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»Höher, höher, singen Sie doch höher! Ich begreife nicht, wie man das nicht tun kann!« Der berühmte Gesangsprofessor Dämel fuhr sich an die Ohren. »Herr Gott nochmal, singen Sie gleich höher, es ist nicht zum Aushalten – höher, höher, ich werde rasend!« Er schrie; die Schülerin, ein junges dickliches Ding von robuster Gesundheit mit dummen aufgerissenen Augen, brach in Tränen aus.
»Weiter, weiter!« Der Professor zog die Uhr und trommelte nervös auf dem Rücken des Begleiters. »Spielen Sie dieselbe Leier noch mal. Fräulein Langen, Sie jetzt! Aber ich bitte hoch genug; es ist zum Verrücktwerden!«
Das überschlanke Mädchen trat neben den Flügel. Lena Langen hatte sich wenig verändert seit dem Herbst, die scharfe Winterluft draußen hatte das blaßbräunliche Gesicht nicht frischer gefärbt; jetzt brannte ihr das Rot der Erregung auf den Wangen, gerade unter den Augen, sie sah ängstlich drein.
Der Begleiter schlug die einleitenden Akkorde an, es war die große Arie aus der Schöpfung: Auf stolzem Fittich schwinget sich der Adler. Das Rezitativ glückte; aber nun – »Mehr Kraft, Kraft«, brüllte der Professor. »Halt! Denken Sie, mit solchem Gepiepe schwingt sich ein Adler? Höchstens eine Gans.«
»Ha ha, ha ha ha!« Allgemeines Gelächter. Professor Dämel sah sich schmunzelnd, den langen glänzenden Bart streichend, um. Er liebte es, Witze zu machen, und wenn sie auch schlecht waren, was schadete das? Aus berühmtem Mund macht sich dergleichen immer geistreich.
Sämtliche Schülerinnen der Ensemblestunde wollten vergehen vor Lachen – nein, war das amüsant, witzig! Kein Adler, eine Gans, ha ha ha! Sie hielten die Taschentücher vors Gesicht und prusteten.
Der Professor konnte mit dem Erfolg zufrieden sein. Noch ein Schmunzeln, dann mit plötzlicher Amtsmiene, aber in gemäßigterem Tone: »Bitte, noch einmal, Fräulein Langen! Mehr Kraft! Tief Atempumpen, hier, hier« – er schlug sich auf den Bauch – »Stimmritze weit offen! Also!«
Die Arie begann von neuem. Lena strengte sich übermäßig an; die Sehnen an ihrem Hals schwollen, sie holte Atem, daß man glaubte, die Brust müsse ihr zerspringen, das Notenblatt in der Hand bebte. Nun war sie zu Ende. Ein Kitzel kam ihr in die überanstrengte Kehle, sie quälte sich mit einem kurzen Gehüstel.
»Leidlich, leidlich«, sagte der Professor. »Musikalische Auffassung ganz gut, auch die Intonation – hm, hm – aber Sie können das Musikstück nicht zur Geltung bringen, Ihnen fehlen eben die Stimmmittel. Nicht alle Mittel, bewahre,« setzte er nach einem raschen Blick in das Gesicht der Schülerin hinzu, »jedoch – hm – der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!« Wieder ein Witz! Nein, heute jagte einer den andern!
Ein elegantes Kleid rauschte; mit Wohlgefallen sah der berühmte Mann auf die üppige Gestalt. Fräulein Krotoschinska war aus Ostpreußen – »Astpreißen«, sagte sie – , wollte zur Bühne gehen und ließ sich jetzt, das letzte halbe Jahr auf dem Konservatorium, eigentlich nur noch herab, die Stunden zu besuchen. Pünktlich war sie nie gewesen, aber desto talentierter. Sie konnte zwei Töne nebeneinander treffen, sogar zuweilen die Terz; sie hielt sich einen Begleiter, sogenannten Einpauker, und hatte dieser zwanzigmal eine Sache mit ihr durchgearbeitet, wickelte sie sie ab, wie auf der Drehorgel. Aber wenn Fräulein Krotoschinska so dastand, die volle Brust heraus gedrückt, die großen Augen umherfeuernd, ihre mächtigen Töne herausschleudernd, dann mußte jeder gestehen: »Ah, dieses Talent!«
Professor Dämel strich immer häufiger den glänzenden Bart, er war sehr befriedigt: Das stark »Astpreißische« störte ihn nicht, ebenso wenig das Tremolo. Bei diesem Material! Er schätzte es besonders, weil es ihm noch nicht gelungen war, es zu ruinieren. Und dann die Erscheinung! »Sehr gut, liebes Kind, sehr gut! Setzen Sie sich. Ich bin von Ihrer Zukunft überzeugt. Famos, ganz famos. Schonen Sie sich nur um Gottes willen! Recht vorsichtig, vorsichtig! Sie sind es der Kunst schuldig!«
Die große Person mit dem breiten Brustkasten und den ausladenden Hüften setzte sich stolz. Sie war etwas müde, sie hatte die Nacht durch getanzt, und heute stand noch viel Amüsement bevor. Beim Lob des Professors verzog sie die Lippen zu ihrem stereotypen, ruhigen Lächeln – wie der gute Mann sich anstrengte! Er war wirklich sehr nett zu ihr; kniff sie gern in die Backen und tätschelte ihr die Schulter, wenn sie allein waren. Fräulein Krotoschinska hatte nichts dagegen, er war ja ein alter Mann, wenigstens aus den Jahren, die bei ihr in Betracht kamen. Sie schloß die Augen halb und hörte nicht im entferntesten auf die Klänge des Klaviers und die ewig schönen Meisterweisen; in ihren Ohren war nichts wie Tanzgeklimper und Kleiderrauschen und Schlittenklingeln und Pfropfenknallen. Ja, solch ein Talent! Die Brillantboutons in ihren Ohren funkelten. Sie seien nicht echt, meinten die Neidischen; aber sie waren es doch. Fräulein Krotoschinska sagte nicht, von wem sie sie kürzlich bekommen hatte, selbst Lena Langen wußte nicht darum, und die war doch entschieden die Bevorzugte, die saß neben der Krotoschinska und bekam allerhand in die Ohren getuschelt. Sie tat ja auch der schönen »Astpreißin« in keiner Beziehung Eintrag.
Die Stunde ging weiter. »Der Gerechte muß viel leiden«, seufzte der berühmte Mann dem Begleiter ins Ohr. Und dann laut: »Wir haben nun den Adler genug sich aufschwingen lassen« – er sah mit einem heimlichen Gähnen nach der Uhr – »ah, erst dreiviertel zwei!« Ein zweites intensiveres Gähnen. »Schön, sehr schön, wir haben noch eine weitere Viertelstunde für unsere Kunst. Fräulein Langen, säuseln Sie uns mal ein Schumannsches Lied, das ist mehr Ihr Fall. Na, na, voran! Schnell, schnell, Zeit ist Geld!«
Widerwillig hatte sich Lena erhoben. Ihr war die Lust vergangen. Die fatalen Witze des Professors, der Gesang der Krotoschinska, ihr eignes Singen ekelten sie an. Eine tiefe Niedergeschlagenheit war in ihrer Seele. »Ihnen fehlen die Stimmittel« – schwer, lastend waren diese Worte auf sie niedergefallen. Oh, wer Töne in der Kehle hätte, mächtig wie das Brausen der Orgel, voll und groß, wie jene da im eleganten Kleid sie besaß. Fast wie Neid wollte es sie beschleichen – die brauchte nur den Mund auszumachen und den Ton hervorquellen zu lassen, der Professor war entzückt. Aber nein – mit einem Ruck stand Lena kerzengerade – nicht wie die Krotoschinska! Es gab eine andre, eine heiligere Musik, die gefühlt sein wollte bis in die Fingerspitzen und bis in jede tiefste Faser des Innern.
Die Augen leuchteten dem Mädchen, frei stand sie da, kein Heft in den Händen; ihren Schumann kannte sie. Der Klavierspieler begann die weiche Begleitung, leise setzte sie ein. Ihre Stimme war leicht gedeckt, wie von einem Hauch zu dieser Musik paßte sie aber. Verträumt, mit wehmütiger Innigkeit kamen ihr die Töne von den Lippen; mit einem entrückten Ausdruck in den Augen schien sie in eine schöne Ferne zu blicken. Sie sah nicht die weißgestrichenen Wände des Musiksaals, nicht das breite Fenster, durch das jetzt ein Strahl bleicher Wintersonne auf ihre Stirn fiel. Die Hände lose ineinander gelegt, veränderte sie ihre Stellung nicht während des Gesangs, nur bei besonders tief empfundenen Stellen preßte sie die Finger fester ineinander und ein hohes Rot stieg ihr in die Wangen.
»Gut, sehr gut!« Der Professor klappte leicht die Hände zusammen. »Sie haben Ausdrucksvermögen, wie man zu sagen pflegt; Sie singen passioniert – ja, ja, Schumann haben Sie weg! Ihr Herz und Ihre Stimme verstehen sich da sehr gut. Haha!« Der berühmte Mann sammelte bewundernde Blicke ein für diese feine Bemerkung, dann klopfte er sich auf den Magen: »Der da wird rebellisch. Ein gutes Mittagessen ist nicht zu verachten, auch ein Genuß, ebenso wie Beethovens Neunte und Schumanns Dichterliebe. Schluß, meine Damen! Und Sie, Fräulein Krotoschinska, Vorsicht, Vorsicht! Denken Sie an Ihr kostbares Material!«
Der Begleiter klappte den Flügel zu und reckte sich, er war ganz steif geworden von aller Kunst. Räuspern, Füßescharren, dann plötzlich, wie losbrechend, allgemeines Geschwätz.
Würdevoll mit dem Kopfe nickend verließ der berühmte Mann den Musiksaal; an der Tür stieß er mit Lena Langen zusammen. Sie wollte an ihm vorüber huschen, sein Blick traf gerade noch ihr zierliches Ohr, den schlanken Hals und die darauf sich kräuselnden widerspenstigen Haare. Er faßte nach ihrem Arm.
Unwillig sah sie ihn an, sie war ihm böse, zornig auf jedes und jeden, dabei hätte sie bitterlich weinen mögen; unterdrückte Tränen funkelten in ihren Augen.
»Fräulein Langen, was ich Ihnen sagen wollte,« – der Professor in seinem kostbaren Pelz beugte die lange Gestalt näher – »Sie sollten nur Schumann singen. Sie haben darin so etwas – etwas –« ein zynisches Lächeln flog flüchtig über sein Gesicht, er legte für einen Augenblick den Zeigefinger unter das zarte Kinn des Mädchens. »Sie haben sehr viel Temperament, Fräulein Langen!«
Sie wurde blutrot und warf den Kopf zurück.
»Keine Schande, mein liebes Kind, im Gegenteil!« Professor Dämel wurde ganz väterlich, er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Keine Künstlerin ohne Passion! Blut, warmes Blut gehört zum Beruf; nicht bloß zur Bühnensängerin, auch für den Konzertsaal! Wer in die Oeffentlichkeit tritt, etwas erreichen will, der –«. Er lächelte wieder, das gleiche, unangenehme Lächeln, wie vorher, und dabei nahm er jetzt ihre Hand und tätschelte sie. »Hören Sie, mein Kind, und wenn Sie etwa diesen Winter in einem größeren Konzert singen wollen, ich arrangiere Ihnen das. Wenden Sie sich nur vertrauensvoll an mich, ich bin Ihr bester Freund!«
Wieder das Tätscheln, dann zog er den hohen Hut und ging. Das Mädchen sah ihm nach mit zusammengezogenen Brauen und einem bitteren Zug um den Mund. Sie hätte ihn fortstoßen mögen, diesen Mann mit den platten Witzen und der schleichenden Liebenswürdigkeit; sie hatte oft erzählen hören, daß Schülerinnen, die vom Professor besonders protegiert wurden, nicht immer am besten sangen. Heute hatte auch sie ihm gefallen. Aber nicht ihr Gesang interessierte ihn, ihr heißes Bemühen, ihr heißes Streben – einzig und allein das andere!
Heftig trat sie auf den Boden. Ihre Hand ballte sich in den Falten des Kleides zur Faust. Nein, nur um der Kunst willen, der reinen hohen Kunst willen, wollte sie aus dem Gros hervorgezogen werden und dastehen und den staunenden Zuhörern ans Herz legen, was unvergängliche Meister an Poesie und Empfindung in himmlische Melodien gegossen. Oh, wie schön mußte es sein, in andächtige, bewundernde, tränenfeuchte Augen zu sehen, sich eins zu fühlen mit dem großen Komponisten, sein Mund zu sein, seine Gefährtin im Dienst der göttlichen Musik!
Lena fühlte sich begeistert, erhoben. Ein Strom von Empfindungen wallte in ihrer Seele hin und her, sie fühlte sich augenblicklich ganz besonders berufen und auserwählt. Eine heilige Freude erfüllte sie, ein Gehobensein über die ganze Welt – da – sie zuckte zusammen, eine beringte Hand tupfte sie auf den Arm.
»Na, Langenchen, Kindchen, was stehn Sie da? Das Mannchen war heut ganz niedlich, hat sich auch bei Ihnen 'rangeschmuggelt, was? Glauben Sie mir, Kindchen, das ist das baste, das baste. Mit der Kunst ist das so 'ne Sache!« Die schöne »Astpreißin« steckte zwei Finger in den Mund und pfiff darauf.
»Lassen Sie mich in Ruh'«, sagte Lena herb und stieß sie zurück.
Wo war die heilige Freude, wo das Gehobensein? Weg, ganz weg; statt ihrer eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine kleinmütige Trübseligkeit sondergleichen. Den Kopf tief gesenkt, schritt sie übers Trottoir, die belebte Potsdamerstraße hinunter. Draußen in einer der neuen Straßen, nicht weit vom Matthäikirchhof, wohnten sie; da war es anständig und doch verhältnismäßig billig.
Sie fühlte sich müde, an allen Gliedern zerschlagen, im Hals saß ihr ein Kitzel und in der Brust ein Brennen. Was wollte sie eigentlich mit der ganzen Singerei, dem In-die-Stunden-laufen, dem Solfeggieren, dem Arienkollern? Aus ihr wurde doch zeitlebens nichts, gar nichts. Lange Zeit zum Warten, zum Werden lag auch nicht mehr vor ihr, sie war schon fünfundzwanzig; und wenn auch die überschlanke Figur sie sehr jungmädchenhaft erscheinen ließ, der Spiegel zeigte ihr oft müde Augen und auf den Wangen eine gewisse herbstliche Blässe. Wie lange noch und sie war zu alt für eine Anfängerin auf der Bahn des Gesangesruhms.
Langsam stolperte Lena voran. In ihrem Kopf nichts wie trübe Gedanken. Alles ging ihr auch fehl im Leben; worauf sie sich freute, das wurde zu Wasser, was sie liebte, das wurde ihr genommen. Sie dachte an all die Courmachereien und das Getändel, aus dem nichts Ernstes geworden, von dem nichts haften geblieben war als eine kleine beschämende Erinnerung. Und doch hatte sie immer Herz gegeben, viel Herz, und dann dachte sie an ihren Bruder, und der niedergeschlagene Ausdruck ihres Gesichts vertiefte sich noch. Er schrieb so selten, so spärlich. Seit ihrer plötzlichen Abreise aus seinem Hause im Herbst war etwas zwischen sie getreten; was, konnte man nicht recht bestimmen, aber es war doch da. In jedem seiner Briefe schrieb er von Amalie, viel; sonst hatte er das nie getan. Er nannte sie verständig, tüchtig, alles Angenehme suchte er auf sie zurückzuführen. Er hatte nicht Glück damit, weder bei der Mutter, noch bei der Schwester.
»Sie hat ihn gut unter'm Pantoffel«, sagte Lena und kräuselte verächtlich die Lippen. Den Brief, den sie bald nach ihrer Rückkehr nach Berlin von der Schwägerin bekommen, hatte sie in kleine und immer kleinere Stückchen zerrissen und der Magd in den Kehricht geworfen. »Die Scheinheilige, da schreibt sie mir, alles soll vergessen sein. »Wir sind beide heftig gewesen. Ich vergebe dir von Herzen, liebe Lena.« – Oh die!«
»Ja, sie tut wirklich so, als seist du allein die Schuldige«, seufzte die Mutter. »Es ist unerhört!« Frau Langen fand viel an ihrer Lena zu tadeln, aber wenn andere der Tochter zu nahe traten, das vertrug sie nicht. »So ein armes Ding,« pflegte sie zu sagen, »was hat das denn in der Welt? Und wenn ich einmal nicht mehr bin – ach! Meine Lena soll wenigstens nur mit Liebe an mich zurückdenken.« Frau Langen war böse auf ihren Sohn und ihre Schwiegertochter, und wenn es ihr auch schwer wurde, und sie heimlich Tränen vergoß, sie zwang sich, kühl zu. schreiben.
So standen die Sachen. Ein Mißton hatte sich eingeschlichen in die schöne Harmonie der Geschwister. Lena durfte gar nicht daran denken, dann fühlte sie ihr Herz pochen und Tränen in ihren Augen aufquellen. Heute besonders nicht; heute war ohnehin alles grau in grau, ein Flor deckte das ganze Leben.
Schwer, als hätte sie Gewichte an den Füßen, stieg Lena die sogenannten zwei Treppen zur Wohnung hinan; eigentlich waren es drei. Auf jeder Stufe zögerte sie; warum eilen? Sie kam noch früh genug, von Freude wartete nichts auf sie, die Mutter würde deprimiert sein, wie sie selbst.
Die Stimmungen der Tochter waren der Barometer für die Laune der Mutter; ließ Lena den Kopf hängen, schlich auch diese betrübt umher, seufzte über ihr Geschick, Witwe zu sein, eine unversorgte Tochter zu haben und über das Los der Frauen im allgemeinen. War Lena vergnügt, dann färbte auch ein zartes Rot Frau Langens schmales Gesicht, sie wurde lebhaft wie ein junges Mädchen, gesprächig, und baute Zukunftsschlösser in rosigem Licht. –
»Ist Mutter zu Haus?« fragte Lena müde, als das Dienstmädchen öffnete. Sie fragte es nur aus Gewohnheit, sie hatte heute keine Eile; so gar nichts Freudiges brachte sie mit. Es tat ihr leid, die Mutter mit hineinzuziehen in das Grau ihrer Gedanken, und doch konnte sie's nicht über sich gewinnen, ihre Mißstimmung zu verbergen.
Zögernd öffnete sie die leis knarrende Tür zum Eßzimmer – da war der Nähtisch der Mutter am Fenster, sie selbst saß davor. Frau Langen war beschäftigt. Neben ihr stand ein Stuhl, über dessen Lehne sorgfältig ein weißes Kleid gespreizt hing; sie nähte daran. Sie war so eifrig, daß sie das Knarren der Tür überhört hatte; ganz versunken schien sie in ihre Arbeit, nur bemüht, dieselbe recht schön zu machen. Nun hob sie das weiße Kleid mit einem Arm, hielt es von sich ab, legte den Kopf auf die Seite und betrachtete es bewundernd. Ein zartes Rot trat auf ihre Wangen und ein zärtliches Licht in ihre Augen – sie dachte sich schon die Tochter darin.
»Mutter!« Lena war mit einem Satz am Nähtisch und stieß den Stuhl mit dem Kleid zur Seite. In plötzlichem Impuls warf sie sich vor der Mutter nieder und legte den Kopf in deren Schoß. »Gute Mutter!« Wie eine jähe Erkenntnis war's ihr gekommen, ihr heiß durch die Seele geschossen – die da lebte doch nur eigentlich für sie! Sie schlang beide Arme um die Taille der Mutter und wühlte den lockigen Kopf tiefer in deren Kleiderfalten. Sie hatte eine unbezwingliche Lust zu weinen – das Leben war doch zu schwer! – Schon strömten die Tränen.
»Lena, was hast du?« Frau Langen war erschrocken, sie war aus ihrer stillen Beschaulichkeit zu plötzlich aufgejagt. Das Rot ihrer Wangen vertiefte sich; sie sah aus, wie jemand, dem schon viel im Leben schief gegangen ist und der nun noch einen härteren Schlag erwartet. »Lena, sag' doch, ist dir was passiert?« Ihre Stimme zitterte, sie streichelte mit bebender Hand den Scheitel der Tochter. – »Was hast du, Lena?«
»Nichts, gar nichts, Mutter! Ich muß nur so weinen, ich – ich – es ist alles so gräßlich, ich bin so unglücklich! Nie, nie wird was aus mir, der Professor sagt: mir fehlen die Stimmittel. Und dann hat er mich getätschelt – ich hätte Temperament, er würde mich im Konzert singen lassen – ah!«
»Aber Lena, das ist doch alles sehr gut, ich begreife dich gar nicht!«
»Ach, Mutter!« Hastig sprang das Mädchen auf und ballte die Hände. »Was du weißt! Er denkt, ich bin so eine – so eine –!« Sie stampfte mit dem Fuß. »Meiner Kunst wegen will ich vorgezogen sein. Warum streb' ich denn, warum lern' ich denn, warum ring' ich denn?! Mein Herz könnte zerspringen. Aus mir wird nichts« – sie krampfte die Hände ineinander und biß sich auf die Lippen, um nicht laut zu schluchzen – »mir geht alles fehl im Leben! Warum denn gerade mir? Und ich fühl's doch, ich hab' was in mir – etwas – einen Funken – ach, Mutter, ich bin zu unglücklich!« Sie warf sich wieder nieder und versteckte den Kopf.
Frau Langen sah sich mit einem ratlosen Blick um, ihr Gesicht zog sich in die Länge. »Mein Gott,« sagte sie kleinlaut, »wie du immer gleich bist! Woher du nur diese Aufgeregtheit hast, von mir doch wahrhaftig nicht? Aber es ist auch schrecklich, ganz schrecklich, einzelne Frauen haben es zu schwer, und welche von ihnen etwas erreichen will, die erst recht.« Ein nervöses Zucken, als ob sie weinen wollte, arbeitete in ihren Zügen. »Es ist schrecklich! Zu traurig! Du armes Kind!« Sie streichelte immerfort den braunen Kopf in ihrem Schoß. »Weine nicht – ach Gott!« – Die Tränen kamen ihr nun auch, ihre Stimme klang sehr erregt. »Alles geht uns fehl im Leben! Warum gerade uns?«
Lena weinte immerfort, sie hob den Kopf nicht.
Frau Langen sagte auch nichts mehr; schweren Herzens, mit kummervoller Miene sah sie auf ihr Kind nieder, ihre Finger zupften und glätteten an Lenas wirren Haaren. Die Uhr tickte schwer, nun holte sie dumpf zum Schlag aus.
»Drei!« Die Mutter rüttelte sich seufzend. »Und gerade heute hatte ich mich so auf dein Nachhausekommen gefreut! Es ist eine Einladung für dich gekommen zu Doktor Reuter; nicht der gewöhnliche Jourfix, bewahre! Es ist eine Hoheit da, ein Großherzog oder ein Erbprinz, denke! Reuter hat selbst geschrieben, du sollst ja kommen und etwas Hübsches singen. Ich dachte, es wäre eine große Auszeichnung für dich.«
»Und das sagst du mir erst jetzt? Aber Mutter?!« Lena war blitzgeschwind aus den Füßen.
»Ja, ich konnte doch nicht! Dein Kleid hab' ich schon angefangen, zurecht zu machen.«
»Aber Mutter, warum hast du mir das nicht eher gesagt?!« Noch blinkten die Tränen auf Lenas Wangen, aber schon strahlten ihre Augen auf. Mit einem Ruck schwang sie sich auf den Eßtisch und pendelte mit den Füßen hin und her. Sie schlug die Arme unter. »So, Mutter, nun erzähl' mal, zeig' mal den Brief!«
»Hier ist er.« Frau Langen holte ein Kuvert aus der Tasche. Beide Frauenköpfe neigten sich über das Billettchen.
»Wahrhaftig« – Lena pendelte immer lebhafter – »das ist famos! Ach, wie angenehm für mich! Denk' mal, was da alles für Berühmtheiten sein werden! Wie nett von Doktor Reuter, daß er mich singen läßt, gerade mich, es sind so viele, die sich darum reißen. Mutter,« – das Mädchen sprang vom Tisch herunter und lief mit elastischen Schritten in der Stube auf und nieder – »Mutter, weißt du, es gibt doch viele Menschen, die mir wohl wollen!«
»Das weiß ich ja«, sagte stolz lächelnd Frau Langen.
»Und, Mutter,« – Lena sah hübsch aus mit dem erhitzten Gesichte und dem zerzausten Lockengeringel über der Stirn – »ich werde gut singen, sehr gut singen, ich fühle das. Ich brauche nur Glück, wirklich nur ein bißchen Glück!« Sie hob die gefalteten Hände bittend wie ein Kind gegen die Brust. »Wenn ich nur ein bißchen Glück hätte, dann würd' ich eine große Sängerin. Glaubst du, Mutter? Nicht wahr, du glaubst's?« Sie wartete keine Antwort ab, sie rannte auf und nieder, jetzt blieb sie stehen und drehte sich wirbelnd auf einem Absatz. »Sieh nur, Mutter, wie die Sonne zum Fenster hereinscheint, sonst ist's um die Zeit im November schon dunkel. Sieh nur, sieh nur! Ist's nicht wie Frühling?« Sie trällerte hoch und hell.
»Nun, armes Herz, vergiß der Qual!
Nun muß sich alles, alles wenden!«
Mit einer Inbrunst ohnegleichen sang sie das »alles, alles«, dabei warf sie die Locken zurück, legte den Kopf hintenüber und blinzelte mit halbgeschlossenen, schwimmenden Augen durchs Fenster hinaus in die fahle Novemberluft, die ein einziger verlorener Sonnenstreif flüchtig durchzittert hatte.
»Es ist wie Frühling, Nur ein bißchen, ein bißchen Glück«, sagte sie träumerisch.