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Vor der Philharmonie hielten viele Equipagen. Das Konzert war gut besucht.
Professor Dämel führte seine auserlesenen Schüler dem Publikum vor, nebenbei hatte ein hervorragender Violinvirtuose seine Mitwirkung zugesagt.
Es war häßliches Wetter. Richard Bredenhofer hüstelte, als er mit seiner Schwester im Strom der Menschen dahinschob. Ringsumher nichts wie Abendmäntel, männliche Wesen waren weniger vertreten; Professor Dämel »machte mehr in Weiblichkeit«.
Richard Bredenhofer war von einer fieberhaften Unruhe, das Programm in seinen Händen knisterte und knitterte; in einem fort blätterte er die ersten beiden Seiten um und blätterte sie wieder zurück. Da stand es: »Fräulein Magdalene Langen« und hier: »Schumannsche Lieder«. Alles andere interessierte ihn nicht.
Verstohlen sah er die Schwester an. Sie saß da wie ein Bild aus Stein, im hocheleganten Seidenkleid, kerzengerade; sie ging nachher noch in Gesellschaft zu Rienows, es war eine besondere Liebenswürdigkeit von ihr, hier zu sein.
Er sah sich um; waren denn alle Gesichter so steinern, kein einziges warm und entgegenkommend? Es legte sich ihm beklemmend aufs Herz, wie eine abkühlende Dusche kam es ihm auf den Kopf. Da – ganz vorn in der ersten Reihe – das strahlend heitere, jünglingsfrische Gesicht Doktor Reuters! Wie eine Erlösung wirkte sein Anblick auf den Verzagten, er klammerte sich mit den Blicken an diesem Gesicht fest. Und nun, nun ging's los!
»Sitz ruhig«, sagte Frau Doktor Allenstein. »Dein Hin- und Herrutschen macht mich nervös.« Es war das einzige, was sie bis jetzt geäußert hatte; auf dem Herweg stumm, seit dem Hiersein stumm.
Bredenhofer hörte nicht zu. Was er dachte, er wußte es selbst nicht. Wie fernes Brausen umrauschte ihn das Klatschen des Publikums – der hervorragende Geiger hatte gespielt; wie ein schwarzer Strich stand er oben auf dem Podium, dienerte und schwenkte den Bogen.
Was wollte der Mann da? Richards Gedanken wanderten fort aus dem hellen Saal, fort von den klatschenden Menschen – in dem kleinen Künstlerzimmer stand sie wohl jetzt, den Kopf gesenkt, horchte nach dem Beifallsbrausen und wartete auf ihre Nummer. Ob sie Angst hatte? Er hatte Angst. Er konnte nicht still sitzen, er reckte sich und streckte den Hals. Der hervorragende Geiger war fort; jetzt kam der berühmte Mann die Stufen von dem Seitentürchen herunter, mit Würde führte er die Sängerin in rosa Seide vor. Fräulein Krotoschinska stand auf dem Zettel.
Ein leises Raunen, ein flüchtiges Surren ging durch den Saal – ah, eine blendende Erscheinung! Fräulein Krotoschinska trat keck bis vorn an die Rampe, das elektrische Licht zeigte ihren tief entblößten weißen Hals noch weißer – jetzt öffnete sie den Mund, ihre mächtige Stimme füllte den Saal und drang bis in den fernsten Winkel.
Ein Beifall sondergleichen! Immer wieder mußte sie sich verneigen. Sie lächelte, sie hatte schon die richtige Art, sich mit dem Publikum in Einverständnis zu setzen; ihre großen Augen blitzten die Reihen ab, ein jeder glaubte einen besonderen Dank erhalten zu haben. »Famos – ausgezeichnet – herrlich«, murmelte man. »Bravo, bravo!« Und der gefürchtete Kritiker Plappert machte folgende Bemerkung in sein Taschenbuch: »Neuer Stern am Himmel der Kunst, junonische Erscheinung, höchst beachtenswerte Leistung, von Bühnen beizeiten mit Beschlag zu belegen.«
Professor Dämel strahlte.
»Sie werden einen schweren Stand haben«, sagte er zu Lena, als er sie die Stufen hinabführte. Ihre Hand zitterte und war eiskalt; zu Hause hatte sie so guten Mut gehabt, sich gefreut, nun war ihr doch bange. Wie hilfesuchend ließ sie ihren Blick durch den Saal schweifen – sie sah nichts, alles erschien ihr ein unentwirrbares Chaos. Dünn, kaum hörbar klangen ihr die Akkorde der Begleitung, sie holte Atem, zwei-, dreimal.
»Sie ist es – da!« hatte Richard Bredenhofer geflüstert und seine Schwester angestoßen; sein Herz klopfte krampfhaft.
Frau Doktor Allenstein verzog keine Miene, sie rückte nur mit dem Kopf.
Die kleinen Schumannschen Lieder klangen recht simpel nach der rauschenden Opernarie der Vorgängerin. So gar nichts Brillantes! Die Töne kamen und gingen, ganz melodisch, aber unbedeutend wie heimisches Vogelgezwitscher; sie machten keinen Eindruck. Der Beifall war karg; ein freundlich herablassendes, kurzes Klatschen, und dann war's aus.
Bredenhofer klappte wie wütend die Hände zusammen, er wollte den Beifall erzwingen.
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte seine Schwester halblaut.
Der Schweiß brach ihm aus, er fühlte eine entsetzliche Enttäuschung und zugleich eine wilde Indignation. Warum klatschten sie nicht, warum machten sie der jungen Sängerin nicht Mut?
Er sah ihr Gesicht in blasser Lieblichkeit, er sah die schlanke, weiße Gestalt sich verbeugen, sich abwenden und gehen. Vor seinen Augen schwamm alles, das Blut hämmerte ihm in den Schläfen, unwirsch zwirbelte er den Schnurrbart – warum sang sie nicht besser? Die Leute hatten wirklich recht, großer Beifall war hier auch nicht am Platz.
»Mäßig, sehr mäßig; ich hätte dir mehr Geschmack zugetraut. Ich muß gestehen, ich bin einigermaßen erstaunt über dich!« Es war die erste zusammenhängende Rede, die Frau Susanne heut abend von sich gab.
Ihre Worte trafen ihn wie Nadelstiche; und doch hatte sie nicht unrecht, er fühlte sich beschämt, ernüchtert, unglücklich. Wo war Lenas Poesie geblieben, ihre süße unbeschreibliche Anmut, der Funke, der ihren Gesang durchwärmte und ihn zur Seele sprechen ließ?!
»Die kleine Stimme verflattert im weiten Raum«, schrieb Plappert in sein Notizbuch – »unglückliche Wahl – gute Schule mag gerühmt werden.«
Das Konzert nahm seinen Fortgang. Schüler und Schülerinnen – der hervorragende Virtuose spielte »Ungarische Tänze« – da capo-Ruf – die Krotoschinska legte noch einmal los und erntete rasenden Beifall. Bredenhofer folgte dem Programm nicht mehr, er saß, die Stirn in die Hand gestützt, und traute sich nicht, seine Schwester anzusehen.
»Ach Gott, kommt sie noch einmal?« hörte er hinter sich sagen.
Er fuhr auf, bekannte, geliebte Klänge schlugen an sein Ohr.
»Daß du so krank geworden,
Wer hat es denn gemacht?«
»Wer machte dich so krank?« von Schumann. Er hatte sie's noch nie singen hören.
Sie stand, schlicht und rein im weißen Kleid, die Hände zusammengefaltet, den Kopf etwas hintenüber gebogen.
Kein Räuspern im Saal, kein Scharren, kein Programmknittern.
War sie sicherer geworden, oder war es nur seine große Sympathie für dieses Lied, die ihn über die Mängel hinwegtäuschte?
»Daß ich trag Todeswunden,
Das ist der Menschen Tun;
Natur ließ mich gesunden,
Sie lassen mich nicht ruhn!«
Die Tränen schossen ihm in die Augen, er schluckte krampfhaft und senkte den Kopf auf die Brust. Unbeschreiblich rührend klang der Gesang, er wagte keinen Atemzug; wie eine sanfte Klage verhallten die Schlußworte, nichts von Bitterkeit und Vorwurf darin, – sie verstand das Lied noch nicht ganz.
»O Lena, Lena, ich habe dir Unrecht getan, ich glaube an deine Künstlerschaft; ich liebe dich, ich liebe dich!«
Er hätte aufspringen mögen, eine beseligende Unruhe packte ihn. Nun sang sie das Gegenstück. Der Meister hat darüber geschrieben: »Dieselbe Weise, noch leiser«.
»Die Tage sind vergangen,
Mich hielt kein Kraut der Flur;
Und aus dem Traum, dem bangen,
Weckt mich ein Engel nur.«
Er weinte heiße Tränen im Ueberschwang des Gefühls; so hatte er nicht mehr geweint seit seiner Knabenzeit.
Frau Allenstein rückte hin und her, sie hatte das Publikum gemustert, nun tippte sie den Bruder aufs Knie: »Du bist krank, Richard, übertrieben nervös; sprich mit dem Arzt!« –
Aus. Stühlerücken und Rappeln, in Hast drängt man zu den Ausgangstüren.
Richard und seine Schwester waren eingekeilt in der Menge; jetzt ein Durchschlupf.
»Nun –?!« Er sah sie fragend, bang, erwartungsvoll an.
Sie zuckte die Achseln. »Ganz nett, aber –« »Was »aber«,« drängte er.
Sie schob ihren Arm in den seinen. »Lieber Richard, es kann sein, daß etwas aus ihr wird, ebenso gut aber, daß nichts aus ihr wird. Wie es auch sei, solche Frauen heiratet man nicht. Ist doch keine Partie! Sei mein guter, kluger Bruder! Richard!«
Er machte seinen Arm frei. »Und wenn auch nichts aus ihr würde, ihre Seele ist da, ihr eigenes Ich. Ich heirate sie.« Das Blut stieg ihm zu Kopf. »Du solltest dich schämen, so berechnend zu reden; du, eine Frau!«
Ihr Gesicht verzog sich und wechselte die Farbe. »Wir werden alle gegen diese Heirat sein, morgen schreibe ich sofort an Onkel Hermann.«
»Tu's«, sagte er trotzig und warf ihr den Mantel über.
»Adieu!«
Er bot ihr keine Hand, eisig war seine Miene.
Im Künstlerzimmer stand die Krotoschinska; sie hatte ein herrliches Bukett in ihren Händen und drehte es wirbelnd hin und her. Vor ihr drehte und wand sich ein Herr, stark jüdisch, mit blassem, weichlichem Gesicht und scharfen Augen.
»Ausgezeichnet, mein Fräulein, großartig, wirklich großartig«, sprach er leise und eifrig. »Sie sollten sich die Sache überlegen, weisen Sie sie nicht leichtfertig von der Hand!«
»Was wollen Sie?«
»Zwanzig Prozent, gar nichts! Ich habe Verbindungen mit den bedeutendsten Bühnen, die größten Künstler wenden sich vertrauensvoll an mich.
Ein abschätzender Blick überflog ihre üppige Gestalt; dann fuhr er, sich befriedigt die Hände reibend, fort:
»Wie wär's mit Petersburg, Fräulein? Lieben Sie Brillanten? Kriegen massenhaft da. Liegen bei mir Kontrakte aus. Auch Hamburg, Hannover, Köln können Sie haben. Würde mehr sein für Petersburg, lohnt sich besser – bei der Figur!«
Wieder musterte er sie eingehend. Sie vertieften sich in ein interessiertes Gespräch.
Dicht neben der Tür stand Lena Langen. Ein brennendes Rot flog über ihr Gesicht, als sie sah, wie der Agent sich um die Krotoschinska mühte. Auch der Rezensent vom »Tageblatt« hatte diese vorhin mit Komplimenten überschüttet; der allgewaltige Plappert sie sogar um ihren Besuch gebeten, er wollte einige biographische Notizen bringen.
Wer kümmerte sich um sie?
Kein Neid beschlich sie, wohl aber das Gefühl der eignen Unzulänglichkeit. Ihr fehlte eben das »bißchen Glück«, und wo das nicht war! – Sie seufzte und hing sich den bescheidenen Abendmantel um.
Da kam der Professor. Unter den Falten des Abendmantels suchte er nach ihrer Hand und tätschelte sie.
»Na, Kindchen, ganz schön, ganz schön!«
Sie versuchte zu lächeln und seinem Blick standzuhalten; er sah sie so eigen an.
»Habe ich denn gut gesungen?« fragte sie beklommen.
»Im Anfang etwas matt – hm, hm – aber das gab sich. Sie wissen doch: ce n'est que le premier pas, qui coûte – hier wie in allem andern. Haha!« Er lachte, bückte sich und suchte seine andre Hand auf ihr Herz zu legen. »Na, schlägt das Herzchen noch so sehr?«
Sie wich zurück. »Herr Professor, sagen Sie mir, habe ich wirklich nicht schlecht gesungen?«
Er musterte ein klein wenig spöttisch ihr erregtes Gesicht. »Zum Schluß sogar sehr gut, künstlerisch eigentlich viel besser wie die Krotoschinska – aber das ist ein Frauenzimmerchen, ha! Wie geschaffen für die Kunst! Macht rapide Karriere! Ihnen –« er gab plötzlich ihre widerstrebende Hand frei und machte ein kaltes Gesicht – »Ihnen fehlt jedes Auftreten!«
Langsam schritt Lena die Stufen der Seitentreppe hinunter; von unten blies ihr der Nachtwind entgegen; sie fühlte sich so allein. Was er wohl sagen würde? Oh, wenn sie ihm, ihm wenigstens doch gefallen hätte! Im Konzert war er sicherlich gewesen, gestern hatte er's zugesagt. Ein heißes Gefühl überkam sie plötzlich, trotzdem ihre Glieder in dem dünnen Abendmäntelchen schauerten; sie sehnte sich nach ihm.
»Lena – guten Abend – Fräulein Lena!«
Sie fuhr zusammen, daß sie fast von der Schwelle des Ausgangs heruntergefallen wäre. Da stand er vor der Tür, den Hut in die Stirn gedrückt, das Stöckchen unterm Arm, bleich, im flackernden Licht der Laterne.
»Ah – Sie!« Mit einem glückseligen Lachen reichte sie ihm die Hand. Er drückte sie zärtlich und zog sie dann durch seinen Arm. Rechts und links verliefen sich die letzten Konzertbesucher – windverwehte Mäntel und flatternde Schleierzipfel. Er fühlte sich ganz allein mit ihr, losgelöst von aller Welt, nur zu diesem Mädchen gehörig.
Sorgsam, ihren Arm an sich drückend, führte er sie zur nächsten Droschke. Sie sprachen nicht, sie kämpften gegen den Wind an, der die schlanken Gestalten umzuknicken drohte.
Er hob sie in die Droschke; wie im Traum ließ sie sich's gefallen. Sie konnte gar nicht denken, hatte nur das eine Gefühl erwartungsvoller Freude, wie sie es als Kind vor Weihnachten gehabt.
»Lena,« sagte er erregt und versuchte vergebens, seiner Stimme Festigkeit zu leihen, »Sie, Sie haben gesungen wie ein Engel!«
Und plötzlich lag er vor ihr auf dem Boden des engen Wagens, den Kopf an ihre Knie gedrückt.
»Lena,« flüsterte er, und doch klang's ihr wie Posaunenton, »ich habe Sie lieb, ich habe dich lieb – dich, dich dich – zum Sterben!«
Er richtete den Kopf auf und suchte im Dunkel den Blick ihrer Augen. »Lena, sieh mich an« – er legte beide Hände an ihre Wangen – »hast du mich lieb?«
Sie nickte; eine unbeschreibliche Seligkeit nahm ihr den Atem, ein unterdrücktes Lachen kam ihr aus der Brust und dann ein krampfhaftes: »Ja, ja, ich hab' dich lieb, ich bin dir so gut!«
Sie schlang beide Arme um seinen Hals und zog die Lippen nicht zurück vor seinem Kuß.
Draußen scharfer Wind, der durch die Ritzen des Wagens pfiff; feuchte Nachtkälte und spärlich flackernde Lichter. Innen in dem ratternden Gefährt eine große Seligkeit. Da war gar kein Gedanke an die Zukunft; warm floß es aus einem Herzen in das andere, ein köstlicher Strom goldener Hoffnungen.
»Ob sich je zwei Menschen so geliebt haben?« fragte sie triumphierend, ihr glühendes Gesicht von dem seinen hebend.
»Nein, nein, nein!« Er küßte sie stürmisch.
»Es gibt keine Liebe gleich der unseren; sie überwindet alles – oh, Lena!«
Der Wagen hielt; sie waren schon in der stillen Straße vor dem hochstöckigen Haus.
»Die Mutter!« sagte sie plötzlich erschrocken und dann gleich darauf mit einem glückseligen Lachen: »Die wird denken, sie träumt; sie glaubt mir's gar nicht!«
»Ich komme mit dir, dann wird sie dir's glauben. Komm, gib mir deine liebe Hand!«
Hand in Hand, wie Kinder, die einander führen, gingen sie die Stufen hinan. Noch brannte das Gas auf den Treppen, aber es war schon ganz still im Haus, niemand begegnete ihnen.
Die letzten Stufen flog Lena hinan. Sie hatte sich losgerissen, nun zerrte sie stürmisch an der Klingel.
Innen Pantoffelschlurren.
»Bist du's, Lena?«
»Ja, ja!«
Die Kette fiel rasselnd, es wurde aufgeschlossen.
»Mein Kind, es ging wohl sehr gut? Die Anna ist zum Kränzchen. Ich – ah!«
Frau Langen wich zurück bis an die Wand des Korridors – was wollte der fremde Herr da hinter ihrer Tochter? Er verbeugte sich tief, er griff nach ihrer Hand!
»Mutter!« Hastig, mit einer beängstigenden Leidenschaftlichkeit, warf sich ihr Lena an den Hals.
»Mutter, ich bin so glücklich! Da – da ist er,« – sie zog ihn neben sich – »wir haben uns lieb – weißt du, der Herr, der mich bei Doktor Reuter begleitet hat, – der, mit dem ich auch im Herbst gereist bin, und – und – ich bin so glücklich, Mutter!« Sie brach in Lachen und Schluchzen zugleich aus.
»Mein Gott!« Frau Langen faßte sich an den Kopf, ihre zarten Wangen erröteten tief, ratlos blickte sie den fremden Mann an. »Was ist denn, was –«
»Gnädige Frau«, – Bredenhofer hatte augenblicklich gar keinen Begriff von der Merkwürdigkeit der Situation; als habe er keine Sekunde zu verlieren, so sprudelte er hervor: »Gnädige Frau, sagen Sie »ja« – gnädige Frau, ich kann nicht leben ohne Lena! Gnädige Frau« – er küßte stürmisch ihre Hand – »legen Sie uns nichts in den Weg – gnädige Frau?!«
Er sah sie flehend, treuherzig aus hübschen offenen Augen an.
»Mein Gott, mein Gott!« Frau Langen zitterte am ganzen Leib; an ihrem Hals schluchzte krampfhaft die Tochter, ihre Hand hielt der junge Mann und ließ sie nicht los. Einen Augenblick war's ihr, als sei sie irre oder liege im Bett und habe einen tollen Traum.
»Kommen Sie herein,« sagte sie halblaut – »ich – ich – bitte, treten Sie näher!«
Drinnen im gemütlichen Zimmer brannte die Lampe; auf dem Tisch standen Tee und gestrichene Butterbrötchen für Lena. Die vertrauten Umgebungen gaben Frau Langen einigermaßen die Fassung wieder. Sie fühlte sich Herr in ihrem Hause, aber sie mußte sich schnell setzen, die Knie wankten ihr.
»Bitte, nehmen Sie Platz!« Sie deutete verbindlich auf einen Stuhl und versuchte sich mit kühler Gelassenheit zu wappnen.
»Was wünschen Sie, mein Herr – Herr Bredenhofer, nicht wahr? Meine Tochter hat mir wohl Ihren Namen genannt, aber – wie konnte ich denken?! Lena ist immer so übereilig, so vorschnell, ich – Sie sehen, ich bin vollständig fassungslos! Darf ich bitten« – sie war jetzt ganz Dame, ganz kühl – »mich etwas aufzuklären?«
»Oh nicht so, Mutter! Nicht so!« Lena stürzte auf sie zu und schmiegte sich an sie. Sie drückte ihre Wange an die der Mutter und flüsterte ihr ins Ohr.
Bredenhofer fing an zu reden, im überströmenden Gefühl war er beredter denn je. Er sprach von der gemeinschaftlichen Reise, vom Wiedersehen bei Reuter, vom heutigen Konzert. Die Worte flossen ihm von den Lippen; er war ein Dichter, als er von seiner, von Lenas großer Liebe sprach.
Frau Langen war gerührt. Sie streichelte der Tochter das Haar und sagte zugleich vorwurfsvoll: »Und ich habe nichts geahnt? Lena, Lena!«
Dann faltete sie die Hände und sah ergebungsvoll drein, die Tränen liefen ihr dabei übers Gesicht. Sie suchte nervös in ihrer Tasche, sprang dann auf und suchte am Nähtisch; endlich hatte sie das Taschentuch, es lag im Strickkorb.
Als sie sich umdrehte, sah sie zwei Augenpaare flehend auf sich gerichtet. Bredenhofer und Lena hatten sich an der Hand gefaßt.
»Mutter!« sagte Lena nur, und Bredenhofer wie ein Echo: »Mutter!«
Die arme Frau nickte stumm, sie war ganz verstört; und dann faltete sie die Hände:
»Gebe Gott seinen Segen!«
Mit einem Jubellaut umschlangen sich die beiden und blieben so stehen, mit glühenden Gesichtern, eins in den Anblick des andern versenkt.
Frau Langen mußte an ihren verstorbenen Mann und an ihre eigene Verlobung denken. Da war alles anders gewesen, gar nichts Romantisches. Hier war Poesie. Eine leise kleine Freude, daß ihre Lena das erlebte, fing an, sich in ihr zu erheben.
Als Bredenhofer zwei Stunden später, gegen Mitternacht, seine Braut verließ, gab ihm sogar die Mutter einen Kuß; sie küßte ihn auf die Stirn und errötete dabei wie ein schüchternes junges Ding.
Auf der Treppe fiel ihm ein, daß er gar nicht von seinen Verhältnissen gesprochen hatte, weder von seinen pekuniären noch von seiner Familie.
Sie hatten ihn auch gar nicht gefragt.