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XVII.

Die Unschuld vom Lande bei Bredenhofers hatte sich Filzpantoffeln anschaffen müssen, sie durfte nicht mehr mit nägelbeschlagenen Schuhen trapsen; nun schlorrte sie, daß die Dielen ächzten.

Der Herr war krank. Er lag schon seit Tagen auf dem Sofa mit fiebrig glänzenden Augen und gespannter, geröteter Haut über den Backenknochen. Er hatte sich in den Herbststürmen eine Grippe geholt; nun konnte er die gar nicht los werden.

Unten vor dem Hause hielt das Coupé von Doktor Allenstein; er selbst saß oben, glänzend vor Gesundheit und Wohlleben. Er wurde fett.

»Nur Mut,« sagte er zu Lena, die ihn mit weiten, glanzlosen Augen fragend ansah, »die Sache ist gar nicht so schlimm. Die Lungen sind ein bißchen angegriffen, aber bei der Pflege« er küßte der jungen Frau galant die Hand – »muß ja alles besser werden!« Allenstein war Frauenkenner; die stille Wehmut, die um Lena schwebte, gab ihr einen eigentümlichen Reiz. »Da möchte man ja selber Patient sein«, setzte er mit einem satten Lächeln hinzu.

Der Patient hüstelte. »Schwager, glaubst du, daß ich bald wieder bei Wege sein werde?« fragte er matt. »Ich habe so kolossal viel vor. Ich will nun doch mein Buch über Schumann schreiben, abgesehen von den kleinen Artikeln, die ich Lena diktiere. Und dann habe ich ein famoses Bild in Gedanken.« Er richtete sich halb auf und stopfte sich das Sofakissen als Stütze hinter den Rücken.

»Lena,« wandte er sich an seine Frau, »hast du das letzte kleine Feuilleton für den Hamburger Korrespondenten zur Post geschickt? Heut müssen wir eine kurze Plauderei schreiben für die Posener Zeitung und morgen eine für die Magdeburgische.«

»Du bist rastlos«, tadelte Allenstein.

»Mach' mich nur bald gesund, dann kann ich Großes beginnen und hab's nicht nötig, meine Kraft dieser armseligen Feuilletontagelöhnerei zu verspritzen.«

»Ich werde doch lieber noch einen Kollegen mitbringen.« Der Doktor erhob sich, schlüpfte in den eleganten Pelz und zog die gefütterten Glacés an. »Einen Spezialisten für Hals und Lunge. Adieu, auf Wiedersehen, Richard! Auf Wiedersehen, schöne Frau!«

Er ging, der Kranke sah ihm verdrießlich nach.

»Er versteht nichts,« nörgelte er, »ich müßte längst gesund sein. Ich fühl's ja, das bißchen Grippe ist nicht der Rede wert; er müßte mir was geben, um die Kräfte zu heben, ein paar belebende Tropfen. Lena, ich will doch den Tee trinken, den Mutter vorgeschlagen hat; hier« – er zog ein zerknittertes Papierchen aus der Brusttasche der Sammetjoppe – »laß mal holen: Isländisch Moos, Kandis, Anis; alles zu gleichen Teilen, eine Stunde gekocht. Brrr« – er schüttelte sich – »das wird schmecken!«

Lena, die am Fenster saß, die Hände ums Knie geschlungen, stand nicht gleich auf.

»Lena,« sagte er mit erhobener Stimme, »hier! Hörst du denn nicht?«

Sie fuhr zusammen und sprang hastig empor.

Er hielt ihr die Arme hin: »So, und nun hilf mir mal aus dieser guten Sammetjoppe; die alte tut's jetzt auch. Hol' sie, rasch, rasch!«

Sie lief, gab eilig dem Mädchen den Auftrag, zur Apotheke zu gehen, und kam nach wenig Minuten mit der alten Joppe zurück.

Er hatte nicht gewartet, sondern sich schon allein den Rock abgezogen; nun lehnte er in Hemdärmeln auf dem Sofa, erregt atmend und ganz erschöpft. »Wo bleibst du denn? Du bleibst ja so lange! Ha, wie mich das angegriffen hat! Es ist schrecklich, wenn man so auf andre angewiesen ist! Danke, danke; habe ich sie mir allein ausgezogen, kann ich sie mir auch allein anziehen. Laß nur!«

Er hustete, schloß die Augen und streckte sich lang aus. »Ich will jetzt schlafen.«

Auf den Zehen schlich sie zum Fensterplatz zurück; dort nahm sie ihre frühere Stellung wieder ein.

Draußen Schnee; schon seit Wochen lag er. Seit Wochen lag auch Richard Bredenhofer. Das heißt, er lag nicht fest; nur die ersten Tage, zu Beginn der Krankheit, im hohen Fieber hatte er das Bett hüten müssen. Jetzt stand er alle Morgen auf, ging mit langen Schritten durchs Zimmer und glaubte sich genesen. Es war noch nicht Mittag, da lag er schon wieder auf dem Sofa; die Schwäche, die Schwäche, die war's!

»Was ist das nur?« fragte sich Lena und sah mit bangen Augen zum Sofa hinüber. Sie blieb sich selbst die Antwort schuldig. So ging es nun schon wochenlang; seit ihrer verunglückten Reise zum Onkel war er krank.

O jene Reise! Die Blicke der jungen Frau verdüsterten sich noch mehr. Wie war sie heimgekommen, überraschend schnell, und wie hatte er sie empfangen?! Es war der trostloseste Abend ihres Lebens, den sie da miteinander verbracht. Richard hatte ihr erst heftige Vorwürfe gemacht und den Onkel herausgestrichen; dann hatte ihn ein namenloser Zorn gegen den Hartherzigen gepackt. Auf den Knien lag er vor seiner Frau und bat ihr alles ab; und zwischen die Liebkosungen für sie mischten sich die Zornesausbrüche gegen den Onkel. Zuletzt weinten sie beide zusammen; sie wußten nicht mehr aus noch ein.

Zwei, drei Tage vergingen, in Sorgen und aussichtslosen Grübeleien nach Rettung verbracht. Dann war ein Brief von Tante Hannchen gekommen.

Die junge Frau am Fenster hob den Kopf und lauschte nach ihrem Mann hinüber; er schlief. Nun zog sie vorsichtig ihre Nähtischschublade auf, sie mußte den Brief noch einmal lesen.

Da war er. Kritzlige, blasse Buchstaben einer unausgeschriebenen Hand; Tante Hannchen unterschied nicht Haar- noch Grundstrich, auch goß sie gern Wasser in die Tinte.

Kaum mehr sichtbar waren die Buchstaben, wie verwaschen, aber Lena kannte den Inhalt fast auswendig.

»Liebe Nichte,« schrieb die alte Tante, »er war sehr außer sich, daß Du so plötzlich abgefahren warst; er wußte nicht, daß er Dir ein böses Wort gesagt hat. Ich habe ihm Eure Verhältnisse klargelegt, so gut ich konnte; Du hättest das gewiß besser gekonnt. Da er wirklich sehr gut ist, wie ich Dir ja schon sagte, hat er mich beauftragt, Dir eine Anweisung über tausend Mark zu schicken. Du kriegst das Geld auf der Reichsbank, da sollst Du Dir's holen. Bedanke Dich nicht etwa bei ihm, da wird er grob, wenn er auch immer über die Undankbarkeit schilt. Zu Neujahr schicke ihm eine Gratulationskarte, das wird ihn doch freuen. Richard soll lieber ganz schweigen, auf den ist er sehr böse. Ich denke sehr viel an Dich, liebe Nichte, und wünsche Dir Gottes Segen. Seht nun zu, daß Ihr ein Weilchen auskommt, so bald wird er nichts wieder herausrücken; doch lasse ich die Hoffnung nicht sinken, wenn er am meisten schreit, meint er's eigentlich am besten. Grüße Richard vielmals von mir; was war er doch für ein durchtriebener, lustiger Schlingel! Am hübschesten sah er aus, wenn er sich aufs Sofa setzte, meine Brille auf der Nase und mir nachmachte. Tut er Dir das manchmal auch? Ich würde Dir gern frische Eier schicken, aber sie gehen so leicht kaput; auch wollte ich Dir sagen, Du sollst etwas Klettenwurzelpomade in Dein Haar tun, es ist dann nicht so kraus und spruk. Ich schließe Euch alle Abend und Morgen in mein Gebet ein; das ist das einzige, was ich für Euch tun kann.

Deine Dich liebende
Tante Hannchen.«

»Tante Hannchen, die Gute«, flüsterte Lena und strich wie liebkosend über den Brief.

Das alte Fräulein hatte es so gut gemeint; Richards Freude war auch groß gewesen. Er eilte sofort zur Bank, um das Geld zu erheben; mit geröteten Wangen kam er wieder und schwenkte das Kouvert mit den Kassenscheinen. Er war froh erregt, seine Augen leuchteten wie in früheren Tagen.

Es war Richards letzter Ausgang gewesen. Nun lag er da.

Wieder glitt ein banger Blick der jungen Frau zum Sofa hinüber – er atmete rasselnd, in kurzen Stößen, aber er schlief. Sie starrte durchs Fenster.

In Lenas Augen war ein Glanz von unterdrückten Tränen. Aber sie weinte jetzt nicht mehr;

Sie fröstelte, durch die Fensterritzen drang eine zugige Kälte. Sie schlug die Arme ineinander und legte sie wie schützend über ihren Leib. Sie versank in Träume; es waren keine beglückenden, keine bangsüßen Mutterhoffnungen. Kein zappelndes kleines Geschöpf mit spärlichen Flaumhärchen und schönen, blödkindlichen Augen erschien im rosigen Licht – blaß, still lag es in der Wiege, ein unerwünschtes Kind. Nebenan hustete der kranke Vater.

Die junge Frau bewegte zuckend die Lippen, es kam wie ein Hauch über sie: »Armes Kind!« Und dabei schoß ihr eine Blutwelle jäh ins Gesicht. Wunderbar, sie freute sich so gar nicht, sie sah mit einer stummen Resignation dem Kommenden entgegen, und doch war in letzter Zeit eine seltsame Kraft in ihr, sie fühlte ein zweites »Ich« in sich, das mit vernehmlicher Stimme sprach: »Um des Kindes willen!« Kein andrer Mensch hörte das; es war eine heimliche Zwiesprache in ihr ganz allein, die sie ängstlich verbarg vorm Ohr jedes andern.

Draußen rührte es an der Klingel, sie wurde vorsichtig gezogen; man hörte Frau Langens Stimme.

»Pst, er schläft! Komm in die Schlafstube, Mutter!«

Dort wurde jetzt auch geheizt, sogar stark; gleichmäßige Temperatur hatte Allenstein angeordnet, aber die war schwer herzustellen. Vier Treppen hoch, den leeren Bodenraum über sich, fühlt man die Kälte kälter.

Frau Langen sah aus wie ein Schneemann; auf den kalten Füßen unruhig hin und her trippelnd, entledigte sie sich ihres Mantels und verschiedener Pakete. »Sieh' mal, Lena, hier habe ich dir etwas Fleischgelee für Richard gekocht – da sind Apfelsinen – für dich noch etwas Pfefferkuchen von Weihnachten. Ach, armes Kind, du hast ja gar kein Weihnachten gehabt«, seufzte sie plötzlich auf. »Und hier« – sie hielt der Tochter zögernd eine eingewickelte Flasche hin – »hier ist von dem alten Wein, den der gute Fritz mir zur Stärkung geschickt hat. Nimm ihn!«

»Nein, Mutter!« Lena kreuzte die Arme über der Brust. »Ich kann ihn nicht nehmen. Es ist sehr lieb von dir, daß du ihn mir geben willst, und – und – nein, ich kann ihn nicht nehmen«, sagte sie plötzlich hart. »Er hat mich lieblos von sich gestoßen, er hat sich nicht mehr um mich gekümmert; ich will seinen Wein nicht. Tu ihn fort, Mutter, ich kann ihn nicht sehen!«

Frau Langen seufzte wiederholt und sehr tief; mit schwer enttäuschter Miene packte sie die Flasche unter ihren Mantel. »Ach, daß du noch immer so empfindlich bist! Du solltest Fritzens Briefe lesen –«

»Ich will sie nicht lesen.«

»Du solltest nur wissen, wie gut und liebevoll er schreibt. In jedem Brief fragt er zum Schluß nach dir, man merkt ihm das Interesse und den Kummer um dich an. Nie macht er mir einen Vorwurf daraus, daß ich so zu dir halte. Er ist ein rührender Mensch, so gut, so gut! Wenn ich denke, wie ihr früher miteinander wart – und alles zerstört durch diese unglückselige Heirat!«

Lena sah die Mutter starr an. »Mutter, du quälst mich!«

»Ach, mein armes, armes Kind, nein, das will ich gewiß nicht!« Frau Langen schlug vollständig um; die Stimme der Tochter schnitt ihr durchs Herz. »Ach, mein armes Kind, wie sehr unrecht von mir! Nein, ich will dir dein Kreuz wahrhaftig nicht noch schwerer machen! Meine liebe, liebe Tochter, ich bewundere dich ja, wie du diese Prüfungszeit trägst. Wie geht es denn Richard heute, was macht er?«

»Jetzt nicht, Mutter, er schläft und – horch, er ruft!«

Sie sprang davon. Durch die angelehnte Tür hörte Frau Langen die Stimme des Patienten.

Er war unwillig, sein heiseres Organ hatte einen quälerischen Klang. »Wer ist da? Wer war da? Ich habe das Klingeln wohl gehört. Ihr wart nebenan so laut. Ich träumte gerade so schön – ach – so wundervoll! Weißt du, Lena, die himmlische Melodie aus Jessonda – wie heißt sie doch? – »Bald bin ich ein Geist geworden« – –«

Frau Langen hielt den Atem an und lauschte. Die Tochter sagte etwas, aber man konnte ihr Geflüster nicht verstehen. Der Mutter kamen die Tränen – was mußte das arme Kind durchmachen!

Die kranke Stimme nebenan ertönte wieder. »Ich sage dir, sie sangen herrlich. Und dann sagte einer der Engel zu mir: »Daß du so krank geworden, wer hat es denn gemacht?« Ich weiß gar nicht, warum du das Lied nicht mehr singst, Lena? Du weißt doch, daß es mein Lieblingslied ist.« Er sprach gereizt. »Das ist doch kein Opfer, was ich von dir verlange! Du kannst es mir gleich mal vorsingen.«

»Jetzt nicht, Richard,« bat die Stimme der jungen Frau mit einem eigentümlichen Zittern, »Mutter ist da. Nachher – heute gegen Abend –«

»Ach so – Mutter?!«

»Ist es dir nicht angenehm, willst du sie lieber nicht sehen?«

»Meinetwegen,« sagte er langgezogen und müde, »es ist doch eine Abwechselung. So lange wird sie ja nicht bleiben; ich habe was vor, ich habe zu tun. Leg' mir nur gleich Feder und Papier zurecht. Heute bin ich in der rechten Stimmung, mein Buch über Schumann zu beginnen. Den Traum will ich quasi als Einleitung benutzen. Die Stimme klang so süß, ich höre sie noch immer –«

Ein heftiger Hustenanfall schnitt ihm das Wort ab.

Lena kam ins Schlafzimmer. »Wenn du jetzt kommen willst, Mutter!«

Frau Langen ging auf den Zehen. »Wie geht es dir, armer Richard?« sagte sie in leidensvoll herabgeschraubtem Ton.

»Du brauchst nicht so leise zu schleichen – guten Tag«, sagte er. »Ihr tut ja, als ob ich auf dem letzten Loch pfiffe.«

»Du mußt immer lachen, Lena, dann bist du viel hübscher. Deine Grübchen sind deine Hauptschönheit.« Er drehte sich der Schwiegermutter zu. »Findest du nicht, Mama, daß Lena jetzt immer sehr blaß und abgespannt aussieht? Ich weiß gar nicht, wovon; sie hat doch kein anstrengendes Leben. Ich habe schon gedacht, wenn ich April oder Mai mit meinen Arbeiten so weit vorgeschritten bin, will ich mit ihr nach Lugano oder Como. Ich war mal da, es ist herrlich, ein Paradies, es wird ihr schon behagen. Nicht wahr, Lena, dazu hättest du auch Lust?« Er hielt ihr die Hand hin.

Frau Langen wunderte sich im stillen über ihre Tochter, daß kein freudigeres Rot deren Wangen färbte.

»O ja«, sagte Lena kurz. Aber sie ließ die Hand in der ihres Mannes; ihre Finger umklammerten die kalten, wachsbleichen, als wollten sie die festhalten.

»Lache, Lena, lache! Ich will mal wieder deine Grübchen sehen!«

Und Lena lachte.


Gegen Abend desselben Tages erschien Frau Allenstein. Sie war in großer Toilette, sie fuhr zu einem Diner in der Nähe und machte vorher den Krankenbesuch beim Bruder. Mit der einen Hand mußte sie die Seide raffen, in der andern trug sie ein sorgfältig verpacktes Tablettchen. Sie brachte dem lieben Patienten Austern mit.

»Du riechst so stark nach Parfüm, Susanne! Geh' weiter weg«, wehrte Bredenhofer, als sie sich über ihn beugte und ihn küßte. Er wedelte mit dem Taschentuch. »Puh! Du brauchst hier auch nicht so im Staat herzukommen; doppelt bitter für einen, da liegen zu müssen!«

Er war in sehr schlechter Stimmung; er hatte vorhin Papier und Feder verlangt und mit Vehemenz zu schreiben begonnen. Ein paar Zeilen gingen glatt, dann waren die Gedanken fort; er zermarterte und zermarterte sich, sie kamen nicht wieder. Und nun waren die Kräfte auch fort; klebriger Schweiß trat auf die Stirn, die Hand zitterte, die Feder rollte übers Papier und die Tinte verspritzte. »Ich kann nicht«, stöhnte er und ließ den schmerzenden Rücken gegen das Kissen fallen. »Die unbequeme Lage macht's; ich will sitzen.« Er ließ die Beine vorn Sofa gleiten; fünf, zehn Minuten, dann war's aus. Ein Frösteln schüttelte ihn, er mußte sich wieder legen. Ungeduldig ballte sich seine Hand, zornig murmelte er: »Ignorant! Er versteht nichts. Morgen soll der Spezialist kommen. Oh, meine Seite, mein Kopf!«

Nun störte ihn der Duft von Frau Allenstein. Auch die Austern rochen. »Ich mag sie nicht,« grämelte er, »nimm sie fort, Lena! Trag' sie weg!«

Susanne ging hinter der Schwägerin hinaus. »Er ist ja sehr mißgestimmt,« flüsterte sie, »du mußt ihn aufheitern. Du mußt dich ein wenig zwingen.«

Lena sah der Sprechenden mit einem so eigentümlichen Blick ins Gesicht, daß diese verstummte. »Nun, nun,« sagte Susanne nach einer kleinen Pause begütigend, »es kann dir ja nicht schwerfallen bei deinem sanguinischen Temperament, und wenn du bedenkst, daß schlechte Laune bei Patienten das beste Zeichen für ihre Genesung ist. Also immer hübsch heiter, Kleine!«

Dann kehrte sie wieder zum Bruder zurück und begann ihn mit der Schilderung aller möglichen Festlichkeiten, Diners, Bälle, Wohltätigkeitsvorstellungen und so weiter aufzuheitern.

Er lag mit geschlossenen Augen; ob er zuhörte, wußte man nicht. Jedenfalls nahm es die Schwester an. »Es tut mir sehr leid, daß ich gehen muß,« meinte sie endlich, »ich weiß, wie nötig dir die Zerstreuung ist. Lena hat nicht so die Art, mit Kranken umzugehen; aber ich, die ich selbst so viel leidend bin, weiß, wie wohltuend eine heitere Unterhaltung wirkt. Gott im Himmel« – sie horchte erschreckt auf den Schlag einer Uhr – »sieben! Um die Zeit sind wir gebeten; ich habe mich so verplaudert – leb' wohl, geliebter Richard, eine recht gute Nacht! Laß dir was Hübsches träumen von dem, was ich dir erzählt habe! Morgen haben wir Gäste bei uns, aber übermorgen komme ich und erstatte dir Rapport!« Sie beugte sich wieder über ihn, eine ganze Wolke von Duft hüllte ihn ein.

Er zog die Nasenflügel kraus. »Viel Vergnügen«, sagte er bitter und drehte sich auf die andre Seite, das Gesicht der Wand zukehrend.

So fand ihn Lena, die sich eine Weile draußen aufgehalten hatte; wenn Frau Allenstein da war, ergriff sie gern jeden Vorwand, sich zu entfernen.

Als er ihren Tritt hörte, murmelte er: »Ist sie fort?«

»Ja,«

»Sie ist mir unangenehm. Ihr Kleid rauscht, sie riecht nach Parfüm. Ich habe nie gewußt, daß Susanne eine so scharfe Stimme hat. Sie macht mich krank!« Er stöhnte.

Lena beugte sich über ihn und legte ihre kalte, schmale Hand auf seine heiße Stirn. »Fehlt dir etwas?« fragte sie.

Er schwieg. Dann sagte er plötzlich, wie nach langem Besinnen: »Sie machen mich alle krank. Die ganze Welt. Laß die Hand hier liegen« – er hielt ihre Finger fest – »ich brenne inwendig. Das macht die Unrast. Ich muß hier liegen und habe so schrecklich viel zu tun, so viel!«

Sie wagte nicht ihre Hand fortzuziehen, regungslos stand sie. Wie angenehm wäre es ihr früher gewesen, hätte er herausgefunden, daß die Schwester nicht so sympathisch sei, wie seine Voreingenommenheit sie hinstellte. Jetzt empfand sie keine Freude darüber, im Gegenteil, die Veränderung machte ihr Angst. Was ging mit ihm vor?!

Sie beugte sich tiefer über ihn. Der Schein der verhangenen Lampe spielte über sein Gesicht. Es war gar nicht so bleich, die Wangen blühten, aber die Schläfen waren sehr eingesunken, die Augen lagen tief in den Höhlen. In den wenigen Wochen schien er alt geworden; hier, in dem feuchten Stirnhaar zeigten sich graue Fäden und um den Mund grub sich ein Leidenszug.

Ein unbeschreibliches Gefühl krampfte Lenas Herz zusammen – Liebe, Mitleid und noch ein andres, ein unheimliches, unnennbares. Sie legte ihre Lippen auf die grauen Fäden und küßte sie.

Er rührte sich nicht; leise zog sie ihre Hand fort.

Da sagte er, ohne die Augen aufzumachen: »Es ging mir wie ein Eisstrom durch den Körper, von der Stirn herab bis zum Herzen und löschte den Brand. Das tat gut. Wenn ich erst kühl bin, bin ich auch so gut wie gesund.« Ein freundlicheres Lächeln umzog seinen Mund. »So, und nun kannst du mir was singen, Lena – Schumann, mein Lied, du weißt schon!«

Sie setzte sich ans Klavier, ohne die Lichter anzuzünden, und präludierte leise.

»Nicht das, nicht das,« sagte er ärgerlich, »mein Lied! Warum fängst du denn nicht an?«

Sie konnte sich nicht entschließen. Eine Geisterstimme machte »Pst, pst«, eine unsichtbare Hand legte sich ihr auf den Mund. Die Kehle war ihr zugeschnürt, die Lippen waren wie versiegelt.

»So fange doch endlich an!« Bredenhofer warf sich ungeduldig hin und her.


»Daß du so krank geworden,
Wer hat es denn gemacht?«

War sie selbst es wirklich, die das sang? Lena hatte nie geglaubt, daß man singen könne, wenn das Herz bis zum Rande voll von Schmerz ist; ja, noch, mehr als Schmerz, voll von Todesangst. Aber rein und weich folgte ein Ton dem andern; sie kam zu Ende. Im Geisterhauch hallten die Wände die letzte Klage wieder.

Scheu sah Lena nach dem Sofa. Er hatte sich aufrecht gesetzt und die Augen weit aufgeschlagen. »Du warst gut bei Stimme,« sagte er, »sehr frisch und klar; aber du warst heute nicht mit der Seele dabei. Warum nicht?«

»Man ist doch nicht immer gleich disponiert«, antwortete sie ausweichend. Wie gern hätte sie herausgeschrien: »Weil du krank bist, sehr krank! Ich kann nicht singen!« Sie durfte das nicht. So wiederholte sie noch einmal: »Ich war nicht disponiert! Verzeih'!«

»Morgen kannst du mir es wieder singen. Oh, wie schön ist das Lied«, schwärmte er. »Mir ist wirklich, als hätte ich's jetzt noch lieber wie früher. Ich lerne es erst ganz verstehen. Komposition und Text so wundervoll! Ich möchte wohl wissen, aus welcher Stimmung heraus Schumann das komponiert hat – ob sie der meinen gleich war?« Er versank in Sinnen.

Lena saß noch immer auf dem Klavierstuhl. Ihren Mann konnte sie im Schein der Lampe sehen, sie selbst blieb unbeobachtet, verschluckt vom Dunkel.

Die Uhr nebenan schlug acht; plötzlich hörte man draußen eine rauhe Stimme. Wer war das?

Die junge Frau fuhr zusammen, draußen der hohle, grobtiefe Baß jagte ihr einen Schauer über den Rücken, ein Frösteln durch alle Glieder. Die furchtbare Stimme – was wollte die – wo kam die her – was wollte die?!

Sie sprang auf und starrte mit entsetzten Augen nach der Tür.

Es klopfte.

Sie streckte abwehrend die Hände aus: »Nein, nein!«

»Was hast du?« fragte der Kranke heiser. »Herein!«

Die Tür ging auf. Das Mädchen trat ein, einen Brief in der schwieligen Hand.

»Wer – wer ist draußen?« stammelte Lena; ihre zitternden Lippen konnten kaum die Worte formen.

»Na, der Briefträger!« Die Unschuld sah sie verwundert an und schlorrte dann wieder ab. War die Madam aber schreckhaft! »Käsbleich«, dachte der gutmütige Trampel.

»Von Onkel Hermann«, sagte Richard erfreut. »Susanne muß ihm geschrieben haben, daß ich krank bin. Paß mal auf, wie nett er nun ist!« Er öffnete selbst den Brief und las ihn; er hatte kaum die erste Seite überflogen, so knitterte er den Bogen zusammen und schleuderte ihn, zum Knäuel geballt, mit einem Zorneslaut von sich auf den Boden. »Er ist verrückt – der – der –!« Er beugte sich vornüber und hustete anhaltend und erregt.

»Was ist, was hat er geschrieben?« fragte Lena und faßte nach dem Papierknäuel.

»Laß liegen,« schrie er heftig, »oder heb' den Wisch auf und schmeiß' ihn in den Ofen! Ich habe nicht nötig, mir Vorhaltungen machen zu lassen. Rasch, rasch – so – verbrenn' ihn! Ah, was der Alte glaubt – und das nennt er Liebe? Ha, Liebe!« Er lachte bitter. –

Als der Kranke eine halbe Stunde später im Bette lag und seine Frau ihm die Medizin zur Nacht reichte, hielt er ihre Hand fest. »Lena«, sagte er weich.

»Richard!« Sie neigte ihr Gesicht näher zu ihm.

»Daß ich trag' Todeswunden,
Das ist der Menschen Tun;
Natur ließ mich gesunden,
Sie lassen mich nicht ruhn«,

flüsterte er. »Das Lied kommt mir nicht aus dem Kopf, ich hör' es immerzu. Er sagt, er liebt mich, und doch schreibt er, ich hätte mir selbst mein Leben verpfuscht. Die Krankheit wäre mir eine ganz heilsame Mahnung. Oh, ich ärgere mich so, es wurmt mich so!« Seine trockenen Lippen zuckten.

Lena streichelte ihn. »Sei ruhig, Richard,« bat sie, »du schläfst sonst die ganze Nacht nicht. Ja, sie lieben uns alle«, setzte sie mit einem Lächeln hinzu, das ihr junges Gesicht traurig veränderte.

»Alle««, wiederholte er. Er hielt noch immer ihre Hand fest. »Das Leben ist so schwer!« Es klang wie eine Klage, die ein Kind der Mutter stammelt – ein armes, schwaches Kind.


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