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Roger erhielt nie eine Antwort auf seinen Brief an David. Aber bald, nachdem er wieder zur See gegangen war, erhielten Euclid und Bessy die offizielle Erlaubnis, den Gefangenen besuchen zu können. David Felton lag im Sterben und wünschte, sie sogleich zu sehen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren, wenn sie ihn lebend antreffen wollten, und sie eilten dem Ruf zu folgen, ehe sie noch die ganze Schwere des neuen Kummers gefaßt hatten.
David hatte gebeten, daß man ihn in seine eigene Zelle bringen möchte, er wollte lieber die Stille und Einsamkeit ertragen, als inmitten des Gesindels in einem Gefängnishospital sein Leben aushauchen. Man hatte ihm eine bessere Matratze und ein weicheres Kopfkissen gegeben, in jeder andern Hinsicht aber blieb die kahle, weißgetünchte Zelle, wie sie bei seinem Eintritt vor Jahresfrist gewesen war. Durch das dicht vergitterte Fenster, hoch oben an der Decke, konnte er nur ein kleines Stück des grauen, winterlichen Himmels erblicken. Die schwere Tür mit dem kleinen runden Loch, durch das der Kerkermeister die Gefangenen allezeit ungesehen beobachten konnte, schloß sich geräuschlos hinter Euclid und Bessy; ängstlich blieben sie auf der Schwelle stehen, als ob sie sich nicht getrauten, dem Gefängnisbett näher zu treten.
Er lag mit festgeschlossenen Augenlidern da, sein weißes eingefallenes Gesicht ruhte so still auf dem Kissen, daß, wie sie Hand in Hand dastanden und sich kaum zu bewegen wagten, sie glaubten, daß er schon tot sei. Als aber Bessy zitternd näher trat und ihre warme Hand auf die mageren, knöchernen Finger, die auf der rauhen Decke ruhten, legte, blickte er plötzlich auf und sah ihr ohne Glanz oder Lächeln in seinen Augen, mit einem schmerzlichen Blick unaussprechlicher Liebe ins Antlitz.
»David,« rief sie, indem sie auf die Knie sank und ihren Kopf dicht an den seinen auf das. Kissen legte, »David, sprich doch ein Wort!«
»Klein-Bessy,« sagte er, und »Euclid.«
»Ach David!« antwortete Euclid voll unaussprechlichen Mitleids. Die Züge des alten Mannes trugen einen Ausdruck von Frieden und stiller Freude, welcher den früheren Mißmut und Gram verdrängt hatte; seine Stimme berührte Davids Ohr ebenso wohltuend, wie seiner Mutter und Bessys Stimme.
»Ich sterbe im Gefängnis,« sagte er.
Euclid nickte schweigend, und Bessy drückte seine kalte Hand an ihre Lippen und küßte sie zärtlich.
»Es war ein verfehltes Leben für mich,« stöhnte er, »aber bald ist's aus.«
»O David!« schluchzte Bessy, »wenn du wieder gesund wirst und so lange lebst, bis du frei bist, wollen wir beide weit fortgehen, in ein fremdes Land, wo du glücklich leben kannst.«
»Es ist besser so,« sagte er, indem er ihr rosiges Gesichtchen freundlich mit seiner mageren Hand streichelte. »Ich hätte nur dein Glück getrübt, Klein-Bessy, Roger wird ein guter Mann für dich sein und dich noch lieber haben, wenn ich nicht da bin, und manchmal wirst du an mich denken. Ich aber muß zur Hölle fahren; und kann sie auch schlimmer für mich sein, als es diese Welt gewesen ist?«
»David!« rief sie, »du wünschest doch nicht, dahin zu kommen?«
»Es gibt keinen andern Ort für mich,« antwortete er. »Aus dem Gefängnis kommt man nicht in den Himmel. Ich habe Gottes Gebote übertreten, und sie sagen, er wird uns dort härter strafen, als es hier geschehen ist. Gott kann mich nicht freilassen, daß ich in den Himmel komme.«
»Ach, das ist ja wahr,« sagte Bessy weinend, »du hast alle Gebote Gottes übertreten, und bist ein großer Sünder; aber David, David! tut es dir nicht leid, daß du gegen Gott gesündigt hast?«
»Ja, mir ist es leid, und ich fürchte mich vor Gott,« erwiderte er traurig.
»Aber Gott kann dir auch jetzt noch vergeben,« sagte Euclid. »Vergab JEsus nicht dem Dieb, der an seiner Seite starb, als er gekreuzigt wurde? Ein Dieb! Bessy, lies es uns vor, damit ich keinen Fehler mache.« Und mit vor Schmerz zitternder Stimme las Bessy, die nahe am Bette kniete, die folgenden Worte:
»Es wurden aber hingeführt zwei andere Uebeltäter, daß sie mit ihm abgetan würden. Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn daselbst, und die Uebeltäter mit ihm, einen zur Rechten, und einen zur Linken. JEsus aber sprach: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Aber der Uebeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilft dir selbst und uns. Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und zwar wir sind billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt. Und sprach zu JEsus: HErr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst. Und JEsus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.«
»So ist's,« rief Euclid aus. »Die Uebeltäter erhielten nur, was ihre Taten wert waren, er aber hat nichts Böses getan. Sie hatten das Gesetz übertreten und wurden gekreuzigt, aber JEsus wurde mit ihnen gekreuzigt. Es schien auch, als könnten sie nirgends anders hinkommen als in die Hölle. Aber es gab noch einen Weg zum Himmel, sogar von den drei Kreuzen auf Golgatha, und JEsus selber hat diesen Weg gebahnt, denn das Blut JEsu Christi des Sohnes Gottes macht uns rein von aller Sünde. Sie hätten beide mit ihm ins Paradies kommen können, und du kannst vom Gefängnis aus dahin kommen, David. Der arme Dieb war auch dem Tode nahe, aber es war doch noch Zeit, daß er JEsum bitten konnte, daß er an ihn denken möchte. Ich sage nicht, daß du geschickt bist, in den Himmel zu kommen, David; darüber kann ich nichts sagen! Aber der HErr JEsus ist ein so gnädiger Heiland und will die größten Sünder gerne selig machen, wenn sie nur sich an ihn wenden. Der Mörder war auch nicht geschickt, in den Himmel zu kommen; aber JEsus machte ihn geschickt, und so kam er mit dem HErrn in den Himmel. Das muß ein herrlicher Ort sein. Ach, David, wende dich zu JEsu, dann kommst du auch zu ihm!«
Aus Euclids vor Bewegung glühendem Gesicht sprach die ernstlichste Bitte, seine heisere Stimme klang sanft und überredend. David heftete seine traurigen, hoffnungslosen Augen auf ihn und hörte ihm zu wie jemand auf den fernen Ton, der Hilfe verkündet, lauscht.
»JEsus selbst wurde gekreuzigt, als wenn er das Gesetz ebenso wie die andern verletzt hätte,« sagte Bessy, und es flog wie ein Sonnenstrahl über ihre Züge. »Er hatte nie eine Sünde getan, aber es ist, als hätte er zu sich selbst gesagt: Es gibt arme, sündige Menschen, die für ihre Sünden getötet werden, die werden vielleicht denken, daß ich nicht gekommen bin, sie zu suchen und ebensowohl zu erlösen, wie die andern, wenn ich nicht ebenso sterbe wie sie. Er muß die allerbösesten Menschen haben retten wollen, sonst wäre er wohl anders gestorben und nicht so, als ob er selbst die Gesetze übertreten hätte. Ich habe dies früher nie bedacht: Er kam, um Diebe und Mörder zu retten, und darum starb er, als ob er einer von ihnen gewesen wäre. Damit hat er alle ihre Sünden gebüßt und abgetan. David, du bist nicht ferner vom Himmel, als der arme Schächer es war!«
Der schwache Hoffnungsschimmer in Davids eingesunkenen Augen wurde heller, als ob die Hilfe näher käme, seine zitternden Finger drückten Klein-Bessys Hand fester.
»Ja, es muß Raum für dich dort sein,« sagte der alte Euclid. »Er weiß, wo es für dich am besten ist, und, o David, er liebt dich. Denke nur fest daran. Sieh, Bessy und ich haben aus Liebe und Mitleiden ein Plätzchen für dich ausfindig gemacht, wenn du es nur erlebt hättest, frei zu werden; aber seine Liebe ist noch hundertmal größer. Es leuchtet ein, daß er uns hundertmal mehr liebt, als wir armen Menschen uns untereinander lieben, denke nur an ihn und bete zu ihm. Wenn du weiter nichts sagen kannst, so sage nur: ›HErr, gedenke an mich‹, wie der arme Bursche am Kreuz neben ihm. Ich wollte, ich wüßte seinen Namen, doch das tut nichts zur Sache. Du kannst JEsum nicht sprechen hören, so wie er; aber er wird doch sagen: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Bessy, liebes Kind, wenn wir hören, daß David gestorben ist, dann werden wir zueinander sagen: Heute ist er bei JEsu im Paradiese. Mir scheint dies besser, als aus dem Gefängnis in die Straßen Londons zu kommen.«
Dem alten Euclid rollten die Tränen über die welken Backen, während David zu ihm aufblickte. Der Jüngling machte große Anstrengungen zum Sprechen, mühsam brachte er die Worte heraus: »Tausendmal besser, wenn es wahr ist.«
»Wenn es nicht wahr ist, so gibt es keinen Trost für dich und mich,« erwiderte Euclid, »dann sind wir schlimmer daran, wie Hunde. Wenn es keinen Gott gibt, der uns liebt, und keinen Erlöser, der für uns gestorben ist, dann ist diese Welt ein grausam verfluchter Ort.«
»O, es ist wahr,« rief Bessy, indem sie seine Hände zärtlich in den ihrigen hielt. »Ich habe dich lieb, David, und Gott hat dich lieb, und Jesus starb am Kreuz und ein Dieb an seiner Seite. Er würde dies nie getan haben, wenn er uns nicht alle liebhätte.«
Aber die ihnen gewährte Zeit war verflossen, und der Wärter zeigte ihnen an, daß sie in wenigen Minuten gehen müßten. Bessy legte ihr rosiges Gesicht neben Davids sterbendes Haupt auf das Gefängniskissen und ihre Hand auf seine abgezehrte Wange. Die letzten Augenblicke entflohen schnell. Was sollten sie sich noch weiter sagen? Würden sie einander je Wiedersehen? Sollte dies das Ende der traurigen Vergangenheit sein? Mußten sie sich hier trennen und für immer das Band der Liebe und Erinnerung, das sie verbunden hatte, lösen?
Nur noch eine Minute. Euclid legte seine Hand auf Davids kalte Stirn.
»Lebe wohl, David, Gott segne dich!« schluchzte der alte Mann.
»Lebe Wohl,« hauchte David matt. »Ach, ich möchte bei JEsu im Paradiese sein! Leb' wohl, Klein-Bessy!«
Noch einmal drückte sie ihre Lippen auf die seinigen zu einem letzten, langen Kuß. Dann mußten sie ihn verlassen.
Die Nacht brach herein, und das Licht schwand langsam aus der einsamen Zelle. Der Wärter kam, um das Gas anzuzünden, aber David bat, daß man ihn noch ein wenig in der zunehmenden Dämmerung lassen möge. Immer dunklere Schatten lagerten sich um ihn her, sie hüllten die Gefängnismauern ein und entzogen sie seinem Blick. Der winterliche Abendhimmel schimmerte mit mattem Schein durch die umgebende Dunkelheit und erschien Davids erlöschendem Auge als der einzige Ausweg aus der dichten Finsternis der kahlen Zelle. Er war allein, die Liebe hatte ihn eher verlassen müssen, als es das Leben getan hatte. Keine Hand hielt seine kalten Finger so lange, als er ihren liebenden Druck noch fühlen konnte. Keine Stimme flüsterte dem Ohr, das für irdische Laute verstummte, Worte der Hoffnung zu, kein sanftes Berühren der kalten feuchten Stirn sprach von treuer Liebe bis zur Schwelle des Todes.
Von Zeit zu Zeit blickte der Wärter durch die Oeffnung der dicken Tür und sah bei dem schwachen Dämmerlicht des kleinen Fensters, daß der Gefangene stillag und kein Zeichen machte, daß er Hilfe gebrauche. Wer konnte ihm sterben helfen? Der Pfarrer hatte ihn besucht, seine Freunde waren da gewesen, weiter konnte nichts geschehen.
Langsam breitete der aller menschlichen Liebe beraubte Geist in all seiner Unwissenheit und Trauer die Schwingen aus, um den Flug in die Ewigkeit zu nehmen. Allein und im Gefängnis warf David Felton das letzte Glied der schweren Kette ab, die Kummer und Sünde und Verbrechen um den Knaben geschlungen hatten.
Endlich kam eine Wärterin, um nach ihm zu sehen. Das Herz schlug noch leise, aber die Vorboten des Todes lagerten sich schon auf seinem Antlitz. Sie beugte sich über ihn, denn seine Lippen bewegten sich, als ob er sich zu sprechen bemühte.
»HErr JEsu, gedenke an mich,« flüsterte er. So öffnete Gott die Pforte des Gefängnisses und gab unsern Gefangenen frei.
Ende.