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XVIII.

Wenn unterm modrigen Winterlaub die Erde sich dehnt und reckt, dann dehnt es sich auch in der Menschenbrust. Sei es Hoffnung, sei es Schmerz, alles wird um die Zeit lebendiger.

Es war Februar. Ein selten frühes Frühlingsahnen nach langem Erstarren.

Bei Bredenhofers ging es viel treppauf und treppab; es durfte nicht geklingelt werden. »Bitte klopfen« stand an der Entreetür.

Schon am frühen Morgen kam Frau Susanne Allenstein, am Mittag kam sie zum zweiten und am Abend zum dritten Male. Sie weinte, wenn man sie nicht immer zum Bruder ließ.

Doktor Allenstein kam ebenfalls täglich; er war ein gutmütiger Mensch, und wenn er die Treppe wieder hinunterging, waren in seinem jovialen Gesicht die Augenbrauen hochgezogen. Oefters begleitete ihn sein Kollege, der berühmte Spezialist für Hals- und Lungenkrankheiten; der Mann war seiner Sache sicher, der hatte bereits im Januar, als er das erstemal kam, achselzuckend gesagt: »Letal!«

Sie sprachen im Krankenzimmer immer flüsternd; Lena lauschte gespannt und verstand nicht.

Wie war das eigentlich nur so rasch gekommen? Bredenhofer hatte sich nach der ersten Attacke merkwürdig erholt gehabt. Niemand dachte Schlimmes, und selbst Lena verlor die unheimliche Angst.

Er stand auf, er ging, ohne sich auf ihren Arm zu lehnen, eilig und kräftig im Zimmer auf und ab: das Atelier wurde geheizt, er machte die ersten Entwürfe zu seinem Bild.

Bredenhofer trug die gute Sammetjoppe, er empfing oft den Besuch Reuters. Beide Männer vertieften sich dann ganz, bis auf den Korridor hörte man ihr lebhaftes Gespräch, nur ab und zu unterbrochen von heiserem Hüsteln.

»Ihr Mann ist ein ganz genialer Kopf, liebe junge Frau«, rief Reuter eines Tages Lena zu, als diese das Atelier betrat. Sie störte dort nicht gern, aber heute war ihr bang geworden, der gute Doktor blieb so lange; immer erregter klang das Husten ihres Mannes durch die Wand.

Die junge Frau konnte ihren Zustand nicht mehr verbergen. Die Mutter hatte bei der Entdeckung geweint und die Tochter unter vielen Tränen ans Herz geschlossen; man wußte nicht, freute sie sich oder jammerte sie. Der Schwägerin hatte Lena keine Mitteilung gemacht, aber die ließ es nicht an zarten Anspielungen fehlen. Auch nicht an weisen Ermahnungen. »Solltest du – ist es wirklich der Fall – ich weiß ja nichts Genaues – aber dann mußt du dich recht in acht nehmen. Ich würde nicht so viel sitzen, geh' fleißig an die Luft, und sei recht heiter, immer recht heiter!«

Lena hatte die Lippen zusammengekniffen. »Ich weiß nicht, was du willst«, sagte deutlich ihr abweisender Blick.

Nur Richard hatte keine Ahnung. Schwester und Schwiegermutter sagten ihm nichts, sie wollten ihn jetzt nicht aufregen. Und Lena selbst? Hundertmal hatten sich schon ihre Lippen geöffnet, um ihm das Geständnis zu machen, und dann hastig wieder fest geschlossen. Es regte sich in ihr wie Beleidigung; er war so ganz verrannt in seine Ideen, mit sich vollauf beschäftigt, in fieberhafter Eile wollte er jede Minute ausnutzen – was sollte sie ihn stören? Wenn er erst ganz gesund war, dann wollte sie sprechen.

Ganz gesund –?! Ganz krank.

Der Tag kam, an dem Lena und das entsetzte Dienstmädchen ihn zusammengebrochen vor der Staffelei fanden. Das Fenster im Atelier stand halb offen, er hatte es wohl geöffnet. Die erste lauliche und doch heimtückische Luft wehte herein. Er lag am Boden, ohnmächtig, Blutflecken auf der Joppe, noch Blut auf den schneebleichen Lippen.

Die Magd kreischte auf, sie wäre am liebsten davongerannt; aus Lenas Mund kam kein Ruf.

Nun verließ er das Bett nicht mehr. Sein Lebenslicht flackerte und züngelte mit langer, verkohlter Schnuppe; Gevatter Tod stand auf der Lauer, es umzustoßen.

Frau Langen war außer sich – daß ihrer Tochter das passieren mußte! Ihr graues Haar schien noch grauer, ihr Rücken beugte sich, sie verweinte die Nächte. Am Tag war sie fast immer in der Elsholzstraße zu finden; im Wohnzimmer saß sie in der Sofaecke zusammengekauert.

Mit brennenden, tränenlosen Augen ging Lena hin und her. Stundenlang saß sie regungslos am Bett ihres Mannes und hielt seine Hand. Auf alle ärztlichen Ermahnungen, sich zu schonen, auf die Bitten der Mutter, schüttelte sie nur den Kopf. »Nachher!« Das war das einzige, was sie sagte.

Der Kranke schlief meistens oder er lag in einer stumpfen Apathie.

»Die Lebenskraft ist vollständig erschöpft,« sagte der berühmte Spezialist zu Allenstein, »aufgezehrt das Oel in der Lampe. Die Konstitution ist überhaupt schwach, starken Anforderungen nicht gewachsen. Ich sagte es Ihnen ja gleich, verehrter Kollege, nichts mehr zu machen! Uebrigens, Schmerzen leidet er nicht, er löscht aus.«

Jetzt sprachen sie nicht mehr flüsternd im Krankenzimmer; wozu auch? Das junge blasse Weib wußte ganz genau, um was es sich handelte. Sie verzweifelte nicht, aber sie kämpfte nicht mehr; sie streckte die Waffen in stummer Resignation.

Am Abend steigerte sich das Fieber des Kranken, die Nächte durch phantasierte er. Frau Allenstein hatte einen exzellenten Wärter engagiert, Lena schickte ihn ins Nebenzimmer, dort schlief er.

Sie selbst saß wie ein Geist neben dem Lager ihres Mannes und horchte und horchte. Oh, niemand sollte das Gespräch belauschen, das ihre Seele mit seiner Seele hielt! Er delirierte, aber mitten in dem wilden Gemisch von Wahn und Unsinn, von phantastischen Entwürfen, bekannten Plänen und neuen, kühneren, unmöglichen, kamen Stellen von unsäglicher Schönheit. Da sprach er von der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, von ihrer Reise, der sonnigen Stunde im Kölner Dom, ihrem Wiedersehen in Berlin und von ihrem ersten Kuß. Er sprach flüsternd, wie ein heimlich Liebender.

Da konnte Lena weinen. Und diese Tränen schwemmten fort, was in ihrer Seele an Bitterkeit gegen ihn sich angehäuft, was sie von ihrem Mann getrennt hatte. Sie preßte ihre Lippen auf seine Hände.

Eines Nachts erwachte er. Seine Augen blickten ganz klar.

Auf dem Tisch brannte die kleine Lampe mit trüb verhangenem Schein.

»Heller!« rief er ganz laut.

Lena ging und schob den Schirm zurück, dann machte sie: »Pst« und legte den Finger an die Lippen. Leise glitt sie wieder neben sein Lager. »Daß er nicht aufwacht,« flüsterte sie, »wir sind allein!«

»Ja, allein,« sagte er ebenso leise, »allein – sie sollen uns alle allein lassen – ganz allein – komm!« Er bewegte die Lippen wie zum Kuß und sah sie sehnsüchtig an.

Sie legte ihren Mund auf den seinen und sog seinen fieberhaften Atem ein.

»Mein Mann – mein Geliebter – Richard!« hauchte sie im Kuß; es klang mehr wie ein Stöhnen.

Er atmete schwer, sie fühlte, daß sie ihn bedrückte, und zog ihre Lippen zurück; sie waren auch heiß geworden von seinen trockenen, verbrannten.

Seine übergroßen Augen suchten ihren Blick. »Ich muß sterben«, sprach er jetzt deutlich und so ruhig, als ob jemand sagte: »Ich muß reisen.«

Sie widersprach ihm nicht; sie preßte nur stumm die Hände zusammen in einem furchtbaren, entsetzlichen Schmerz.

»Ich sterbe,« wiederholte er, »gern! Arme Lena – du mußt bleiben – das Leben – es drückt – drückt und alles – alle!«

Es zog sie nieder mit gewaltiger Last, ihre Knie knickten ein; wie niedergeschmettert sank sie vor dem Bett hin und legte die Stirn auf dessen Rand.

»Arme Lena«, flüsterte er immerfort, hob schwach die zitternde Hand und legte sie auf ihren lockiger: Scheitel.

Die trockene Glut dieser armen Hand durchrieselte ihren Körper bis in die feinsten Nervenfäden. Ein nicht endenwollender Tränenstrom drängte sich ihr in die Augen und flutete nieder auf das Leinen des Bettes. Mit beiden Armen umklammerte sie den Körper des Sterbenden. »Bleibe, Richard,« schluchzte sie verzweifelt, »bleibe bei uns, bei mir – bei deinem Kind!«

»Deinem Kind –!« Gellend lösten sich die zwei Worte von dem übrigen Geflüster und drangen in schneidendem Jammer durch die einsame Nacht.

Was war das?! Er fuhr zusammen und richtete sich, plötzlich stark geworden, halb auf. »Kind? – Lena, Lena!«

Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust und ächzte: »Ja, ja – mein Kind, dein Kind – –!«

Er war ganz still, er rührte sich nicht; seine Augen hatten ein stilles, gespenstisches Leuchten. Und nun zuckte es in seinem Gesicht, so kläglich, so schmerzlich wie bei einem Kind, das weinen will. Seine Lippen öffneten sich und schlossen sich und formten nur die zwei einzigen kurzen Worte: »Mein Kind!«

Lena richtete sich auf, mit gekrallten Fingern griff sie sich ins Haar und riß daran. Halb von Sinnen, schrie sie mehr, als sie sprach: »Du wirst es nie sehen – nie – nie!« Dumpf schlug ihr Kopf wieder auf die Bettstatt. So blieb sie liegen.

Lange Minuten vergingen, eine Viertelstunde. Nebenan schnarchte der Wärter, er rasselte und sägte unbekümmert um das Elend, das unter seine Obhut gegeben war.

Der Kranke hatte sich zurückgelegt, aber er schlief nicht; unverwandt ruhte sein glasiger werdender Blick auf dem Kopf des Weibes. »Lena«, lallte er.

Sie fuhr auf und starrte ihn an.

»Kuß« – –

Kaum konnte man das Wort hören, sie verstand es gleich.

Ein Lächeln irrte über seine Züge, flüchtig wie ein letzter Sonnenschimmer vor Anbruch der Nacht. »Jetzt – danke ich – dir – verzeih – ver – dan – ke –« Das Lallen wurde ganz undeutlich, immer unverständlicher.

»Was, was sagst du? Richard, noch einmal, o sag's!«

Er schüttelte den Kopf – wieder jenes irrende Lächeln – und dann deutlicher: »Jetzt – gern gelebt –!« Er machte eine lange Pause, und dann kam's nach wie ein Hauch: »Gern gelebt – danke –!«

Lena schluchzte nicht mehr wild, ihre Tränen waren versiegt. Sie lag auf den Knien, stemmte die Ellenbogen aufs Lager und sah den Gatten unverwandt, welt- und zeitvergessen, wie versunken an.

Unsicher tasteten seine Hände, bis sie ihre Wangen fanden; da schmiegten sie sich an.

So blieben die beiden. Die Nacht verging, und der graue Morgen stahl sich durchs Fenster.

So hatten sie sich noch nie geliebt. Es war die Liebe der letzten Stunde.


Onkel Hermann war von Althöfchen gekommen. Allensteins hatten ihm telegraphiert. Er hatte den Neffen noch einmal sehen dürfen, aber dieser ihn nicht erkannt. »Fort – hatte Richard unruhig gelallt und auf der Decke umhergegriffen.

Diesen Ausgang hatte Herr Hermann Bredenhofer nicht erwartet, er war ganz außer sich. Jetzt saß er, Elsholzstraße, im Wohnzimmer der jungen Leute auf dem Stuhl neben der Tür: hielt sich das rot und gelb gepunktete Taschentuch vors Gesicht und weinte laut.

Sie waren alle versammelt schon seit dem frühen Morgen.

Susanne, in tiefes Schwarz gekleidet, lehnte schwach in der Sofaecke; das ging über ihre Kräfte! Heute vor acht Tagen noch auf einem Ball getanzt, und jetzt, jetzt saß sie hier und wartete auf den Tod ihres einzigen Bruders – das war zu kraß, zu furchtbar! Ihre Nerven hielten dem nicht stand;, sie zitterte wie Espenlaub.

Allenstein ging ab und zu; bald war er drinnen im Schlafzimmer, bald bei seiner Frau, die kläglich nach Baldriantropfen und starkem Wein verlangte.

Frau Langen saß etwas abgesondert auf Lenas Platz am Fenster; ängstlich und unsicher klebte sie am Stuhlrand. Sie glich einem verschüchterten Vogel, jeden Augenblick gewärtig, aufgescheucht zu werden. Oh, wie sie sich nach ihrem Sohn, ihrem Fritz, sehnte! Der würde sich wie eine schützende Mauer zwischen sie und jene Leute stellen. Nie, nie würde sie mit denen eine Fühlung haben! Ihre Gegenwart bedrückte sie, die ganze Art war ihr fremd und unsympathisch. Die arme Lena, nicht einmal die letzte Stunde konnte sie, unbehelligt von der Verwandtschaft, mit ihrem Manne verbringen!

Lena war merkwürdig still; sie ging herum mit einer traumhaften Entschlossenheit in den Augen. Sie machte auch keinen Versuch mehr, mit ihrem Mann zu reden, dem Sterbenden noch letzte Worte zu entlocken. »Wir sind fertig miteinander«, sprach sie zur Mutter.

Doktor Allenstein sang ihr Lob in allen Tonarten. »Die Frau benimmt sich großartig«, erklärte er jetzt, eben aus dem Krankenzimmer zurückgekehrt.

Frau Langen sah ihn dankbar an, das ihrer Tochter gespendete Lob tat ihr wohl, selbst in dieser Stunde; überhaupt war Allenstein ihr noch der Sympathischste von der ganzen Gesellschaft.

»Großartig«, wiederholte der Doktor noch einmal anerkennend. »Und wie die zarte Person sich aufrecht hält, schon zwei Nächte nicht aus den Kleidern gekommen! Dabei denkt sie an alles – alle Achtung!« »Freilich, freilich,« meinte Frau Allenstein, »sie tut ihre Pflicht in vollem Maße. Ich erkenne sie auch an und beklage sie sehr. Aber sind wir nicht ebenso zu beklagen, wir, die wir so innig mit ihm verknüpft sind? Oh« – sie machte eine Handbewegung nach Onkel Hermann hin – »oh, wir beiden sind zu hart betroffen! Richard, Richard!« Sie schluchzte laut auf und rang die Hände. »Wenn ich bedenke, daß dieser schöne, liebenswürdige, geniale Mensch so enden muß!«

Onkel Hermann ließ ein Brummen vernehmen.

»Wie bitter ist mir,« fuhr Susanne weinend fort, »daß ich nicht zu ihm darf! Wir sind doch seine Allernächsten. Es ist unrecht von Lena, daß sie mich nicht herein läßt!«

»Susanne«, mahnte Allenstein mit einem bedeutungsvollen Blick auf Frau Langen. »Ich finde, die junge, tapfere Frau hat ganz recht, sie –«

»Sei still, Karl«, schnitt ihm die Gattin das Wort ab. »Du hast wirklich hierfür kein Verständnis, in dir spricht nicht die Stimme des Bluts. Aber wir, wir – nicht wahr, Onkel Hermann?!«

»Ich gehe rein«, sagte dieser, tat noch einen gewaltigen Schneuzer, stand dann auf und öffnete das Nebenzimmer. Es war leer, das noch ungemachte Bett des Wärters stand darin; man sah's also, der hatte die Nacht geschlafen. Nun kam die Tür zur Schlafstube.

»Nicht, nicht«, rief Allenstein und wollte ihm nacheilen.

»Karl«, sagte Frau Allenstein, und hielt ihren Mann am Rockschoß fest.

Der alte Bredenhofer klopfte nicht an der bewußten Tür, er drückte einfach die Klinke nieder. Da wurde auch schon von innen geöffnet, Lena stand im Eingang, diesen mit ihrem Körper deckend.

»Hier kann niemand herein«, sagte sie mit einer Stimme, leise und rauh zugleich. Ihre entstellte Gestalt schien sich zu recken, schien zu wachsen und die alte Schlankheit wiederzugewinnen. Sie streckte den Arm aus und schob den Eindringling zurück: »Niemand!«

Die Tür schloß sich wieder, man hörte den Schlüssel umdrehen.

Einen Augenblick stand der Alte ganz verdutzt, dann vertiefte sich die starke Röte seines Gesichts noch um eine Schattierung. »Na, nanu,« murrte er, »uns ausschließen?!« Er klopfte.

Allenstein sprang zu: »Aber Onkel, so laß doch, du darfst wirklich jetzt nicht stören!« Er zog ihn ins Wohnzimmer zurück, die Tür nach der Nebenstube sorgfältig schließend.

Onkel Hermann war außer sich, er dachte nicht an Frau Langens Gegenwart. Er murrte laut: »Einen nicht mal reinlassen! Mich, der immer Vaterstelle an ihm vertreten habe! Aber so ist die Welt heutzutage. Mich! Alle konnten draußen bleiben, aber ich mußte rein – so was!« Onkel Hermann rannte mit starken Schritten auf und nieder. Seine Stiefel knarrten.

Die arme Langen am Fenster konnte es nicht mehr aushalten, die ganze Situation war ihr zu schrecklich. Sie stand auf und schlich aus der Stube; draußen wankte sie im Korridor auf und nieder, und fühlte sich bei allem Elend in dem engen, dunklen Gang noch wie erlöst.

»Aber Onkel,« wagte Allenstein zu sagen, als Frau Langen das Zimmer verlassen hatte, »wie rücksichtslos von dir – jetzt!«

Da kam er gut an! Susanne brach in einen heftigen Weinkrampf aus, der damit endete, daß sie, »Richard, o mein Richard« stöhnend, auf dem Sofa lag. Sie war nicht zu beruhigen, sie zitterte am ganzen Leib.

Onkel Hermann saß ingrimmig auf seinem alten Platz an der Tür. Er sagte nichts mehr, der Raptus war nun vorbei, er war im Grunde viel zu betrübt. Und dann hatte es ihm eigentlich doch imponiert, wie ihm das junge Weib die Tür vor der Nase zuschloß. Das rot und gelb gepunktete Taschentuch war in immerwährender Bewegung, die dicken Tränen liefen ihm über die Backen in den eisgrauen Schnauzbart. »Ich wünschte, ich hätte die Hanne mitgebracht,« murrte er, »bei so was ist sie ganz gut. Wär' sie doch mal zu gebrauchen! Verdammte Zucht – ach, mein Junge – mein armer, lieber Junge!« Er schluckste laut, weil ihn der Schmerz inwendig stieß.

Es verging wohl eine Stunde; langsam, bleiern schlich sie dahin, ihre Minuten zu Ewigkeiten dehnend.

Der Doktor sah inzwischen wieder einmal ins Krankenzimmer und kehrte achselzuckend, mit betrübter Resignation, zurück. »Noch immer beim alten!« Er unterdrückte ein Gähnen und naschte von den Früchten auf dem Tisch: er hatte entschieden Hunger. Dann setzte er sich auf den Platz am Fenster, zog eine Zeitung aus der Brusttasche und vertiefte sich in dieselbe.

Susanne war abgemattet eingeschlafen. Man hörte nichts in der Stube als ihre gleichmäßigen Atemzüge, das Knittern des Zeitungspapiers und in regelmäßigen Zwischenräumen das dumpfe Schneuzen Onkel Hermanns.

Auf dem Korridor hatte das Hin- und Herwanken aufgehört; Frau Langen saß in der Küche, dort konnte sie wenigstens ihren Tränen freien Lauf lassen und fand bei der Unschuld vom Lande reges Mitgefühl. Die mochte den Herrn und die Madam gut leiden und prangte zum Zeichen ihrer Teilnahme in einer breitwollenen, schwarzen Trauerschürze und einer rot verheulten, geschwollenen Nase.

Aus dem Krankenzimmer drang kein Laut. Eine bange Stille kroch von dort durchs Schlüsselloch in die ganze Wohnung. Die Möbel standen verstaubt und öde, die Gardinen hingen schlaff. Auf dem Küchenherd kein Feuer.

Es ist ganz stumm. Es ist ganz traurig.

Da plötzlich ein Drehen des Schlüssels, ein Oeffnen der Schlafstubentür!

Die drei im Zimmer fahren auf. In der Küche hört Frau Langen den entsetzten Schrei. der Allenstein und eilt herbei; hinter ihr kommt das Mädchen und reckt den Hals.

Mitten im Zimmer steht Lena. Die Lippen heben sich nicht ab von der Farbe des Gesichts, alles blaß, marmorweiß und kalt. Ihre Augen sehen und sehen doch nicht; sie blicken nur nach innen.

»Er ist tot«, sagt sie langsam und deutlich, dreht sich um und geht wieder zu ihm.


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