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Der Polizeirath hatte mit seinen Begleitern kaum das Gefängniß und das alte Schloß verlassen, als er noch im Garten stehen blieb und bedenklich sagte:
»Doch wohl Thorheit, Hans allein als Wache! Michel robuster Kerl! Wenn er entflöhe!«
»Wie wäre das möglich!« erwiderte Fritz beruhigend. »Hans ist ein baumstarker Mensch und Wildmichel gefesselt. Der Sergeant hat ja außerdem die Thür von Außen verschlossen, – es ist wirklich keine Gefahr!«
»Hm, wer weiß? Gefällt mir nicht Verwandtschaft mit dem Alten. Aber was hilft's, müssen's riskiren. Brauchen den Sergeanten. Sieht durch ein Brett. Kennt alle Spitzbubenschliche. Unschätzbarer Mensch. Haben noch eine Stunde etwa Zeit bis Morgendämmerung, wollen sie benutzen. Besuch in Wildmichels Wohnung. Vielleicht guter Fund, Uhr &c. Glaub's zwar kaum. Raffinirter Bursch, wird wohl anderen Versteck dafür gewählt haben. Müssen es aber versuchen. Will auch Frau kennen lernen, Kinder sehen &c. Sobald Tag, nach Mordstelle. Genau untersuchen, dann Verhör Wildmichels. Muß Alles abgethan sein, ehe aus P*** Staatsanwalt oder Untersuchungsrichter. Dummköpfe, verderben ganze Untersuchung. Wichtigste muß gethan sein, ehe sie kommen. Kennen Sie Wildmichels Frau?
»Ja.«
»In welchem Ruf steht sie?«
»Man hört von ihr nur Gutes. Sie soll fleißig und redlich sein. Meine Cousine Elwine lobt sie sehr. Das arme Weib soll höchst unglücklich darüber sein, daß sie ihren Mann, den sie zärtlich liebt, nicht bewegen kann, einen besseren Lebenswandel zu führen, – sie arbeitet über ihre Kräfte und ist deshalb oft krank. Wildmichel verehrt seine Frau abgöttisch, sie allein hat einige Gewalt über ihn, aber doch nicht genug, um ihn vom Wild- und Holzdiebstahl abzulenken; sie weiß sicherlich nichts von seinem neuesten Verbrechen.«
»Hm, schlimm! Um so weniger wahrscheinlich, daß er seinen Raub in seiner Wohnung versteckt hat. Aber dürfen nichts verabsäumen. Wie weit bis Wildmichels Wohnung?«
»Eine Viertelstunde etwa.«
»Gut, vorwärts. Sergeant!«
»Zu befehlen, Herr Polizeirath.«
»Wie stehts mit Wunde? Schmerzt sie?«
»Nein, Herr Polizeirath. Es ist nur ein leichter Hautriß und hat nur ganz wenig geblutet; ich habe vorher nachgesehen und einen Streifen englisches Pflaster darauf gelegt. Ich führe das Zeug immer bei mir. Die Kleinigkeit macht mir nichts aus.«
»Gut. Haussuchung beim Wildmichel. Kein Winkel bleibt undurchsucht. Höchste Genauigkeit und Eile. Müssen bei Tagesanbruch an Mordstelle sein. Verstanden!«
»Zu Befehlen, Herr Polizeirath!«
»Wenn etwas da, findets Sergeant Weirauch. Unvergleichlicher Mensch!« sagte der Polizeirath, indem er seinen Untergebenen mit einem gewissen Stolz betrachtete, zu Fritz, dann schritt er rüstig vorwärts auf dem Wege nach Dorf Kabelwitz, auf welchem Fritz als Führer diente.
Das letzte Haus des Dorfes, von diesem durch den öden Gemeindeanger getrennt, war eine elende, mit einem verwitterten, an vielen Stellen schadhaften Strohdach gedeckte Hütte. Die aus einem Gemenge von Lehm und Stroh aufgeführten Wände hatten vielfache Risse, die nur nothwendig mit Moos verstopft waren. Aus dem einzigen, kleinen, einer Schießscharte ähnlichen Fenster schimmerte dem Wanderer ein Licht entgegen.
Der Polizeirath legte zum Zeichen, daß seine Begleiter das tiefste Schweigen beobachten sollten, den Finger auf den Mund, dann schlich er durch den kleinen Garten mit unhörbarem Schritt nach dem Hause zu dem Fenster. Mit gespannter Aufmerksamkeit schaute er durch die Scheiben. Ein Bild des äußersten Dorfelends zeigte sich ihm.
Das Zimmer, welches so niedrig war, daß kaum ein großer Mann in demselben aufrecht stehen konnte, war die Wohnstätte einer ganzen zahlreichen Familie. Im Hintergrund des ziemlich großen Raums, neben einem baufälligen Lehmofen lagen schlafend auf zerrissenen alten Säcken und Leintüchern, die auf einen aufgeschichteten Mooshaufen gebreitet waren, 6 Kinder, von denen das älteste, der Gestalt nach zu urtheilen, vielleicht 12 Jahre alt sein mochte; sie hatten sich mit einigen Lumpen dürftig zugedeckt. Neben dem Ofen lehnte in der Ecke eine Büchse, an einem Nagel in der Wand hing ein Pulverhorn. Das einzige Hausgeräth in dem Zimmer waren ein ziemlich großer, roh gearbeiteter Tisch und drei bis vier lehnenlose Schemel, sowie eine große bunt bemalte Truhe, die einen bedeutenden Platz an der einen Wand einnahm.
Mit einem flüchtigen Blick musterte der Polizeirath die ärmliche Zimmereinrichtung, mehr als diese interessirte ihn die einzig wachende Bewohnerin des Hauses, eine sehr dürftig, aber sauber gekleidete Frau, welche auf einem Schemel an dem Tisch saß. Sie spann. Ihr Gesicht war dem Fenster zugewendet und von dem Schein der auf dem Tisch stehenden trüben Thranlampe so weit beleuchtet, daß das scharfe Auge des Polizeirath sehr wohl die Züge, welche die Spuren hoher, früherer Schönheit verriethen, erkennen konnte; jetzt freilich waren sie bleich, von Kummer und Krankheit abgezehrt; aber trotzdem immer noch anziehend.
Der Polizeirath war ein geübter Physiognomiker, ein scharfer Menschenkenner; als er in dies milde, liebe Gesicht schaute, war er augenblicklich überzeugt, dass Grete sicherlich an dem Verbrechen ihres Mannes keine Mitschuld trage; er winkte seinen Begleiter heran und gab dem Sergeanten durch einen Wink zu verstehen, daß er an die Thür klopfen möge. Es geschah.
Erschreckt fuhr Grete in die Höhe, sie eilte nach dem Fenster, von dem der Polizeirath sich etwas zurückzog und öffnete es: »Wer ist da?« rief sie ängstlich. »Wer klopft in der Nacht an die Thür?«
»Oeffnen Sie die Thür, gute Frau,« entgegnete der Polizeirath freundlich. »Wir müssen Sie sprechen.«
»Was wollen Sie? Ich lasse in der Nacht keinen Fremden in's Haus.«
»Wir sind keine Fremden. Kennen Sie den Herrn Doctor Stern nicht, den Neffen des Majors von Streit?«
Grete bog sich weit aus dem Fenster: »Sind Sie es wirklich, Herr Doctor?« fragte sie noch ängstlicher als vorher.
»Ja ich bin's, Grete. Es thut mir leid, daß wir Sie stören müssen, aber es geht nicht anders. Ich bitte Sie freundlich, lassen Sie uns ein.«
»Was wollen Sie? Was ist geschehen? Wer sind die Fremden mit Ihnen?« Sie beugte weiter vor, da fiel ihr Blick auf die im Sternenlicht erglänzenden Metallknöpfe der Uniform des Sergeanten. – »Allmächtiger Gott, die Polizei?« so schrie sie auf und entsetzt wankte sie zurück. Sie drückte die eine Hand fest aufs Herz, mit der andern stützte sie sich auf den Tisch, so stand sie einen Augenblick regungslos, dann aber gewann sie die verlorene Fassung wieder.
»Ich öffne schon!« sagte sie mit bebender Stimme und, die kleine Lampe ergreifend, verließ sie das Zimmer.
Die niedrige Thür öffnete sich. Grete führte den Polizeirath und seine Begleiter durch eine kleine, enge, fensterlose Küche, aus der die eine Thür direkt in's Freie führte, in die Wohnstube. Mit scheuem Blick betrachtete sie dabei den Sergeanten, dessen Uniform ihr sein Amt verrieth und den kleinen, dicken, gutmüthig aussehenden Herrn, der sie so freundlich und theilnahmvoll anschaute.
»Thut mir herzlich leid, liebe Frau, bringen Ihnen böse Nachrichten,« sagte der Polizeirath gütig, »geht aber leider nicht anders. Haben gewiß schon gehört? Abscheuliches Verbrechen. Baron Nordenheim ermordet. Wissen Sie es schon?«
»Ja, Michel hat es mir erzählt,« erwiderte Grete bebend.
»Wo ist Ihr Mann? Ist er zu Haus?«
»Nein, er ist in den Wald gegangen.«
»Was will er dort in der Nacht?«
»Er wollte – –« Grete wurde dunkelroth, sie stockte nicht wurde sehr verlegen, endlich sagte sie: »Ich weiß es nicht.«
Der Polizeirath blickte die zitternde Frau weniger freundlich, als vorher an. »Hat er Ihnen nicht gesagt, zu welchem Zwecke er in den Wald gegangen ist?«
Noch röther, noch verlegener stammelte Grete nur ein kurzes: »Nein!« hervor, sie schlug dabei die Augen nieder, sie wagte den Polizeirath nicht anzublicken.
Das gutmüthige Gesicht des Polizeiraths verfinsterte sich mehr und mehr. »Sonderbar, hätte darauf geschworen, diese Züge könnten nicht trügen!« so sagte er unwillig leise zu Fritz Stern. »Schade um das Weib!« Laut fuhr er fort: »Wollen es nicht sagen? Gut. Werde ich es Ihnen sagen. Ist in den Wald gegangen nach Nordenheim, um dort einzubrechen. Hats versucht und ist dabei gefaßt worden.«
Der plötzliche Schlag traf Greten in's Herz. Todtenbleich wankte sie zurück. »Nein,« rief sie im wilden Schmerz, »das ist eine Lüge! In den Wald ist er gegangen, um Holz zu holen! Es ist ja so unrecht und ich hab es ihm oft gesagt; Aber ein Einbrecher ist Michel nicht!«
Gretens ungekünstelter Schmerz, ihr tiefes Entsetzen bewiesen dem Polizeirath, daß sie die Wahrheit sprach, daß sie selbst von Michel getäuscht worden sei. Die Hoffnung etwas über den Versteck der geraubten Gegenstände zu erfahren, gab er auf, Michel hatte seine Frau sicherlich nicht zur Vertrauten seiner Schuld gemacht. »Armes Weib,« sagte er traurig, »aber es hilft nichts, kann ihr Haussuchung nicht ersparen. Müssen es sich gefallen lassen, gute Frau, daß Sergeant Ihr Haus durchsucht; geht nicht anders.«
»Durchsuchen Sie Alles, jeden Winkel will ich Ihnen zeigen. Sie werden nichts Unrechtes finden, denn ich schwöre es Ihnen, mein Michel ist kein Einbrecher. Er ist wohl mitunter wild und roh; aber doch so lieb und gut! Keinem Kinde kann er wehe thun. O glauben Sie nicht, was die Leute über ihn sagen, sie kennen ihn nicht, wie ich!«
Grete hatte in fürchterlicher Aufregung gesprochen, bei den letzten Worten versagte ihr die Stimme, ihr Schmerz machte sich in einem Thränenstrom Luft.
»Armes, armes, gutes Weib!« sagte der Polizeirath gerührt. »Ersparte Ihnen gern die Haussuchung; aber Pflicht! Sergeant!«
»Zu Befehlen, Herr Polizeirath!«
»Beginnen!«
Der Sergeant folgte dem erhaltenen Befehle, er durchsuchte das ganze Haus mit der peinlichsten Genauigkeit; zuerst die Stube, Grete half ihm dabei mit eifrigster Geschäftigkeit. Die Truhe wurde durchforscht und abgerückt, die Kinder mußten ihr Mooslager verlassen, welches durchgeschüttelt wurde. Kein Winkel blieb undurchsucht, selbst aus dem Ofen riß der Sergeant einige Steine, um ins Innere schauen und den harten Estrich des Fußbodens, wie die Wände beklopfte er an verschiedenen Stellen, um sich zu überzeugen, ob irgendwo vielleicht eine verborgene Höhlung sei. Ebenso genau durchsuchte er die Küche, den Boden und den Ziegenstall, der Polizeirath half ihm dabei mit dem höchsten Eifer, er überzeugte sich selbst, daß in Wildmichel's Wohnung von den geraubten Werthgegenständen nichts verborgen sei.
»In Haus und Stall ist nichts!« rapportirte der Sergeant. »Soll ich im Garten weiter suchen?«
»Nein! Fruchtlose Mühe. Zeit kostbar. Morgen dämmert. Bei Tagesanbruch müssen auf Mordstelle sein. Wie weit dahin von hier, Herr Doctor?«
»Etwa eine halbe Stunde. Direkt durch den Wald aber kommen wir etwas schneller hin.«
»Dann höchste Zeit. Müssen Dummköpfen aus P*** zuvorkommen. Leben Sie wohl, gute Frau, – schmerzt mich, muß es Ihnen aber sagen, daß Ihr Mann im Gefängniß ist.«
»O, er ist unschuldig; ich schwöre es Ihnen. Sie haben es ja gesehen, Sie haben nichts gefunden –«
»Wollen es hoffen! Wünschte es recht von Herzen, Ihretwegen. Hören Sie Frau, könnten in Noth kommen, während Mann gefangen. Polizeirath Richter in B*** Alfredstraße 7, 3 Treppen hoch. Vergessen Sie Adresse nicht. Sollen nicht vergeblich kommen.«
Der Polizeirath wandte sich nach diesen Worten hastig von der weinenden Frau ab, – Fritz Stern meinte, er sehe eine Thräne in den kleinen Augen des alten Polizisten blitzen, aber er mochte sich wohl getäuscht haben, denn als der Polizeirath aus der Hütte trat, zeigte er keine Spur von Rührung; er rief Fritz zu: »Führen Sie uns, Herr Doctor! Den nächsten Weg durch den Wald. Es ist schon fast ganz hell. Kommen gerade zur rechten Zeit.«
Sie schritten rüstig durch den Wald, Fritz ging voran, ihm unmittelbar folgte der Sergeant, den Schluß machte der Polizeirath. Kaum fünf Minuten waren sie gegangen, da fühlte Fritz plötzlich eine schwere Hand auf seiner Schulter, er wendete sich um. Der Sergeant hielt die Finger auf den Mund, dann knieete er hinter einem dichtbelaubten Haselbusch nieder und durch ein Zeichen bedeutete er Fritz und den Polizeirath, ein Gleiches zu thun. Beide gehorchten.
Mit äußerster Vorsicht bog der Sergeant die Zweige des Haselstrauches ein wenig auseinander, mit weit vorgebeugtem Kopf knieete er da, die Augen kniff er, sie zur höchsten Sehkraft anstrengend, zusammen. Der Polizeirath und Fritz mühten sich vergeblich durch das Blätterwerk hindurchzuschauen und zu erforschen, wodurch die Aufmerksamkeit des Sergeanten erregt werde. Sie sahen in der hier sehr lichten Heide nur die vereinzelten Bäume, die Kiefern und Haselbüsche, welche im dämmrigen Hintergrunde zusammenflossen; schon nach wenigen Augenblicken aber löste sich von diesem Hintergrunde ganz in der Ferne eine dunkle Gestalt, die von Zeit zu Zeit zwischen den Büschen verschwindend, doch schnell näher kam. – Nach und nach gewann die Gestalt deutlichere Umrisse, – Fritz glaubte, – aber nein, das war ja unmöglich, – sein Auge mußte ihn täuschen, – er glaubte den Wildmichel zu erkennen, der schnellen Schrittes durch den Wald gerade der Stelle zueilte, wo der Sergeant hinter dem Haselbusch lag. – Immer näher kam die Gestalt. Die Aehnlichkeit war täuschend! Hätte Fritz nicht sicher gewußt, daß der Wildmichel im alten Schloß von Kabelwitz gefesselt im Gefängniß liege, er würde geschworen haben ihn leibhaftig vor sich zu sehen; – und mit jedem Augenblick vergrößerte sich diese frappante Aehnlichkeit. Nein, dies war nicht nur eine Aehnlichkeit, der Wildmichel war es selbst!
Aufs Höchste erstaunt, wendete sich Fritz nach dem Polizeirath um, der lag ebenso wie der Sergeant regungslos hinter einem Haselbusch. Beide beobachteten mit äußerster Spannung jede Bewegung des sich nahenden Wildmichels.
Jetzt war dieser kaum noch zwanzig Schritte entfernt. Er blieb plötzlich stehen und schaute sich forschend im Kreise um, dann änderte er die Richtung, in der er vorgegangen war, er bog ein Wenig links ab. Vor einer vereinsamt mitten in einem Kreise von Haselbüschen stehenden hohen Kiefer knieete er nieder, er wühlte mit den Händen in dem den Boden bedeckenden Moos.
»Drauf,« so ertönte das leise Kommandowort des Polizeiraths. Im nächsten Augenblick schon stürmte der Sergeant mit gewaltigem Sprunge auf den Knieenden zu. Fritz und der Polizeirath folgten ihm, sie kamen gerade zur rechten Zeit, um dem heftig um sich schlagenden Wildmichel, der, ehe er sich noch hatte erheben können, von dem Sergeanten zu Boden geworfen worden war, die Glieder zu halten. Es bedurfte der höchsten Anstrengung der drei starken Männer, um den sich wüthend vertheidigenden Verbrecher zu zwingen, aber es gelang ihnen. Nach Verlauf einiger Minuten lag Wildmichel mit abermals gefesselten Händen und vermittelst eines Drahtseiles fest zusammengeschnürten Füßen hilf- und wehrlos im Grase unter der einzeln stehenden Kiefer.