Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Elwine wandelte langsam durch den duftigen Kiefernwald. Sie hatte, der alten Gewohnheit folgend, die leichte Jagdbüchse über die Schulter geworfen und Nero, ihren steten treuen Begleiter auf allen Jagdausflügen, gerufen; an die Jagd aber dachte sie, sonst die eifrigste Jägerin, heute nicht. Sie ließ es ganz unbeachtet, daß Nero mehr als einmal ihr die Nähe eines Wildes markirte, heute beschäftigten sie andere ernste Gedanken; – sie hatte ja vor wenigen Minuten erst durch ein einziges kleines Wort über ihr künftiges Leben entschieden.

Sie sollte die Gattin Heinrich's von Nordenheim werden! – Sie dachte zurück an die glücklichen Tage der Kindheit. Wie zärtlich liebte sie damals ihren älteren Vetter, fast ebenso sehr, als ihren Gespielen Fritz, und doch hatte sie, noch ein halbes Kind, – ein tiefes Entsetzen gefühlt bei dem Gedanken, daß sie sein Weib werden sollte. Und jetzt?! Wie wild und roh war Heinrich geworden. Schon als er von der Universität zurückkehrte, hatte er sie häufig durch seine unzarten Aeußerungen und durch seine Rücksichtslosigkeit verletzt, in den letzten Jahren aber war er noch viel schlimmer geworden. Auf Schloß Nordenheim, das hatte sie erfahren, wurden fast täglich wilde Orgien gefeiert und Heinrich war unter seinen zügellosen Gästen der Zügelloseste, er war ein Trinker und ein Spieler! In der ganzen Umgegend bildeten die tollen Streiche des Baron Heinrich von Nordenheim den Gegenstand der täglichen Unterhaltung. Man rühmte seine Gastfreundschaft, auch sprachen die armen Leute nicht ungünstig von ihm, denn er gab, wo ihm wahre Noth entgegentrat, mit vollen Händen, – aber sie liebten ihn trotzdem nicht, denn er zeigte sich gegen sie stolz, hochfahrend und rücksichtslos. – Nie kümmerte er sich um die Gefühle Anderer, ja es machte ihm sogar ein grausames Vergnügen, durch bittern Spott zu verletzen.

In Kabelwitz war er freilich nicht ganz so schlimm, wie in dem eigenen Schloß; Elwinens Nähe übte auf ihn einen besänftigenden Einfluß, trotzdem aber brach seine natürliche Rohheit doch immer wieder hervor und besonders war dies der Fall, wenn er, was häufig geschah, zu viel getrunken hatte.

Und Heinrich sollte trotzdem ihr Gatte werden! – Ein tiefes Grauen ergriff sie. – Wie war es nur möglich gewesen, daß sie zu dem verhängnißvollen Jawort gekommen war? – Fritz hatte es gewollt! Sie sah ihn wieder vor sich, wie er so ernst und mild sie bat, sie hörte seine Stimme wieder, sie fühlte noch einmal den gewaltigen Seelenschmerz, der sie ergriffen hatte darüber, daß er, gerade er sie bitten konnte, die Gattin eines Anderen, wenn auch seines Bruders, zu werden. – Er ahnte nichts von ihren schweren inneren Kämpfen, er wußte nicht, wie glühend sie ihn liebte! Was kümmerte sie Geld und Gut, was galten ihr die Vorurtheile des Standes! Sein Weib wäre sie mit Freuden geworden und selbst dem väterlichen Zorn hätte sie muthig Trotz geboten, wenn Fritz nur ein Wort der Ermuthigung zu ihr gesprochen hätte. – Aber nein, ein solches Wort konnte er nicht sprechen, denn er liebte sie wohl als Schwester, ein tieferes Gefühl aber kannte er nicht! – Als sie ihm, willenlos dem natürlichen Drang des Herzens folgend, an die Brust gesunken war, wie gütig und freundlich hatte er sie da zu trösten gesucht, aber eben nur gütig und freundlich wie der Bruder die Schwester. Sie schämte sich jetzt ihrer Schwäche, – daß sie ihm fast ihre Liebe verrathen hatte, ihm, dessen Herz kalt geblieben war, während das ihrige ihm so glühend entgegenschlug.

So träumend war Elwine tief in den Wald hinein gegangen, ohne sich um Weg und Steg zu kümmern, – sie hatte sich endlich am Fuße einer mächtigen Kiefer in das duftende Heidekraut gesetzt, Nero lagerte sich zu ihren Füßen.

Stunde auf Stunde verging, sie bemerkte es nicht. In ihre trüben Gedanken versunken, achtete sie nicht darauf, daß die Sonne untergegangen war und daß längst schon der Mond mit seinem sanften Lichte die Heide beleuchtete.

Wie lange sie so geträumt hatte, wußte sie selbst nicht, sie achtete nicht darauf, daß der zu ihren Füßen lagernde wachsame Hund den Kopf knurrend erhob; als er aber plötzlich aufsprang, laut bellte und als in demselben Augenblick in nicht zu großer Ferne ein Schuß fiel, erwachte sie aus ihren Träumen.

Elwine war von ihrem Vater zur leidenschaftlichen Jägerin erzogen worden und die alte Gewohnheit machte jetzt ihr Recht geltend. Für einen Augenblick vergaß sie die Vergangenheit, sie lebte nur der Gegenwart. Ein Schuß in der Heide, um diese Zeit abgefeuert, konnte nur von einem Wilddiebe herrühren. Elwine kannte das Gefühl der Furcht nicht. Als sie den Schuß hörte, sprang sie ohne sich zu besinnen auf, sie riß die Büchse von der Schulter. »Such, Nero!« so rief sie leise ihrem Hunde zu und dann folgte sie diesem, die Büchse schußgerecht in der Hand.

Was sie eigentlich wollte, wußte sie selbst kaum. Nicht einem bestimmten Plane, sondern der Eingebung des Momentes folgte sie, als sie mit glühender Wange dem Hunde nach durch das Gebüsch drang, um den Wilddieb zu überraschen. Sie achtete nicht darauf, daß ihr die Nadeln der jungen Kiefern ins Gesicht schlugen, als sie unaufhaltsam vorwärts eilte, sie dachte auch nicht an die Gefahr, welche aus dem unbesonnenen Unternehmen für sie erwachsen konnte – nur vorwärts, vorwärts, um den Dieb bei der That, bei dem erlegten Wilde zu ertappen!

Mit wüthendem Gebell stürmte Nero vor Elwine her, jetzt durchbrach er das letzte Gebüsch vor einer kleinen Waldlichtung, da plötzlich verwandelte sich sein wildes Bellen, er hatte einen Freund gefunden, dies erkannte Elwine aus dem veränderten Ton und als sie nun selbst die Zweige zurückschlug und auf die Lichtung hinaustrat, wurde ihr die Ursache von Neros veränderter Stimmung klar.

Auf der entgegengesetzten Seite der Lichtung stand, die kurze Büchse schußbereit in der Hand, der Wildmichel, neben ihm am Boden lag ein erlegter Rehbock. Nero sprang freudig winselnd an dem Wilddieb in die Höhe, dieser wehrte den Hund mit der linken Hand ab, indem er ihm zurief: »Kusch Dich, Nero! Nieder Nero!« Das wilde Thier gehorchte augenblicklich, es legte sich neben den verendeten Rehbock auf den Boden nieder, Wildmichel aber erhob die Büchse, Elwine sah deren Lauf auf sich gerichtet, als sie aus dem Buschwerk trat.

»Sie sind's, Fräulein!« rief Wildmichel überrascht, er ließ die Büchse ein wenig sinken, als er aber sah, daß Elwine die ihrige zum Angriff bereitete, legte er von Neuem an, indem er drohend schrie: »Das Gewehr fort, Fräulein, oder ich schieße! Der Teufel soll mich holen, wenn ich es nicht tue!«

Elwine gehorchte dem Befehl, sie ließ die Büchse sinken, wußte sie doch, daß der Drohung Wildmichels die That unmittelbar folgen würde; denn Michel war jedes Verbrechens fähig, der verrufenste Wilddieb der ganzen Heide. Niemand anders, als er, – so erzählten die Leute – hatte vor etwa einem Jahre den Förster von Sortau, der eines Morgens mit einer Kugel im Herzen todt im Walde gefunden worden war, erschossen.

Elwines Wangen wurden, als sie die Mündung der Büchse auf ihre Brust gerichtet sah und als sie in dem Augenblick unwillkürlich an jenen ermordeten Förster dachte, wohl etwas bleicher, aber sie verlor nicht die ruhige Besonnenheit; im Gegentheil – jetzt, wo sie der drohenden Gefahr unmittelbar gegenüberstand, gewann sie die kalte Ueberlegung wieder. Sie sah ein, daß sie höchst thöricht gehandelt habe, als sie allein ohne einen andern Schutz als den Nero's, dem Wilddiebe entgegengetreten war, sie verhehlte sich nicht, daß ihr Leben bedroht sei, denn dem Wildmichel gegenüber war auch Nero, das gewaltige Thier, für sie kein Schutz. Wildmichel hatte den Hund aufgezogen und ihn dem Major von Streit verkauft; er hatte sich selbst nur schwer von dem schönen Thiere getrennt und lange Zeit war vergangen, ehe dieses zu bewegen war, im Schloß Kabelwitz zu bleiben; die Erinnerung an den alten Herr bewahrte es stets; wo es den Wildmichel sah, begrüßte es ihn mit einem freudigen Gewinsel. Jedem andern Wilddiebe würde Nero wüthend an die Kehle gesprungen sein, während er jetzt gehorsam zu Wildmichels Füßen lag.

Wildmichel schaute mit finsterem Blick Elwinen an. Er ließ, als diese die Büchse absetzte, die seinige ebenfalls sinken; aber er hielt sie doch so, daß er jeden Moment zum Feuern bereit war.

»Was zum Henker haben Sie denn zu dieser Nachtzeit hier in der Heide schaffen, Fräulein?« so fragte er unwirsch. »Daß der Teufel auch gerade Sie mir in den Weg treiben muß.«

»Was Du hier schaffst, das sehe ich, Michel!« erwiderte Elwine ruhig und fest. »Schämst Du Dich nicht? Erinnerst Du Dich nicht dessen, was Du mir versprochen hast? Als Dein Weib und Deine Kinder am Nervenfieber krank lagen, als Niemand sich aus Furcht vor Ansteckung in Dein Haus getraute, da kam ich und pflegte die gute Grete und die Kinder!«

»Ich weiß es, Fräulein und werde es nie vergessen mein Leben lang!« entgegnete Wildmichel kleinlaut; er ließ die Büchse tiefer sinken, die drohende Stellung gab er ganz auf.

»Du wirst es nicht vergessen? Das hast Du mir wohl damals versprochen, als ich Dir verkünden konnte, die Grete und die Kinder würden von der schweren Krankheit genesen. Da hast Du mir die Hände geküßt und mir geschworen, Du wollest ein ordentlicher Mensch werden, wollest arbeiten und das Wildern ganz lassen. Sieh hier den Rehbock an! Nennst Du dies Wort halten, Michel? Oder hast Du es mir nicht versprochen?«

»Ja, versprochen hab ich's,« entgegnete Michel mürrisch. »Und ich hätte auch Wort gehalten; aber soll ich Frau und Kinder verhungern lassen?«

»Arbeite!«

»Hab ich's etwa nicht versucht? Wer giebt wohl den Wildmichel Arbeit? Der Kerl stiehlt, so sagen die Leute, weil ich mal auf dem Zuchthaus gesessen hab' und wo ich anklopfe, da machen sie die Thür fester zu und weisen mich ab. Hunger thut weh, Fräulein und noch weher thut's, die Kinder hungern zu sehen und kein Brod zu haben. Wenn Einer so recht in Not ist, dann fragt er nicht, woher er das Geld, um Brod zu kaufen, nimmt. Ehe ich die Grete und die Kinder hungern lasse – – –« er vollendete den Satz nicht. Mit wildem Blick stierte er vor sich nieder. Woran mochte er denken, er hatte plötzlich ganz vergessen, daß er nicht allein im Walde war, aber Elwinens Stimme rief ihm schnell seine Lage in's Gedächtniß zurück.

»Weshalb hast Du nicht in Kabelwitz Arbeit gesucht?«

»Hab ich's etwa nicht gethan? Aber das Fräulein war mit dem Herrn Major in die Stadt gereist! Da gab's wohl große Bälle und Feste, da tanzten Sie und tranken Wein und jubelten, während meine arme Grete, die noch so schwach war, daß sie kaum eine Hand regen konnte, mit den Kindern fast verhungerte. Als ich den Herrn Inspector bat, mir Arbeit zu geben, welche es auch sei, in der Scheune, auf dem Hof oder im Holz, da schimpfte er mich einen Dieb und sagte, er habe nicht Lust, sich das Diebesgesindel auf das Schloß zu gewöhnen und als ich nun aufbegehrte, weil ich mich nicht einen Dieb nennen lassen wollte, da drohte er mir, er werde mich mit den Hunden vom Hofe hetzen lassen! Da ging ich und seitdem – – – nun der Teufel soll mich holen, wenn er will. Ich hab wohl arbeiten wollen, aber nicht gekonnt und verhungern will ich nicht mit den Kindern.«

Elwine schaute den Wilddieb mitleidig an. »Ich habe von der Rohheit des Inspectors nichts gewußt, Michel,« sagte sie freundlich, »laß sie Dir nicht zu Herzen gehen. Komm morgen in's Schloß, Du sollst Arbeit bekommen!«

Michel schüttelte finster den Kopf., »Dazu ist es zu spät!« sagte er mißmuthig. »Ich hab den Inspector später, als ich ihn allein im Walde traf, tüchtig durchgebläut, das vergiebt er mir nicht, obwohl er es keinem Menschen erzählt hat. Wenn er mir jetzt auch Arbeit gäbe, in ein paar Tagen oder Wochen würde er mich doch fortjagen und sagen: ›Der Michel war ein fauler Hund, den man nicht brauchen kann!‹ Mit der Arbeit ist's nichts mehr und ich brauche sie auch nicht, so lange es noch Rehe, Hasen und Holz in der Heide giebt.«

»Du willst also weiter stehlen und endlich wieder auf das Zuchthaus kommen?« fragte Elwine erzürnt.

»Noch bin ich nicht da!« erwiderte Michel höhnisch lachend. »Ich wünsch' es dem Förster nicht, daß er mich einmal im Walde trifft! Aber Fräulein, wozu das Gerede. Ich bin kein Kind mehr und brauche keine Ermahnungen, ich weiß schon, was ich zu thun habe!Wollen Sie mir versprechen, keinem Menschen in der Welt ein Wort davon zu sagen, daß Sie mich hier gesehen haben, dann mögen Sie ruhig nach Hause gehen, sonst – –«

»Sonst?« fragte Elwine.

Michel hob mit einem finsteren Blick den Stutzen von Neuem. »Auf's Zuchthaus geh ich nicht und jetzt schon gar nicht, wo ich denke, es soll mir bald besser gehen! Ich rath Ihnen Gutes, Fräulein! Machen Sie mich nicht unwirsch!«

»Du drohst mir, Michel?« fragte Elwine traurig. »Das hätte ich von Dir nicht erwartet.«

Der Stutzen sank schnell wieder nieder. »Nein, Fräulein, ich drohe nicht und ich thue Ihnen auch nichts, vor mir sind Sie sicher. Ich bin wohl ein böser Hund, aber Ihnen ein Leids thun? Nein, lieber wollt ich mir selbst die Kugel durch den Kopf jagen. Und ich thu es, wenn Sie mich verrathen, Fräulein; denn in's Zuchthaus geh ich nicht wieder und jetzt gar nicht! Machen Sie einen armen Kerl nicht unglücklich, Fräulein!«

»Willst Du mir noch einmal versprechen, niemals wieder zu wildern? Willst Du es versprechen heilig und fest? Ich sorge dafür, daß Du Arbeit bekommst, wenn nicht in Kabelwitz, jedenfalls in Nordenheim bei meinem Vetter Heinrich.«

Eine seltsame Veränderung ging, als Elwine das Wort Nordenheim aussprach, plötzlich mit dem Wildmichel vor; seine Augen wurden stier, seine Züge verzerrten sich, er stieß den Stutzen heftig auf den Boden und rief wild lachend: »Arbeit bei dem Thalerschießer? Nun, darauf hin will ich es versprechen. Gut, Fräulein, wenn Sie mir bei dem Arbeit verschaffen, dann will ich mein Lebtag nicht mehr einen Rehbock schießen, das versprech ich Ihnen.«

»Ich werde mein Wort halten, Michel,« erwiderte Elwine ernst, »ich will hoffen, daß Du auch das Deinige hältst. Jetzt nimm den Rehbock da auf, den ich geschossen habe und trage ihn mir nach dem Schloß. Du sollst ein gutes Trinkgeld für die Arbeit bekommen.«

Michels Züge verriethen ein namenloses Staunen, als fragte: »Den Rehbock da soll ich nach dem Schloß tragen? Und Sie – –«

»Ja, ich habe ihn geschossen, oder Du für mich, was gleich ist und Niemanden etwas angeht. Also vorwärts! Nimm den Rehbock und folge mir!«

Elwinens ruhiger, bestimmter Befehl hatte eine merkwürdige Wirkung. Einen Augenblick zauderte Wildmichel noch, er schaute den erlegten feisten Bock mit einem Blick des Bedauerns an, dann aber gehorchte er. Er warf das schwere Thier über die Schulter und ohne ein Wort zu erwidern, folgte er Elwinen, welche durch das Gebüsch hin den nächsten Weg nach Schloß Kabelwitz einschlug.

Eine Zeit lang ging Wildmichel ohne eine Wort zu sprechen hinter Elwinen her, als diese aber in einen wenig betretenen Fußpfad einbog, der von der geraden Linie nach Kabelwitz etwas abwich und in einem kleinen Bogen sich zu dem von Nordenheim nach Kabelwitz führenden Weg hinzog, blieb Michel stehen.

»Wozu wollen Sie den Umweg machen, Fräulein?« fragte er mürrisch. »Wir kommen quer durch den Wald wohl um 10 Minuten früher nach dem Schloß.«

»Ich weiß es; aber wir müssen durch dichtes Gestrüpp und der Weg wird bald sehr unbequem werden, besonders für Dich, Michel, – es liegt ja nichts daran, ob wir einige Minuten früher oder später nach Kabelwitz kommen.«

»Ihnen liegt daran nichts, ich habe aber keine Zeit zu verlieren. Den Fußweg gehe ich nicht, Fräulein.«

Elwine blickte erstaunt den Wildmichel an. Was sollte diese unwirsche Weigerung bedeuten? Michel mußte zu derselben einen besonderen Grund haben, denn daß es ihm auf einen Umweg von 5 bis 10 Minuten nicht ankam, daß seine Entschuldigung, er habe keine Zeit, nur ein Vorwand war – wußte sie. – Fürchtete er vielleicht auf dem Fußwege eine unliebsame Begegnung mit einem der Schloßdiener? – Sie fragte ihn deßhalb und suchte ihn darüber zu beruhigen, wenn er in ihrer Begleitung sei, werde keiner der Diener ein unfreundliches Wort wagen; – Michel aber ließ sich nicht beruhigen, er blieb verstockt dabei, er habe keine Zeit, müsse so schnell als möglich nach Haus und wolle daher den kürzesten Weg, wenn dieser auch etwas beschwerlicher sei, gehen. Seine Weigerung war so sonderbar, daß in Elwinen der Verdacht erregt wurde, Michel habe vielleicht ein Stück Wild geschossen und es in der Nähe des Fußwegs, wo es von Nero leicht aufgespürt werden konnte, versteckt. Sie wollte sich darüber Gewißheit verschaffen.

»Wenn Du keine Zeit hast und mir zu Gefallen nicht ein Paar Minuten opfern kannst oder willst,« so sagte sie ruhig »dann magst Du direkt nach dem Schloß durch das Gestrüpp gehen, ich aber folge dem Fußweg. Gieb nur den Rehbock in der Küche ab, sage ich schicke Dich und würde bald nachfolgen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, schlug Elwine, Nero zu sich rufend, den Fußweg ein.

Wildmichel blieb zögernd stehen; er pfiff leise dem Hund, als dieser aber dem Pfiff gehorchte und umkehrte, rief ihn Elwine, welche dies erwartet hatte, zurück. »Nero bleibt bei mir,« sagte sie sehr bestimmt. »Ich mag nicht allein in der Nacht, ohne den Schutz des Hundes, durch den Wald gehen und ich verbitte mir, daß Du ihn wieder anlockst, Michel.«

»Hab gar nicht daran gedacht!« erwiderte Michel, der seine Absicht durchschaut sah, kleinlaut. – »Wenn das Fräulein denn durchaus den Fußweg gehen will, muß ich schon folgen; ich kann Sie doch nicht in der Nacht allein gehen lassen; aber den Nero nehme ich an die Leine. Er könnte sonst einen Hasen aufspüren und dann ist er gleich toll hinterdrein und nicht wieder zurückzurufen.«

Elwinen's Verdacht wurde durch diese Aeußerung Michels noch bestärkt. Hatte dieser auf dem bisherigen Wege nicht daran gedacht, den Hund an die Leine zu nehmen, weshalb wollte er es jetzt thun? Er hatte sicherlich nur die Absicht, Nero vom Herumstreichen im Gebüsch, wo er leicht das erlegte Wild aufspüren konnte, abzuhalten. Diese Absicht beschloß Elwine zu vereiteln; – sie erwiderte: »Es ist ganz unnöthig, den Hund zu quälen; ich habe ihm seine Unart längst abgewöhnt, er folgt mir auf den ersten Ruf.«

Michel wagte noch einen Einspruch, als aber Elwine diesen ganz unbeachtet ließ, Nero zu sich rief und nun, ohne sich weiter aufzuhalten, vorwärts schritt, folgte er höchst widerwillig. Sein wachsames Auge ruhte fortwährend auf dem Hunde und jedes Mal, wenn dieser den Versuch machte, in das Gebüsch zur Seite des Weges einzudringen, rief er ihn sofort zurück. – Eine Zeit lang war sein Bemühen von dem besten Erfolg begleitet. Der Hund gehorchte jedes Mal seinem Rufe, plötzlich aber wurde das Thier sehr unruhig, es stieß ein winselndes Heulen aus und ohne sich von dem Pfeifen und Locken Wildmichel's aufhalten zu lassen, lief es vom Wege ab in den Wald, gleich darauf heulte es fürchterlich, – es kehrte zurück, legte sich winselnd zu Elwinens Füßen, dann lief es abermals in den Wald und stieß dort von Neuem dasselbe entsetzliche Geheul aus.

»Was mag Nero dort aufgespürt haben?« fragte Elwine stehen bleibend. Sie schaute den Wildmichel bei dieser Frage forschend an, der aber vermochte den fragenden Blick nicht zu ertragen. Sein Auge senkte sich scheu zu Boden.

»Was weiß ich's? Vielleicht irgend ein verendetes Thier,« so erwiderte er; aber er sprach es nicht fließend, die Zunge stockte ihm, er stieß die Worte vereinzelt, abgebrochen hervor.

Elwinens Verdacht wurde jetzt zur Gewißheit. Ein Blick in Michel's verzerrte, heftig arbeitende Züge genügte ihr, um das Schuldbewußtsein des Wilddiebs zu erkennen.

Was aber hatte er gethan? Sie war entschlossen, sich davon zu überzeugen. »Ich will selbst nachsehen, was es ist,« sagte sie ruhig, indem sie den Weg verließ, um dem Hund in den Wald zu folgen; aber Michel hielt sie zurück; mit der Hand umklammerte er Elwinens Arm, indem er wild erregt ausrief: »Um Gottes Willen, Fräulein, bleiben Sie zurück!«

Elwine stieß seine Hand fort. »Was unterstehst Du Dich?« fragte sie erzürnt. »Weshalb soll ich nicht sehen, was das Thier hat? Hör' nur, wie gräßlich es wieder heult.« Michel war rathlos. Er wollte Elwinen nicht in den Wald dringen lassen und doch wußte er keinen Grund anzugeben, der sie hätte bewegen können, freiwillig von ihrer Absicht abzustehen, und ebenso wenig wagte er es, sie mit Gewalt zurück zu halten. Nur bitten konnte er; er that es, seine Hand zitterte, als er sie abermals auf Elwinens Arm legte und die Stimme versagte ihm fast, als er flehte, das Fräulein möge doch ruhig nach Haus gehen, der Herr Major warte gewiß schon lange und ängstige sich, wo seine Tochter geblieben sei.

Seine Bitte war vergeblich, Elwine folgte nicht ihm, sondern dem treuen Nero, der sich abermals winselnd zu ihren Füßen krümmte und dann kläglich heulend langsam wieder durch das Gebüsch vordrang.

Als Michel sah, daß Elwine sich nicht zurückhalten ließ, daß sie in das Gebüsch ging und hinter dessen Zweigen verschwand, – stieß er einen wilden Fluch aus. Er warf den Rehbock von der Schulter, dann blieb er einen Augenblick sinnend stehen, nach kurzem Bedenken aber entschloß er sich, er folgte Elwinen.

Junge Kiefern und Birken bildeten zur rechten Seite des Weges ein verwachsenes mehr als mannshohes Dickicht, nur mühsam kam Elwine in demselben vorwärts, nach kurzer Zeit aber wurden die Büsche weniger dicht und bald darauf betrat sie eine Waldlichtung, durch welche sich der von Nordenheim nach Kabelwitz führende Fußweg schlängelte, sie wurde vom fahlen Schein des sinkenden Mondes schwach beleuchtet.

Als Elwine aus dem Gebüsch trat, übersah sie mit einem Blick die ganze Lichtung und jetzt wurde ihr das entsetzliche Geheul Nero's plötzlich in fürchterlicher Weise erklärt. – Auf dem Rasen, ganze nahe bei dem Fußwege lag ausgestreckt starr und regungslos ein menschlicher Körper, Nero umjagte denselben heulend im weiten Umkreise.

Elwine wich entsetzt zurück; »Großer Gott, was ist das?« – rief sie erschreckt

»Was wird's sein?« antwortete die rauhe Stimme des Wildmichel. »Wohl ein Betrunkener, der hier seinen Rausch ausschläft. – Kommen Sie, Fräulein, lassen Sie ihn liegen. – Es ist schon spät, der Mond wird bald untergehen!«

Ein Trunkener! Nein, das war unmöglich! So starr und regungslos liegt kein Lebender. – Je länger Elwine nach dem Körper hinschaute je tiefer drängte sich ihr die Ueberzeugung auf, daß sie eine Leiche vor sich sehe und sie wurde in derselben bestätigt durch das Wesen Nero's, der bald winselnd zu ihren Füßen kroch, bald wieder kläglich heulend in wilden Sprüngen den Körper umkreiste. Einen Trunkenen würde der gewaltige Hund wüthend angebellt haben, vor der Leiche aber fürchtete er sich, er wagte sich ihr nicht zu nahen.

Eine Leiche im Walde und Wildmichel wußte, daß sie dort lag, er hatte deshalb Bitten und Ueberredungskunst aufgeboten, um Elwinen zurückzuhalten! Ein fürchterlicher Gedanke erwachte in ihr. Hier war ein Verbrechen, ein Mord verübt worden und Wildmichel war der Mörder.

Sie schaute zu ihm auf. – Ja, er war der Mörder! Das Kainszeichen stand auf seiner Stirn. – Trotz, Verstocktheit und Entsetzen prägte sich in seinen Zügen aus. Er wagte es nicht, Elwinen ins Auge zu blicken und eben so wenig, nach der Leiche zu schauen, – sein unstätes Auge irrte über die im Mondlicht glänzenden Kiefernbüsche hin, nur die Richtung, wo der entseelte Körper lag, vermied es scheu.

Ein tiefes Grauen ergriff Elwinen. Mit dem Mörder und seinem Opfer war sie allein im Walde, fern von jeder menschlichen Hülfe. Wie muthig, ja verwegen sie auch sonst war, dieser Gedanke überwältigte sie doch fast, – ihre Glieder bebten, zum ersten Mal im Leben zitterte sie vor Furcht und Grauen. Aber sie durfte sich diesem Gefühl nicht hingeben; vielleicht war jener Unglückliche dort noch nicht aus dem Leben geschieden, vielleicht nur schwer verwundet und bewußtlos, dann mußte ihm Hülfe geleistet werden. Sie bot die ganze Kraft ihres Willens auf und es gelang ihr, die feige Furcht zu bemeistern.

Langsamen aber doch festen Schrittes ging sie, ohne zu zögern, der Leiche zu, Wildmichel folgte ihr mechanisch, – er wagte es nicht mehr Einspruch zu erheben.

Mit jedem Schritte, welchen Elwine dem leblosen Körper näher kam, gewann dieser für sie bekanntere Formen, – jetzt hatte sie ihn erreicht, sie beugte sich über ihn und konnte in das zur Seite gewendete bleiche, vom Mondlicht beleuchtete Angesicht schauen.

»Heinrich!« so schrie sie entsetzt auf. – »Heinrich ermordet!«

Sie wankte, ihre Sinne schwanden, sie wäre zu Boden gesunken, wenn Wildmichels kräftiger Arm sie nicht aufrecht erhalten hätte. Diese Berührung aber gab ihr das Leben wieder, – voll Abscheu vor dem Mörder entriß sie sich seinem Arm.

Wildmichel mochte ahnen, was in ihrer Seele vorging. »Ich hab es nicht gethan, gewiß und wahrhaftig nicht! Er war schon todt, als ich ihn fand!« – So rief er; im nächsten Augenblicke aber reute ihn schon das halbe Zugeständniß, welches in seiner Entschuldigung lag; in peinlicher Verwirrung und Verlegenheit stammelte er unzusammenhängende Worte: er wisse nichts von der ganzen Geschichte, der Baron sei vielleicht gar nicht todt, nur betrunken, dann aber brach er plötzlich ab, denn jedes Wort, das fühlte er, konnte nur den Verdacht gegen ihn steigern.

Elwine rang nach Fassung. Mit gewaltiger Geisteskraft bekämpfte sie ihr Entsetzen und ihren Abscheu – Sie beugte sich abermals zu der Leiche nieder. – Hier war keine Hoffnung auf Rettung mehr, – das Auge war gebrochen, die Stirn, auf welche sie ihre Hand legte, eisig kalt. – Er war todt und daß er ermordet worden sei, darüber konnte sie nicht im Zweifel bleiben. Der helle Sommerrock, mit welchem der Leichnam bekleidet war, zeigte an der linken Seite einen dunklen Blutflecken und auf dem Rasen zog sich ein schwarzer Blutstreif bis zu einer kleinen Vertiefung im Boden, die ganz mit Blut gefüllt zu sein schien.

Mit scheuen Blicken schaute Elwine nach dem Wildmichel. Der stand regungslos nicht fern von ihr, noch immer wagte er die Leiche nicht anzuschauen, noch immer rang er vergeblich nach Fassung.

Was sollte Elwine beginnen? Sie durfte dem Mörder nicht verrathen, daß sie Verdacht gegen ihn hege; war es doch schlimm genug, daß ihm ihr erstes unwillkürliches Loßreißen aus seinem Arm schon ihre Gedanken halb entschleiert hatte, sie bedurfte Michel's Hilfe, um die Leiche, die sie nicht im Walde lassen durfte, nach Schloß Kabelwitz zu bringen. Ihren Abscheu gegen den Mörder mühsam überwindend sagte sie mit schwer errungener Ruhe:

»Mein armer, armer Heinrich! Er ist schändlich gemordet worden, Michel!«

»Ich war es wirklich nicht, Fräulein!« rief Michel abermals sich vergessend unwillkürlich aus.

»Wer denkt an Dich, Michel? – Ich weiß ja am besten, daß Du auf der Jagd warst, als der niederträchtige Mord geschah. Habe ich Dich nicht bei dem erlegten Rehbocke getroffen?«

Michel athmete von einer schweren Angst befreit leichter auf. »Ja, auf der Jagd war ich, Sie können es bezeugen!« rief er erfreut. »Nicht mit einem Schritt bin ich hier in die Nähe gekommen, gewiß und wahrhaftig nicht; ich kann es beschwören.«

Elwine wurde von Abscheu und Ekel gegen den frech leugnenden Mörder ergriffen, aber sie gab sich diesem Gefühl nicht hin, – mit einer Ruhe, welche unter den gegebenen Verhältnissen fast unnatürlich erschien, fuhr sie fort: »Wir dürfen die Leiche nicht hier im Walde lassen, Michel, wir müssen sie nach dem Schloß bringen. Ich bin kräftig, ich werde Dir helfen, meinen armen Heinrich nach dem Schloß zu tragen.«

»Nicht um die Welt faß ich die Leiche an! Die Wunde könnte sich wieder öffnen!« rief Michel entsetzt.

Der unwillkürliche Ausruf gab einen neuen Beweis seiner Schuld. Er fürchtete, daß bei seiner Berührung die Wunden des Ermordeten öffnen könnten und dies geschah nach dem in der Gegend herrschenden Aberglauben, wenn der Mörder die Leiche seines Opfers berührte. Elwine gab sich keine Mühe, Michel zu überreden, sie kannte ja das abergläubische Landvolk ihrer Heimath und wußte, daß bei demselben jedes vernünftige Wort vergeblich sei, daß Michel um keinen Preis die Leiche berühren werde.

»Dann bleibt nichts übrig, als daß Du nach Sortau eilst, um Leute herbeizuholen, – es sind kaum 10 Minuten bis dahin – in spätestens einer halben Stunde kannst Du zurück sein.«

»Und Sie, Fräulein, wollen hier im Walde in der Nacht mit der Leiche allein bleiben?« fragte Michel erstaunt.

»Ich bleibe hier unter Nero's Schutz!« entgegnete Elwine fest. – »Ich fürchte nichts. Eile Dich, Michel, in einer halben Stunde mußt Du zurück sein.«

Michel blickte das muthige Mädchen mit wahrer Bewunderung an. Er wagte keinen weiteren Einwand, ohne Widerspruch gehorchte er. Mit großen Schritten ging er über die Lichtung; – als er den Waldrand erreicht hatte, schaute er sich um; da sah er, daß Elwine sich zu der Leiche herabbeugte, daß sie einen Kuß auf die weiße Stirn des Todten drückte. Schaudernd wandte der Wilddieb sich ab, seine Kniee zitterten, er mußte sich an einen Baum stützen, um sich aufrecht zu erhalten; bald aber gewann er seine Fassung wieder, und nun drang er in den Wald, quer durch denselben eilte er, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, in der Richtung nach Sortau fort.


 << zurück weiter >>