer. Wie einen dummen Jungen würden die beiden ihn behandeln; das durfte nicht sein; die Gereiztheit mußte abgeschwächt werden. »Einen Augenblick!« Sie winkte ihrem Mann und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Allenstein, dem man die Erleichterung ansah, sich erheben zu können, verschwand sofort. Nach wenig Augenblicken kam er wieder, den Diener hinter sich.
Amalie machte die Augen weit auf – das war ja ganz solch schwer silbernes Tablett mit Handhaben, wie sie eins hatte! Und der silberne Kuchenkorb, und die feingeschliffenen Gläser!
Allenstein präsentierte:
»Bitte, Herr Landgerichtsrat, trinken Sie – alter Marsala – oder wollen Sie lieber Tokayer? Und die gnädige Frau, etwas Süßes, nicht wahr? Prost, prost, Ihr ganz Spezielles! Auf Ihre Kinder! Zwei, nicht wahr? Ich habe keine.«
Ein Schatten zog über sein Gesicht, sein Blick flog vergleichend hinüber zu der mageren Schmächtigkeit seiner Frau.
Langen hatte höflich ein Glas genommen, er nippte nur daran. Onkel Hermann schmeckte es, er ließ sich zweimal wieder einschenken.
Tante Hannchen raunte der Nachbarin zu. »Sie glauben nicht, was hier für die Innere Mission getan wird.«
»O ja«, lächelte Frau Amalie. »Ich bin Vorsteherin des Vereins zur Hebung der Sittlichkeit. Ich arbeite viel mit unsren Gemeindeschwestern. Kürzlich hatten wir ein Wohltätigkeitsfest für unsre verschämten Armen. Wenn ich nach Hause komme, habe ich viel zu tun für den Basar zum Besten unsrer Kleinkinderschule.«
»Sie Glückliche!« Die grauen Löckchen gerieten in zitternde Bewegung, das kleine Fräulein versank ganz in ihre Sofaecke. »Ach, ach! Ich kann so gar nichts tun. Nur für unsre Kranken im Dorf ein bißchen Suppe kochen, und mal lüften, und den alten Weibern die schlimmen Füße verbinden, und den Kindern was zum Anziehen schaffen. O wie schrecklich, wie schrecklich wenig!«
»Heule lieber gleich – zum Donnerwetter, nun sei aber doch mal still, Hanne!« Onkel Hermann war dunkelrot im Gesicht, er fixierte die Schwester scharf; sie duckte sich wie ein Vogel beim Gewitter. Er sah sie an, als wolle er sie verschlingen, dann wandte er suchend den Blick nach einem neuen Opfer. Niemand da. Die Nichte saß, den Kopf gesenkt, in ihren Schoß blickend; mit dem Landgerichtsrat war nichts anzufangen, und Allenstein – ?
»He, du, Doktor, hol' mir jetzt 'mal den Jungen 'rein! Du!« rief er dann hinter dem schon an der Tür Befindlichen her, »Zeit nimmst du dir auch, das muß man sagen. Hör' mal, lieber Neffe, meine aufrichtige Meinung ist, du mußt dir mehr Bewegung machen, du wirst zu dick, viel zu dick!«
Die Tür schloß sich unsanft.
Susanne konnte ein kleines malitiöses Lächeln nicht unterdrücken. Die ganze Zeit hatte Karl dagesessen, als ginge ihn die Konferenz durchaus nichts an, jetzt hatte er auch seinen Aerger weg; er war so eitel auf seine Figur.
Mit einer etwas angeregteren Miene wandte sie sich zu Langen und seiner Frau. Eine stockende Konversation wurde geführt. Tante Hannchen ließ nur die Augen mitsprechen, sie wagte nichts mehr zu sagen, und Onkel Hermann spielte den gänzlich Unbeteiligten; er scharrte ungeduldig mit den Füßen und sah unverwandt nach der Tür.
Ah, endlich! Allenstein öffnete und schob den Schwager vor sich her. Sie hatten beide rote Köpfe; der Doktor war noch erregt von der Beleidigung seiner Figur, Bredenhofer ging funkelnden Auges dem Kommenden entgegen. Er hatte schon draußen dem Schwager heftige Worte gesagt, die diesen, als sich neutral Fühlenden, durchaus nicht berührten. Gleichviel, es dünkte Richard, er habe sich in die richtige Stimmung versetzt. Er trat an den Tisch und begrüßte die Anwesenden kaum.
»Nun sag' mal, mein Junge,« Onkel Hermann warf die rollenden Augen umher – wer wollte ihm die Leitung der Sache streitig machen? – »was denkst du dir eigentlich? Wir sind einstimmig, nach reiflicher Ueberlegung, zu dem Entschluß gelangt, deine übereilte Verlobung aufzulösen!«
»Ihr? Meine Verlobung? Ha ha!« Der junge Mann lachte ihm ins Gesicht mit einem bitteren gereizten Lachen.
»Nein, nein!« Langen legte sich ins Mittel. »Ihr Herr Onkel hat sich nur unrichtig ausgedrückt. Er meint, wir haben alle Gründe erwogen, die, wenn wir sie Ihnen darlegen, Sie gewiß bestimmen werden, die übereilte Verlobung zu lösen. Wie gesagt, die Ausdrucksweise war nicht ganz korrekt.«
»Nicht korrekt, was?« Onkel Hermann fuhr auf, als habe ihn etwas gebissen. »Durchaus korrekt, Herr Landgerichtsrat, durchaus korrekt! Ich weiß immer, was ich sage.« Er würdigte Langen keines Blicks mehr, sondern schnaubte den Neffen an: »Ich sage dir, ich löse die Verlobung auf; Fräulein Langen ist keine Partie für dich, ihr habt ja beide nichts. Und auf mich lauern? Na, ich denke noch recht lang zu leben, jetzt erst recht. Und wenn ich mal tot bin, wird sich's –«
Er räusperte sich stark und suchte ein möglichst böses Gesicht zu machen, aber er konnte es nicht hindern, daß seine Stimme einigermaßen schwankte. »Ich hab' dich immer sehr lieb gehabt, aber wenn sich einer so gegen jede bessere Einsicht sträubt –« er räusperte wieder – »ja, es wird sich dann noch sehr finden!«
»Ich verzichte«, sagte der jüngere, ganz blaß werdend und tief Atem holend. »Ich habe Fräulein Langen mein Wort gegeben!«
»Ich gebe es Ihnen im Namen meiner Schwester zurück!« Langen war aufgestanden und neben Bredenhofer getreten; er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist sehr schmerzlich für Lena, aber sie wird es verwinden. Besser jetzt ein rascher Schnitt, als eine lange gequälte Ehe.« Ein unwillkürlicher Seufzer entrang sich ihm; ihn fröstelte.
Der junge Mann sah ihn verständnislos an. »Eine gequälte Ehe – Lena und ich? O nein! Wir lieben uns. Oh, ihr wißt alle nicht, was Liebe ist« – er stemmte sich aus den Tisch, daß dieser ächzte – »nein, Sie wissen es nicht!«
Frau Allenstein wurde rot und blaß; Frau Langen sagte mit einiger Indignation: »Wir haben uns aus Liebe geheiratet!«
»Ja, das haben wir auch«, fiel Susanne rasch ein.
Beide Frauen streckten ihren Männern die Hand hin; diese murmelten übereinstimmend: »Jawohl, jawohl!« Allenstein tätschelte Susannes Wange, Langen küßte Amalie die Hand.
»Getue«, brummte Onkel Hermann und fixierte sie alle der Reihe nach. Dann sich an Richard wendend: »Das ist ja ganz schön, mein Junge, mag sein, daß du das Mädchen liebst – aber wie lange? He?!«
»Immer, immer, Onkel!«
»Na, nicht so stürmisch! So lange wie das überhaupt mit der Liebe in der Ehe dauert! Diese verdammte Heiraterei!«
»Das kannst du nicht sagen, Onkel Hermann,« fiel Frau Susanne ein, »du hast ja sonst immer recht, du hast einen untrüglichen Scharfblick, aber du kannst das Heiraten nicht verdammen, wenn es auf einer soliden Basis aufgebaut ist. Richard« – sie wendete sich aufgeregt zum Bruder – »du mußt doch einsehen, daß du auf nichts keinen Hausstand, kein Glück begründen kannst! Es ist ein Jammer, wenn ich bedenke, daß deine schönen Talente verkümmern sollen; dein Genie wird flügellahm, die Misere zieht dich zu Boden. Du mußt doch auch an das Mädchen denken, was bietest du ihr? Sie kann einem leid tun. Du machst dich und sie unglücklich. Und wir haben alle so viel von dir erwartet!« Sie fing an, trocken zu schluchzen und hielt sich das Taschentuch vors Gesicht.
Der junge Mann verfärbte sich: »So schlimm wird's nicht sein«, murmelte er und fuhr sich über die Stirn, als wische er dort Schweiß ab. »Ich – ich werde verdienen, Lena kann als Sängerin Glück machen, ich – ich glaube fest an ihren Stern; und dann – und dann …« Er sah flehend nach dem Onkel hin.
»Auf mich rechne nicht,« sagte dieser, »gar nicht.« Er erhob sich und reckte sich mit halbem Leib zu seiner Schwester herüber: »Laß das Heulen, Hanne – Schockschwerenot noch mal – ich biete keine Hand zu solchem Unsinn! Entweder du bist vernünftig und läßt das Mädel laufen, oder ich – heule nicht, Hanna! – habe nichts mehr mit dir zu tun. Punktum.«
»Ich muß doch sehr bitten,« in Langens Gesicht stieg langsam eine tiefe Röte, »ich muß sehr bitten, eine andere Ausdrucksweise zu wählen.« Seine sonst so gütigen Augen bekamen einen zornigen Blick. »Von »Mädel« und »laufen lassen« kann hier unmöglich die Rede sein. Vergessen Sie nicht, von wem Sie sprechen!« Er drehte dem Alten vollständig den Rücken und wandte sich nur zu dem jungen Bredenhofer: »Ich sagte Ihnen schon einmal: meine Schwester gibt Ihnen Ihr Wort zurück. Ich betrachte die Verlobung als aufgelöst.«
»Und Lena – Lena!?« Mit zuckenden Lippen, finsteren Blicks, starrte Richard vor sich nieder.
Susanne hing sich an ihn. »Richard, sieh's doch ein, Richard, sei doch verständig! Du wirst es uns noch danken. Bedenke die Misere, das Sorgen ums tägliche Brot, du kannst das nicht aushalten, du gehst zugrunde! Mein lieber Richard! Du wirst es uns noch danken!«
»Das glaube ich nicht«, sagte er finster und schob sie von sich. »Ich – ich –« er wußte nicht, was er sagen sollte, brach jäh ab, fuhr sich über die Stirn und starrte wieder auf den Teppich.
Es war eine peinliche Stille. Allenstein räusperte sich verlegen und suchte den Blick des Landgerichtsrats; welch unangenehme Situation für den Mann! Man sah es genau, wie er sich Gewalt antat, um ruhig zu bleiben.
Jetzt richtete er sich höher auf. »Dann darf ich mich wohl den Herrschaften empfehlen?« Er machte eine steife Verbeugung. Und zu Richard sich wendend, sagte er halblaut mit einem schmerzlichen Zucken der Mundwinkel: »Meine Schwester wird Ihnen den Ring und die kleinen Andenken zurücksenden – ich empfehle mich!«
Der junge Mann stand wie angewurzelt, er gab keinen Laut von sich; das dunkle Haar hing ihm in die Stirn und ließ diese krankhaft weiß erscheinen. Er erwiderte die Verbeugung nicht, er nickte nur stumm, automatenhaft. Plötzlich zuckte er zusammen, ein Zittern überlief seine Gestalt, gespannt lauschend hob er den Kopf.
Draußen im Korridor Flüstern, ein leichter Schritt näherte sich der Tür; es wurde geklopft.
Frau Susanne wollte ärgerlich auffahren – hatte sie nicht Order gegeben, jede Störung fernzuhalten?
Wieder ein Pochen, lauter, dringlicher – alle sahen sich an – warum sagte keiner: »Herein!«?
Die Tür ging auf. Mit einem dumpfen Laut hob Richard die Hände, er wankte ein paar Schritte vorwärts – und nun sein Schrei, halb Schrecken, halb Erlösung:
»Lena!«
Wie ein Echo folgte Langens Ruf, aber vorwurfsvoll, entsetzt: »Lena!«
Frau Amalie nickte: das war wieder ein Beweis von Lenas Extravaganz!
»Oh!« sagte Tante Hannchen. Die übrigen waren aufgesprungen.
Blaß, zitternd stand Lena an der Tür, einen eigensinnigen Zug um den Mund. Unter der kleinen Pelzkappe hing ihr das Haar verwirrt, einen Schleier hatte sie nicht umgebunden, ihre Augen waren gerötet vom Wind und vom Weinen.
Niemand hieß sie willkommen. Alle starrten sie an.
Sie kam langsam weiter ins Zimmer, ihr Blick irrte von einem zum andern. Einen Moment schien es, als wollte sie zum Bruder flüchten, schon hob sie den Fuß. Aber da blieb sie stehn. »Richard,« sagte sie trotzig; und dann noch einmal leiser, zärtlich: »Richard, ich wollte bei dir sein!«
Er faßte ihre Hand, sein verstörtes Gesicht wurde ruhiger, der ungewisse, zweifelnde Zug um seinen Mund verschwand; mit plötzlicher Entschlossenheit zog er das Mädchen an sich. Er legte ihr den Arm um den Nacken und küßte sie.
»Nanu?« Onkel Hermann wurde krebsrot, er blies die Backen auf. »Was soll das?« Scheu blickte er dann weg, es war ihm höchst unangenehm, die Zärtlichkeit mitanzusehen; in seiner Junggesellenstube kam dergleichen nicht vor. »Duseleien, Künstlerfisematenten«, brummte er. »Es ist leichter, 'nem Mädchen Küsse zu geben, als 'ne Frau ehrlich zu ernähren. Und weiß Gott, so'n junges, vertrauendes Ding –« sein Murmeln erstarb. »Laß das, Richard! – Sie, Fräulein,« er machte den bekannten ungeschickten Kopfnicker, »ich kann Ihnen nur raten, lassen Sie den Windbeutel lausen. Sie sind ein hübsches Mädchen, Sie kriegen noch einen ganz andern!«
In Lenas Wangen zeigte sich, trotz alles Kummers, ein Ansatz zu Grübchen; sie hob furchtlos die Augen und kam, Richard mit sich ziehend, dicht zu dem Alten heran. »Ich mag aber keinen andern, ich habe ihn lieb!« Und ängstlich senkte sie den Kopf: »Sie werden darum doch nicht böse sein? Bitte!«
Der Onkel blinzelte unter dem Blick der schwimmenden Mädchenaugen, er war froh, daß die Lider sich jetzt darüber senkten. Weibertränen, brrrr! Es lief ihm heiß und kalt über den Rücken; eine unbehagliche Verlegenheit bemächtigte sich seiner, darum polterte er erst recht: »Was geht's mich an? Meinetwegen stellt euch auf den Kopf und laßt die Beine Feiertag halten. Mir ganz egal!«
»Lena –« der Landgerichtsrat biß sich auf die Lippen – »Lena, komm, wir wollen gehn!«
Sie wandte nicht den Blick nach dem Bruder.
»Wie trotzig!« flüsterte Frau Amalie; es war eigentlich nur gedacht, aber man hörte es durch die ganze Stube.
Frau Allenstein zitterte an allen Gliedern, eine namenlose Angst überkam sie. Des Bruders Gesicht war so anders geworden; er sah um Jahre älter aus, sein weicher Mund war fest geschlossen. Sie tastete nach der Hand ihres Mannes: »Karl, sag' du's ihm, sag's ihm, ich bin zu erregt!«
Allenstein zuckte die Achseln; er gab sich nicht gern mit unangenehmen Sachen ab, und nebenbei war diese Langen ein niedliches Mädchen.
»O du!« sagte Susanne und ließ ungeduldig seine Hand fahren. »Richard,« ihre Stimme klang eindringlich bittend, »Richard, aus größter Liebe warne ich dich, du machst dich unglücklich. Bei dem Andenken unserer Eltern beschwöre ich dich!«
Lena umklammerte fester die Hand ihres Bräutigams.
»Fräulein Langen, ich kann nicht umhin, ich muß es Ihnen sagen, mein Bruder ist unvermögend – auch wir sind nicht in der Lage, ihm« – Frau Allenstein brach ab. »Liebes Fräulein, Sie machen pekuniär keine Partie, ich sage es Ihnen offen.«
»Was denken Sie von meiner Schwester? – Lena, komm' hierher!« Langen war aufgefahren, er riß das Mädchen neben sich. »Wenn sie diese Unklugheit begeht, so folgt sie einzig dem Zug ihres Herzens. Aber ich sage: »Nein«!«
Gereizt sah ihn Susanne an.
»Verehrter Herr Landgerichtsrat, Sie brauchen das »Nein« durchaus nicht zu sagen, als sei Ihnen eine Beleidigung widerfahren; mein Bruder ist immer noch keine unebene Partie!«
»Und meine Schwester hat nicht nötig, sich in unwohlwollende Kreise einzudrängen!«
»Der Junge ist verrückt,« schrie Onkel Hermann dazwischen, »aber er ist doch ein ganz famoser Kerl!«
»Ruhe! Mäßigung«, bat Allenstein. Tante Hannchen seufzte und flüsterte Amalie zu: »Wie schrecklich, wie schrecklich, Familienzerwürfnisse!« Diese antwortete nur mit einem Augenaufschlag.
»Jetzt kommst du, du wirst dich doch nicht wegwerfen!« Langen wollte den Arm der Schwester durch den seinen ziehen.
Sie riß sich los. Mit einem Aufschluchzen stürzte sie an die Brust des Geliebten.
»Weg, weg! Hier bin ich, hier bleib' ich!«
Bredenhofer hielt sie in den Armen; trotzig warf er den Mund auf, aber er sah niemanden an.
»Ihr könnt nun machen, was ihr wollt! Sie wird mein und bleibt mein! Und können wir nicht miteinander leben, so sterben wir miteinander!^
»Ja«, sagte Lena enthusiastisch.
Die Worte waren verhallt; niemand sagte etwas darauf. Alle waren blaß, nur das Brautpaar glühend rot. Sekunden, Minuten verstrichen lautlos, und doch glaubte man, sie gehen zu hören.
»Hol' euch alle der Fuchs«, schrie Onkel Hermann plötzlich. »Ich gehöre in kein Narrenhaus. Komm, Hanne!«
Er langte nach der Schwester und riß sie mit sich; die grauen Löckchen flatterten der Armen, das Strickzeug schleppte sie am Rock hinterdrein. Die Tür schloß sich.
»O Richard, was hast du getan?!« Frau Susanne brach in fassungsloses Weinen aus. »Du hast ihn beleidigt!«
»Laß ihn! Laß ihn laufen!« Bredenhofer hatte gar keine Acht, er zog Lena näher zu seiner Schwester heran. »Hier, Susi! Willst du meiner Braut nicht Glück wünschen?«
Frau Allenstein streckte, ohne aufzusehen, die Hand aus:
»Ich gratuliere, liebes Fräulein!«
Lena ergriff die Hand, aber sie ließ sie gleich wieder fahren – hu, die Finger waren so eiskalt! Sie sah sich nach dem Bruder um, es überkam sie ein heißes Gefühl, sich in seine Arme zu stürzen. Da bemerkte sie den Blick, den er mit Amalie wechselte; waren sie im Einverständnis? Es empörte sie, daß Amalie sagte: »Wir werden für dein Glück beten, Magdalene!«
Ohne sich dem Bruder zu nähern, ließ sie sich jetzt von Allenstein die Hand drücken; er war der einzige wahrhaft Freundliche, er hatte sein Vergnügen an dem erhitzten Mädchengesicht. – –
Triumphierend, wie Sieger nach gewonnener Schlacht, stieg das Brautpaar, eine halbe Stunde später, die Treppe bei Allensteins hinunter. Langen und seine Frau waren schon fort; in beklommener Kühle, ohne Händedruck, war man voneinander geschieden.
Auf dem halbdunklen Treppenabsatz, bei der Wandnische, hielt Bredenhofer den Schritt an; er versuchte, in Lenas Augen zu lesen. »Bist du auch nicht traurig, Geliebte?«
»Nein, o nein!« Sie schmiegte sich an ihn. »Ich habe ja dich – dich!«
Er küßte sie wild, mit seinen heißen Lippen ihre Stirn, ihre Wangen, ihren Mund durch glühend.
»Für immer – ewig – ewig – meine Geliebte – Braut – Weib!«
»O du!«
Lachend und weinend erwiderte sie seine Küsse.