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Achtes Kapitel.

Drei Monate nach seiner gefänglichen Einziehung wurde David freigelassen und zu seinem alten Leben zurückgesandt. Er hatte immer seine regelmäßigen Mahlzeiten bekommen, war Tag und Nacht vor der winterlichen Kälte geschützt und überhaupt sehr gesundheitsgemäß behandelt worden. Noch niemals hatte er drei Monate lang so viel körperliche Pflege genossen, er war infolge derselben sehr kräftig geworden und auch tüchtig gewachsen. Dazu hatte er guten Unterricht erhalten und konnte nun viel besser lesen und schreiben, als da er jenen kurzen Brief an seine Mutter abfaßte. Er hatte die Schusterei erlernt und konnte ein Paar Stiefel ganz befriedigend ausbessern. Der Direktor des Gefängnisses zählte ihm alle diese Vorteile auf, als er ihn mit einigen Abschiedsworten entließ.

»So, mein Junge,« fuhr er fort, »nun laß dich hier nicht wieder sehen und laß mich nicht wieder von dir hören. Du bist nun schon zum zweitenmal im Gefängnis« –

»Ich bitte um Entschuldigung,« unterbrach ihn David mit Bestimmtheit, »ich war noch niemals im Gefängnis. Es war ein anderer Junge; ich war es nicht. Ich habe nichts weiter getan als gebettelt.«

»Geh nicht mit einer Lüge auf den Lippen von hier fort,« sprach der Direktor strenge, »es ist schlimm, die Gesetze des Landes zu verletzen; aber es ist noch schlimmer, Gottes Gebote zu übertreten. Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lügen – sind seine Gebote. Du sollst nicht betteln, ist das Gesetz deines Vaterlandes. Daran denke, dann wirst du nie wieder in Strafe kommen.«

Als die Gefängnistür sich hinter ihm schloß, stand er als ein freier Mensch auf der Straße; aber in seine Freude mischte sich das Gefühl der Schüchternheit und Befangenheit. Die zugleich mit ihm freigelassenen Gefangenen verschwanden eiligst, um nicht in der Nähe der Gefängnismauer gesehen zu werden. Nur David zögerte noch, er war verwirrt und fast wie gebannt durch das starke, schreckliche Gebäude mit seinen massiven Türen und kleinen vergitterten Fenstern. Es war drei Monate lang seine Heimat gewesen; er war kein Fremdling mehr darin. Sollte er je einmal wieder herkommen, so konnte er gleich in alle Ordnungen und Regeln wiedereintreten und brauchte wenig oder gar nicht von den Wärtern angewiesen zu werden. Ja, es kam ihm in diesem Augenblick wohnlicher und weniger schrecklich vor als die enge, schmutzige und dumpfe Straße, in der seine früheren Nachbarn, seine Mutter und Bessy wohnten.

Er hatte mehrere Meilen zu gehen, und es wurde beinahe dunkel, als er in der Nähe seiner Wohnung ankam. Aber obwohl er jetzt stärker und zur Arbeit geschickter war, als vor drei Monaten, so bog er doch nicht wohlgemut in seine Straße ein. Er pfiff kein munteres Liedchen, rief die Nachbarn nicht laut beim Namen und war nicht wie sonst zu allen lustigen Streichen, aber auch zu jedem kleinen Dienst und jeder freundlichen Hilfe bereit. Er wartete vielmehr, bis es ganz dunkel geworden war, dann schlich er sich an den Häusern entlang und hielt sich soviel als möglich im Schatten. Blacketts Tür stand offen, und der durfte ihn nicht sehen. Er hatte immer stolz auf Blacketts Söhne, Roger ausgenommen, herabgesehen und wußte, daß ihn Vater und Söhne deswegen haßten. Wußten die Nachbarn, daß er im Gefängnis gewesen war? Wenn sie es nicht wußten, so würde sein kurzgeschorener Kopf, auf dem die Haare wie krauses Pelzwerk standen, es ihnen sogleich verraten.

Er stand in einem dunkeln Winkel dem Hause gegenüber und beobachtete das Aus- und Eingehen der Bewohner desselben. Der alte Euclid ging mit seinem leeren Korbe hinein; er war ganz leer, es war also ein guter Tag für ihn gewesen; gleich darauf wurde das Fenster des Dachstübchens hell. Was würde Victoria sagen, wenn sie ihn mit seinem geschorenen Kopf sah? Er fürchtete sich vor ihr und Euclid beinahe ebensosehr wie vor Blackett. Würden sie es ihm glauben, daß er nur wegen Bettelei im Gefängnis gewesen wäre? Das würden sie ihm am Ende nicht so übelnehmen! Dennoch fühlte er wieder die alte Scham bei dem Gedanken, aufs Betteln zu gehen. Seine Mutter würde ihm glauben und seine Aussage für wahr halten. Er sehnte sich nach ihrem Anblick; aber er wagte nicht, an Blacketts offener Tür vorbeizugehen. Die Tränen kamen ihm in die Augen bei dem Gedanken, wie bald er sie jetzt sehen würde. Aber ein plötzlicher Schreck fuhr ihm durch alle Glieder. Er war drei Monate fort gewesen, wenn nun seine Mutter tot war? O, wenn das der Fall wäre! Tot und begraben und niemals würde er sie wieder sehen!

Endlich trat Blackett heraus und wankte nach dem verlockenden Branntweinkeller an der Ecke. Jetzt war der Augenblick gekommen. David schlich vorsichtig zu der Haustür und schoß dann mit einem Satz über den erhellten Gang. Im nächsten Augenblick hielt er den Drücker in der Hand, er riß seiner Mutter Tür auf, stürzte atemlos hinein und schloß sie hinter sich zu, als ob er verfolgt würde. Einen Moment konnte er erst gar nichts erkennen, obwohl ein Licht in der Stube brannte, dann aber erblickte er seine Mutter auf ihrem kahlen, elenden Bett, ihr Antlitz war totenbleich, die eingesunkenen Augen hatten einen gierigen, heißhungrigen Ausdruck und waren jetzt erregt auf ihn gerichtet. Ein schreckliches Leiden sprach aus ihnen. Es kam David vor, als hätte er seiner Mutter Züge während seiner Haft beinahe vergessen und läse nun die ganze Geschichte ihrer Qualen und Schmerzen darin. Er starrte sie regungslos an; sie aber richtete sich auf und breitete ihre Arme aus.

»David, mein Sohn! David!« rief sie, »komm zu mir, komm schnell!«

Mit einem tiefen Seufzer, wie er sich nur selten aus der Brust eines Mannes losringt, stürzte sich David in die Arme seiner Mutter und diese ertrug den körperlichen Schmerz, den sie hierdurch empfand, ohne Schrei.

Es war ihr Sohn, ihr erstgeborenes Kind. Es war das Kindlein, das sie zuerst an ihre, jetzt von unaufhörlichem Schmerz durchwühlte Brust gedrückt hatte und das damals ihr ganzes Herz mit Liebe und Freude erfüllte. Sie erinnerte sich noch, wie sein Vater mit einer Art schüchternen Stolz auf sie beide niedergeblickt hatte. Fast vergaß sie jetzt ihren Schmerz in der Seligkeit, ihn wieder liebkosen zu können. Ihre magere, runzlige Hand, deren Finger die Spuren harter Arbeit trugen, streichelte seinen armen Kopf, auf dem, statt des Kindes goldener Locken, die kurzen Haare des Sträflings emporstarrten; immer und immer wieder drückte sie ihre Lippen auf sein Antlitz. Sie konnte ihn nicht von sich lassen.

»Ich habe nichts weiter getan, als für dich gebettelt, Mutter,« schluchzte er endlich.

»Ich weiß es, David, ich weiß es,« sagte sie, indem sie erschöpft zurücksank, aber seine Hand noch immer festhielt und ihn mit ihren Augen verschlang; »es war, Gott weiß, keine Sünde, und du wirst trotz alledem noch ein tüchtiger Mann, wie dein Vater, David. Du bist ihm so ähnlich wie nur möglich!«

Sie betrachtete ihn lächelnd. Die gute Pflege im Gefängnis hatte sein Aussehen männlicher gemacht, er versprach jetzt weit mehr, ein kräftiger, tüchtiger Mann zu werden, als früher bei seiner kärglichen Hungerkost zu Hause. Auch hatte sein Gesicht das knabenhafte Aussehen verloren und einen ernsten, fast düstern Ausdruck bekommen. »Ich hätte am Ende doch ins Armenhaus gehen sollen,« sagte sie, als ihr Blick Davids kurzes, dunkles Haar streifte; »es ist schlimm, daß die Leute nun sagen werden, du habest wegen Bettelei gesessen. Ich habe aber niemals jemand ins Armenhaus gehen sehen, mit dem ich hätte leben mögen, oder mit dem ich Bessy gern zusammengebracht hätte. Die meisten, die aus unserer Straße hinkommen, sind selbst für jenen verrufenen Ort eine Schande, und ich wollte lieber sterben, als Tag und Nacht mit ihnen zusammen sein. Ich habe es immer gesagt, und deinem Vater habe ich auf dem Totenbett geschworen, solange ich am Waschfaß stehen könnte, wollte ich nichts mit solchem Gesindel zu tun haben und euch nicht dazwischenkommen lassen. Aber nun hätte ich es am Ende doch tun müssen, anstatt dich betteln gehen zu lassen,« schloß sie mit einem tiefen Seufzer.

»Nein, nein Mutter; quäle dich nicht darum,« antwortete David. »Sieh, ich habe im – ich habe da ein Handwerk gelernt,« er vermied das Wort Gefängnis, »nun kann ich arbeiten und dich und Bessy erhalten. Ich habe manchmal gedacht, wenn ich es nur draußen hätte lernen können, ohne dahinein zu kommen! Dann hätte ich es mit mehr Lust gelernt und den schlimmen Namen nicht bekommen, den mir die Leute nun geben werden. Ich kann wunderschön Stiefel und Schuhe ausbessern, und lesen und schreiben kann ich beinahe wie ein Gelehrter. Aber ich kann es nie verwinden, daß ich dadrin gewesen bin!«

»O doch, doch, mein Junge,« erwiderte seine Mutter traurig.

»Nein, das kann ich nicht vergessen,« beharrte er mit einem Ausdruck von Schmerz und Scham. »Der Vater hatte immer einen guten Namen, den werde ich nie haben. Ach, Mutter, wenn sie nur versucht hätten herauszubekommen, ob ich die Wahrheit sprach, aber sie nahmen sich die Zeit und Mühe gar nicht. Ich wußte kaum, wo ich war, als der Richter schon sprach: ›Drei Monate.‹ Und dann schafften sie mich fort, als wäre es nicht der Mühe wert, sich meinetwegen aufzuhalten. Nun bin ich ein Sträfling.«

»Nein, nein,« schluchzte seine Mutter.

»Die Nachbarn werden mich so nennen,« fuhr er fort, »und Blackett wird über mich hohnlachen. Sie werden es nie glauben, daß ich nur gebettelt habe. Ich glaube, ich kann keinem von ihnen wieder ins Gesicht sehen und Bessy auch nicht. Wo ist Bessy, Mutter?«

Aber während er noch sprach, trat Bessy ein, lief mit einem Freudenschrei auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. Er konnte sich nicht aus dieser Umarmung losmachen und brach in Tränen aus, als Bessy ihn immer von neuem küßte.

»Das sind böse, grausame Menschen, die dich ins Gefängnis gebracht haben,« wiederholte sie immer wieder, »böse und grausam sind sie, böse und grausam.«

Es dauerte eine Weile, ehe sie irgend etwas anderes sich sagen konnten, endlich erinnerte sich Bessy, zu welchem Zweck sie vorhin aus gewesen wäre.

»Wir können den Ring heute abend nicht bekommen,« sagte sie nach einer Pause, »Herr Quirk ist bis morgen abend um diese Zeit nicht zu Hause, und Frau Quirk sagt, sie darf keinen von den Ringen ohne ihn fortgeben.«

»Welchen Ring?« fragte David.

»Der Mutter Ring,« antwortete Bessy.

»Wir mußten uns von dem Ring trennen,« erklärte die Mutter in einem Ton, als müßte sie sich vor ihm rechtfertigen, »ich habe so lange gehungert, bis ich es nicht mehr aushalten konnte, und alles andere war fort. Es war mein letzter Ausgang; ich trug den Ring selbst zu Herrn Quirk und schwur, ihn wieder einzulösen. Nun hat Klein-Bessy Geld verdient und wollte ihn heute abend holen. Statt dessen bist du gekommen, mein Junge; da kann ich den Ring wohl noch entbehren.«

Seiner Mutter Trauring war stets ein Heiligtum für ihn gewesen, das einzige Heiligtum, das er kannte. An ihn knüpften sich die frühesten Kindheitsgedanken an seinen verstorbenen Vater, den er nie gekannt, von dem ihm aber die Mutter so oft erzählt hatte. Der Gedanke an den Ring erinnerte ihn an die Abende, wenn er nach getaner Arbeit an seiner Mutter Hand blitzte, der einzige Gegenstand fast, der in dem Dämmerlicht des schwachen Feuers sichtbar wurde. Alle unbewußte Scheu und Ehrfurcht, die wir Menschen vor geheiligten Symbolen empfinden, konzentrierte sich für David in seiner Mutter Trauring. Er wußte, daß Bessy und seine Mutter nur durch die nagende Qual des Hungers dahin gebracht worden waren, sich von dem Ringe zu trennen, und die Bitterkeit und Schwermut, womit er das Gefängnis verlassen hatte, wurde noch zehnmal größer durch den Verlust des Ringes.

»Morgen müssen wir ihn haben,« sagte er mit harter, leidenschaftlicher Stimme.

Dennoch waren sie an jenem Abend glücklich; es war so schön, wieder zusammen zu sein. Bessy hatte viel von ihren täglichen Wanderungen durch die Straßen zu erzählen; David sprach von seinen Plänen für die Zukunft, während die Mutter ihnen zuhörte, erfüllt mit unaussprechlicher Dankbarkeit, daß sie ihren Knaben wiederhatte. In der Nacht warf David sich oft unruhig auf dem dürftigen Strohhaufen, den sie für ihn herbeigeschafft hatten, umher; es war ein hartes Lager für ihn, nachdem er die bequeme Matratze und warme, wollene Decken des Gefängnisses gewohnt worden war. Seine Mutter hörte es; aber das Herz war ihr leichter als seit vielen Monaten. Ihre Armut blieb dieselbe; ihre Schmerzen waren noch ebenso heftig; aber David war wieder da, und das Leben hatte wieder Wert für sie.


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