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XVI.

»Mein Gott, mein Gott,« sagte Tante Hannchen, »das arme Ding! Wie leid sie mir tut!«

»Ae was,« brummte Onkel Hermann, »Verrücktheiten wie immer! Exaltierte Gesellschaft! Kann keine Frauen leiden, die Ohnmachten kriegen.« Er sah die Schwester durchbohrend an und räusperte sich anzüglich. Einmal in ihrem Leben war Hannchen in Ohnmacht gefallen, er hatte ihr das nie verziehen. »So 'ne Dammlichkeit, herzulaufen, wenn man den Weg nicht kennt! Wäre ich nicht gerade bei der Hand gewesen, hätte sie im Dreck gelegen – ja, im Dreck!« Er betonte das letzte Wort besonders kräftig. Tante Hannchens ganze Antipathie waren solche Kraftausdrücke; nun wendete er sie mit Vorliebe an.

»Pst – nicht so laut!« Das alte Fräulein wagte es, ihm die Hand auf den Mund zu legen. »Sie schläft grade ein bißchen. Als sie zu sich kam, hat sie geweint und geweint, weiter nichts als geweint. O du mein Himmel!« Die alte Dame fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen; dann versuchte sie im Balletteusenschritt nach der Stubentür zu schweben und durch die Ritze zu sehn.

»Du kannst ja nicht«, sagte er, stieß sie beiseite und brachte den dicken Kopf an die Spalte. Erschrocken fuhr er zurück. »Schläft nicht mehr, sitzt aufrecht im Bett und starrt mit Augen vor sich, die einen gruseln machen können. Ich werde mal 'reingehen und sie fragen, was sie eigentlich will.«

»Ach, du wirst doch nicht, du wirst doch nicht«, jammerte die Schwester. »Bitte, laß mich doch gehn, mich! Bitte!«

»Aeh, ich gehe!«

»Nein, ich!« Sie hing sich ihm an den Rockschoß.

»Hanne!« Er sah sie drohend an und stieß sie weg.

Sie drängte sich wieder vor.

»Ich – Potz Kuckuck!«

»Ich – ach Himmel!«

»Dumme Marjelle, laß mich!«

»Nein, du erschreckst sie – laß mich nur. Siehst du wohl?«

»Au!« Bredenhofer schlenkerte die Hand hin und her, er hatte sich empfindlich gequetscht. Ganz schwach durch die plötzliche, nie geahnte Energie der Schwester, wich er zurück.

»So«, sagte Fräulein Hannchen und drückte die Tür hinter sich ins Schloß.

Grollend legte sich der Alte aufs Sofa und ließ die Grünen über die Lehne baumeln. »Wenn ich nur wüßte, was das Frauenzimmer eigentlich wollte – kommt daher geschneit! – Was will sie? Geld – natürlich Geld, Messer wird ihnen an der Kehle sitzen. Nichts da – gebe keinen Pfennig – hab's gesagt, ziehe meine Hand ab. – Undank, Undank wie immer – i was!« Er trommelte mit den Grünen gegen das Sofa. Was ging ihn die Gesellschaft an? Sie war kein Jota besser als die ganze übrige falsche, berechnende Welt; und doch lauschte er auf jede Bewegung im Nebenzimmer, auf jeden Laut.

Das blasse Gesichtchen schwebte ihm immer vor, das so kalt und still auf seinem Rockärmel gelegen; ein armes Gesichtchen mit schmerzlich verzogenen Lippen und tiefen Rändern unter den geschlossenen Augen.

»Donnerwetter!« Er kratzte sich heftig in der buschigen Haarmähne – wenn er nicht gerade da gestanden hätte! Gerade sehr apropos. Was wäre aus dem armen Frauchen geworden?! Auf der schmutzigen Gasse gelegen – gar nicht auszudenken, nicht auszudenken! Aber was wollte sie nur?«

Hermann Bredenhofer versank in tiefes Sinnen.

Drinnen in der Altjungfernstube von Tante Hannchen lag Lena auf dem Bett. Wie sie dahin gekommen, wußte sie selbst nicht; nur unklar schwebte ihr eine Erinnerung vor, eine furchtbare, an einen langen, langen Weg, an eine nicht endenwollende Pein. Man hatte ihr dann starken Wein und heißen Kaffee eingeflößt; sanfte Hände hatten ihr das beengende Kleid aufgeknöpft und die Nadeln aus den Haaren gezogen; sie hatte dabei weinen müssen wie im Traum, sie hätte sich so gern etwas von der Seele heruntergeschwemmt, aber es ging nicht, es ging nicht –!

Sie stemmte beide Hände gegen die Brust und setzte sich auf; matt ließ sie ihre Augen im Zimmerchen umherschweifen. Eine grün verhangene Lampe brannte. War das hier still und friedlich! Leise tickte die Schwarzwälderuhr an der Wand neben dem Kachelofen; dort, in der warmen Ecke sorglich aufgehängt, stimmte auch der Kanarienvogel die winterlich umschleierte Kehle. »Tirili, tüi, tüi« – es klang so zart, so schläfrig wie ein Wiegenlied. Er sang im Schlaf.

Das junge Weib sah um sich mit einem bangen, sehnsuchtsvollen Ausdruck – wer hier lebte, der mußte glücklich sein! »Ach!« –

Die Tür hatte geknarrt.

»Warum seufzst du so, mein Kind,« piepte Tante Hannchens Stimmchen, »ist dir jetzt besser?« Die alte Dame trat dicht ans Bett, eine feine Röte der Schüchternheit überflog ihr welkes Gesicht. »Du erlaubst doch, daß ich dich »du« nenne, liebe Lena?« Und als diese sie verwundert ansah, lächelte sie freundlich und ein wenig resigniert: »Ich bin nämlich Tante Hannchen. Du wirst dich meiner kaum mehr erinnern; es war ja damals nur flüchtig, und ich habe wirklich so wenig Bemerkenswertes an mir. Aber ich hatte damals gleich Sympathie für dich, hätte mich Hermann nicht so weggerissen!«

Lena, von einem plötzlichen Impuls getrieben, streckte beide Arme aus und schlang sie um den Hals der sich über sie Beugenden. »Ihr müßt uns helfen,« murmelte sie, »helfen!«

»Ja, ja, ja – ei, ei, ei«, flüsterte Tante Hannchen, wie man ein Kind beschwichtigt. »Er ist sehr poltrig, aber er ist sehr gut; er wird schon helfen.«

»Helfen?« – Die junge Frau schauderte zusammen. »Uns kann niemand helfen! O doch, doch,« sagte sie dann plötzlich, sich besinnend; »ich bin ja gekommen, ich wollte in Richards Namen den Onkel bitten. Er hat sein Bild nicht verkauft – wir müssen die Miete zahlen – wir haben kein Geld – wir brauchen Geld – wir haben nichts, gar nichts!«

»Um Gottes willen!« Tante Hannchen faltete ihre Hände um die sich angstvoll ausstreckenden der jungen Frau. Sie wußte weiter gar nichts zu sagen; sie war sehr erschrocken, die verstört auf sie gerichteten großen Augen machten ihr bange. Lieber Himmel, was man so im Leben alles durchmacht! Die gute Tante trippelte von einem Fuß auf den andern. Es war so still im Zimmer, der Kanarienvogel sang nicht mehr, er saß aufgeplustert wie ein gelbes Bällchen und hatte den Kopf unter die Flügel gesteckt. Sie lief hin, froh, etwas zu tun zu haben, und deckte ein Tuch über das Bauer. Dann kam sie mit einem Kamm und begann Lenas verwirrtes Haar zu strählen. Vorsichtig glättete sie die Locken, leicht, mit liebevoller Hand.

Die junge Frau sah immer geradeaus, keine Regung auf dem Gesicht. Plötzlich sagte sie: »Wer ist der hübsche junge Mann dort – da – wo das drunter steht von der Liebe?!«

Die alte Dame wurde blutrot; über ihre welken Bäckchen, um ihr spitzes Näschen zuckte es eigentümlich. »Der war mein Bräutigam«, antwortete sie stolz. »Bei Düppel 64 ist er gefallen. Beinah wären wir verheiratet gewesen, denn im Juli sollte die Hochzeit sein – beinah! Meine ganze Aussteuer lag fertig, ich habe immer gern genäht und gestrickt; aber es ging damals fixer.« Sie nickte wehmütig: »Es sollte nicht sein; er sollte auch die schönen neuen Socken nicht tragen – ach ja, man macht was durch!«

Sie putzte sich krampfhaft die Nase und schluckte ein paarmal.

Lena sah noch immer starr geradeaus. »Hast du ihn sehr geliebt – so – so wie ich« – sie stockte. »Hast du ihn sehr geliebt?« fragte sie mit einem merkwürdig dringenden Ausdruck. Langsam drehte sie den Kopf auf die Seite und sah der andern mit einem scharfen, spähenden Blick in die Augen, als wollte sie selbst die Wahrheit herausfinden. »Hättest du ihn auch ebenso geliebt, wenn – wenn – ich meine, wenn da allerhand Not gewesen wäre?«

»Ebenso«, sprach das alte Fräulein fest. Die dürftige Gestalt reckte sich, zärtlich nickte sie zu dem Bild hinüber. »Sie sagten, er wäre ein bißchen leicht gewesen, und am Ende wäre es gut, daß ich ihn nicht gekriegt hätte. Ach« – sie lächelte mitleidig – »viele Menschen sind so unduldsam und machen einander das Leben schwer. Lieber Gott, ein bißchen leicht sein! Wenn man sich wirklich lieb hat, versteht man alle Schwächen und verzeiht sie einander; man ist sich ja so nötig.«

Als Tante Hannchen ans Bett zurücktrat, streckte ihr Lena die Arme entgegen. Sie weinte leise.

Die kleine, trippelnde, verlegne Frauensperson half der jungen, schlanken in die Kleider.

Man sah es Lena an, es wurde ihr schwer, sich aufrecht zu halten; aber sie bestand darauf, gleich, jetzt gleich mit dem Onkel zu reden. »Ich muß,« sagte sie mit einer Entschlossenheit, die an Verzweiflung grenzte. »Oh, die Angst!« Sie preßte beide Hände gegen die Brust.

»Hast du solche Angst? Armes Kind, hab' nur keine Angst«, ermutigte Tante Hannchen und drückte leise den zitternden Arm, der in dem ihren lag. »Er ist wirklich gut. Geh nur hier herein!« Sie schob die Wohnzimmertür auf.

Bei dem Eintritt der beiden schnellte Bredenhofer die Grünen vom Sofa und setzte sich stramm auf. Mit seiner grimmigsten Miene musterte er die junge Frau – sah erbärmlich aus – hm!

Lena trat dicht an den Tisch, während Hannchen aus dem Wandschrank Gläser und eine Ungarweinflasche hervorkramte.

»Klappre nicht so«, fuhr der Bruder sie an. »Hol' mal was zu futtern! Dalli, dalli!«

Mit einem heimlichen, eifrigen Kopfnicken gegen Lena verschwand das Fräulein. Dieser erschien die Stube mit den unzähligen Pfeifenköpfen und dem blanken Ledersofa auf einmal ungemütlicher; ihr war, als sei ein guter Schutzgeist daraus entwichen. Sie blieb stumm und sah immer vor sich hin.

»So, so – hm, hm«, machte endlich Bredenhofer; dann legte er die flache Hand mit Vehemenz auf den Tisch. »Ist ja eine nette Geschichte! Na, wie geht's Ihnen denn jetzt, Frau Nichte, wieder hergestellt, was?«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie, ohne die zwinkernden Lider zu heben.

»Wenn ich nur wüßte, was Ihnen einfiel, zu Fuß hier angesockt zu kommen; da gibt es doch Fuhrwerk. Aber natürlich, alles anders wie andre Leute, was Besonderes!«

»Ich wollte das Geld für den Wagen sparen, Richard hat jetzt –«

»Schweigen Sie mir von Richard, von dem Fanfaron, dem Tunichtgut! Ein ganz undankbarer Junge! Ist das 'ne Art? Ich will nichts von ihm wissen!« Hermann Bredenhofer fühlte sich stets und überall von Undank umgeben; sein Wettern darüber war das Steckenpferd, das er ritt.

Lena wußte das nicht; ihre Lider schlugen sich auf, sie sah ihn starr an: »Undankbar? Warum undankbar?«

»Na, etwa nicht?« brummte er und erhob die Stimme mit jedem Wort lauter. »Ich, sein Onkel, habe viel für ihn getan, als er noch als kleiner Hosenpamper herumlief – und später? Na, er war ja immer mehr begabt als andre, man hat sich etwas Extra's von ihm versprochen. Aber Geld hat er auch immer mehr verbraucht als andre. Wer hat ihn dann jedesmal flott gemacht? Der Onkel! Als der Junge mündig war, hat er die Verwaltung von den paar Groschen, die ihm als mütterliches Erbteil zukamen, selbst übernommen. Wer sagte: tu das nicht? Der Onkel! Fragen Sie ihn nur, junge Frau, wo das Geld geblieben ist, wieviel er noch übrig hat. Wer hat ihn nach Italien reisen lassen? Wer hat ihm jeden Wunsch gewährt, ihm sein Leben so angenehm und pläsierlich gemacht, wie nur je ein Vater seinem Kind? Der Onkel – ich, ich, ich!« Bredenhofer stieß sich bei jedem »ich« mit dem dicken Zeigefinger vor die Brust. »Aber der undankbare Bengel! Nicht allein, daß er sich verplempert und die gute Partie links liegen läßt – nee, er fragt nicht mal! Vergißt alle und jede Rücksicht, jede Ehrfurcht; vergißt, wie dankbar er zu sein hat, kommt nicht beizeiten zum Onkel und sagt: »Hör' mal, du, soundso, ich möchte gern eine heiraten, sei du so gut und sieh sie dir mal an, ich bin dir so viel Dank schuldig, ich tue nichts ohne dich!« I bewahre! Da wird der Kopf aufgesetzt, und wenn man die Dummheit nicht gut heißt, wird gemault. Ich danke für so 'nen Undank!« Der Alte hatte sich warm geredet, seine rote Stirn war noch röter geworden; der Hals war ihm trocken, darum schwieg er.

Daß Tante Hannchen nicht in der Stube war! Wo blieben die trippelnden Beinchen, das piepsige Stimmchen so lange?

Es erschien wie eine Unmöglichkeit, daß Lena noch blasser wurde; und doch wurde sie's. Sie hatte sich rasch erhoben und stand jetzt hinter ihrem Stuhl, die Hände auf die Lehne gestützt. Ihre blutleeren Lippen preßten sich eigensinnig zusammen, ihre Augen blickten düster und abweisend.

Bredenhofer sah sie an, als erwarte er ein Wort von ihr; sie sprach nicht. »Na,« sagte er gutmütig, »erbärmlich genug sehen Sie noch immer aus. Wir werden Sie ein bißchen hier behalten und mit frischer Milch und Eiern auffuttern; die Hanne kocht ganz gut. Mag der Bengel sehen, wie er allein zurechtkommt. Warum hat er Sie denn eigentlich hergeschickt? Bei diesem Mopskopf« – er streckte den einen Pantoffel vor – »ich bin gespannt. Warum – he?!«

»Ich sollte Sie etwas fragen.« Mühsam und gepreßt stieß sie die Worte hervor. »Aber es hat Zeit bis morgen, ich – kann – jetzt – nicht!« Sie versank in eisiges Schweigen.

Kam denn Tante Hannchen noch nicht?!

Der Onkel war beleidigt. Solcher Undank! Man liest sie von der Straße auf, und wenn man sie fragt, antwortet sie nicht mal! »Na, denn nicht«, sagte er kurz; und dann schwieg er auch.

Jetzt kam Tante Hannchen. Lieber hätte sie sich nicht so lange beim Schinkenschneiden aufhalten sollen; ob der nun so glatt und fein war, das war ganz egal, besser wäre es gewesen, sie hätte hier geglättet.

Beide saßen mit krausen Stirnen. Das Fräulein merkte es sofort, hier stimmte nicht alles. Mit angstvoller Miene sah sie von einem zum andern.

»Glotze mich nicht so an«, schrie Bredenhofer. Stell nu' endlich mal her! Ich weiß nicht, wie ihr Frauenzimmer seid, gleich so vertatert.«

Lena hatte eins der appetitlichen Brötchen mit rosiger Fleischscheibe und feiner Sahnenbutter vor sich liegen, sie schnippelte daran herum, aber sie aß nichts; nur das Glas Ungarwein stürzte sie wie eine Verschmachtete herunter.

Eine Unterhaltung kam nicht in Fluß. Tante Hannchen gab sich die größte Mühe; sie ging ganz aus ihrer ewigen Verschüchterung heraus und hielt den drohenden Blicken des Bruders stand. Sie erzählte von den Dorfkindern, Geroks Palmblättern, vom kommenden Weihnachtsfeste und den jungen Hühnern im Stall.

Lena sagte, daß sie Geroks Palmblätter zur Konfirmation bekommen, aber nie gelesen habe. Damit war's aus; am übrigen nahm sie keinen Anteil.

Die Augen der jungen Frau hatten einen trostlosen Ausdruck, schwach lehnte ihre Gestalt im Stuhl; man glaubte ihr's, daß sie angegriffen sei, als sie nach einer durchgequälten Stunde bat, sich zurückziehen zu dürfen.

Tante Hannchen hatte ihr ihr Zimmerchen eingeräumt. Dort hinein ging sie nun nach kühlem Gutenachtgruß, sank vor dem Bett auf die Knie und biß in die Kissen; man sollte sie nicht schluchzen hören. Jammerlaut auf Jammerlaut drängte sich über ihre Lippen, und in ihrem Herzen regte sich eine ungeheuer große Beleidigung und bäumte sich wild.

»Verplempert – Partie ausgeschlagen – Dummheit« – es traf sie wie unerträgliche schmerzhafte Schläge. »Was hatte der rohe Mann alles gesagt?!«

Die Geschwister drinnen im Wohnzimmer hatten noch einen ziemlich erregten Abend. Hermann beklagte sich über den Mangel an Vertrauen von seiten der Nichte und über den Undank der Welt im allgemeinen; Hannchen erlaubte sich zu sagen, daß er selbst daran schuld sei, da er die Leute immer anpoltere und keinen zu Wort kommen lasse. Eins gab das andre. Bredenhofer warf der Schwester all ihre Missetaten vor, selbst ihre Ohnmacht vor über dreißig Jahren bei der Nachricht vom Tod ihres Bräutigams. Hannchen weinte zuletzt.

Und alles dies unterdrückt, das ganze erregte Gespräch im Flüsterton, um ja den hereingeschneiten Gast im Nebenzimmer nicht zu stören.


Herr Hermann Bredenhofer hatte eine sehr gestörte Nachtruhe gehabt, ganz entgegen seinem sonstigen Bärenschlaf. Er hatte von der jungen Frau geträumt; immer tauchte sie vor seinem Bett im Dunkel auf mit trostlosen Augen, mit langen, offenen Haaren, die Hände ineinander gerungen. Wenn er auswachte, schimpfte er und drehte sich auf die andre Seite; es dauerte nicht lange, da war der Traum wieder da, noch intensiver, noch unangenehmer.

Er war froh, als die ersten Hähne krähten; noch froher, als sein Faktotum, Webers Johann, an die Tür donnerte: »Fünf Uhr, Harre!« Erlöst fuhr er in die Kleider und trat dann hinaus auf den Hof.

In den Ställen brüllten die Kühe und schnauften die Pferde. Die verschlafenen Knechte kamen mit Mistgabeln und Eimern; die Pumpe quietschte; Laternen, auf der Brust der Träger hängend, leuchteten wie Glühwürmchen über den noch nächtigen Hof. Der »Harre« machte die Runde durch sämtliche Ställe; er wetterte viel, noch mehr als sonst, aber die Leute wußten ihn zu nehmen. Sie sagten »jo, jo« und taten dabei ruhig ihre Arbeit in der von ihnen begonnenen Weise fort. Nur nicht widersprechen oder verstockt schweigen! Man stellte den Herrn zufrieden mit einem beipflichtenden »jo«, und er war der beste »Harre« von der Welt.

Endlich am Himmel der erste Frühschein. Ein fahles Morgenlicht graute den Hof an, die Glühwürmchen verlöschten. In der Scheune begannen sie zu dreschen. »Klipp klapp – klipp klapp« gingen die Flegel im gemütlichen Takt. Bredenhofer hieß sie eiligst schweigen und schaute dann besorgt nach dem Fenster, hinter dem der Gast schlief. Die arme Frau, die Ruhe war ihr noch zu gönnen; sah so elend aus.

Er ließ sich den schwerfälligen Braunen satteln und ritt hinaus aufs Feld. Es gab draußen eigentlich nichts zu sehen, auch war die Morgenkühle empfindlich. Er ritt aber doch; wenn er wiederkam, würde sie wohl aufgestanden sein, dann wollte er sie noch einmal fragen und hören, was ihr Herz augenscheinlich so schwer bedrückte.

»Armes Ding – ist was los – hm, hm«, brummte der Reiter und setzte mit Gepolter über den nächsten Graben. »Verfluchte Wirtschaft!«

Als er zwei Stunden später ins Haus trat, kam ihm Schwester Hannchen wie eine Trauerweide entgegen, die Arme herunter hängend, das Häuptchen gesenkt.

»Nanu?« fragte er und zog die buschigen Augenbrauen.

»Fort ist sie«, stöhnte Hannchen und brach in Tränen aus. »Du hast so gepoltert, das konnte sie nicht vertragen; das arme Ding ist so zart von Gefühl. Sie weinte und sagte, du hättest sie beleidigt, und auf Richard hättest du auch so gescholten.«

»Ich – ich?!« Bredenhofer war ganz fassungslos. »Nicht ein Wort habe ich gesagt, nicht einen Ton! Bei diesem« – »Mopskopf« wollte er sagen und streckte schon das Bein vor; da fiel ihm ein, er hatte Stiefel an. »Keine Silbe habe ich gesagt!«

»Ach, du mußt doch«, weinte die Schwester. »Ich sag's ja immer, wenn du mir auch böse bist, diese Kraftausdrücke sind ein Verderb. Sie war so unglücklich, sie ist mir ein paarmal um den Hals gefallen, und dann kroch sie auf den Wagen. Der Müller von der Station war nämlich hier, er kam gerade durch und wollte mit dir wegen der Getreidelieferung sprechen, da hat sie die Fuhre benutzt.«

»Und du hast sie gehen lassen?« grollte er. »Hanne, du bist eine dumme Gans!«

Sie tat, als wenn sie das Kosewort gar nicht hörte. »Die armen, armen Kinder,« jammerte sie, »sie haben kein Geld, keinen Pfennig – sie müssen verhungern!«

»Warum nicht gar? Blödsinn!« Er ließ sich am Frühstückstisch unsanft nieder und stieß die Tasse fort, daß sie klirrte. »Mag der Junge nun ausfressen, was er sich eingebrockt hat.« Er knurrte und stützte den struppigen Kopf in die Hände. So saß er regungslos eine lange Weile.

Fräulein Hannchen schlich sich auf den Zehen hinaus und in ihr Stübchen. Dort stand sie mit gefalteten Händen vor der Kommode und sah schwimmenden Blicks zu dem Bilde ihres beinah Vermählten auf. »Gelt, du bist mir nicht böse,« sagte sie leise, ganz verschämt, »daß ich ihr die hundert Mark gab, die ich für dein neues Marmorkreuz gespart habe? Ich will dir so gern eins setzen lassen, ich spare auch wieder. Sei schon nicht böse!«

Und dann putzte sie ihren Kanarienvogel und begoß ihre Rose. Dabei liefen ihr die Tränen über die Wangen. »Lieber Gott,« murmelte sie, »ich bin so gar nichts, ich kann so gar nichts; nicht mal ein bißchen helfen kann ich irgendeinem Menschen! Ich alte, unnütze Person – ach je, ach je!«


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