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Sechstes Kapitel.

Als Frau Felton und Bessy Euclid und Victoria »gute Nacht« gewünscht und dann nach ihrem Zimmer zurückgekehrt waren, fühlten sie sich erheitert und getröstet durch die nachbarliche Freundschaft, die sie erfahren. Bessy erklärte Victoria für das hübscheste und klügste Mädchen auf der Welt. Als sie ihre Tür öffneten, fanden sie einen Brief; er war durch die Ritze derselben in die Stube geschoben und nun kaum sichtbar im Dunkeln. Ueber dies außerordentliche Ereignis, das ihnen noch nie im Leben entgegengetreten, waren sie so erstaunt, daß Bessy sich nur mit zitternden Händen bückte, um den Brief aufzunehmen. Kaum trauten sie ihren Augen; aber es war wirklich ein richtiger Brief, mit Stempel und Postmarke darauf. Sie hatten nicht die geringste Beleuchtung im Hause, nicht einmal ein kleines Pennylicht, das sie hätten anstecken können, und so waren sie gezwungen, den sonderbaren Brief nach der Treppe zu tragen, um ihn dort beim Schein des Gaslichts so ruhig und rasch als möglich zu lesen, wobei allerdings zu befürchten war, daß Nachbarn vorbeigehen und sie neugierig beobachten würden.

Es mußte Nachricht von David sein, es war sonst niemand auf der Welt, der ihnen hätte schreiben können. Bessy konnte nichts Geschriebenes lesen, und für Frau Felton war es auch keine leichte Aufgabe. Aber sobald sie den Bogen Papier auseinanderfaltete, auf dessen oberstem Ende der Name des Gefängnisses, in dem David war, gedruckt stand, und sie ihn halblaut, noch gar nicht mit vollem Verständnis las, stieß sie einen gellenden Angstschrei aus, der durch das ganze Haus schallte, so daß alle Bewohner auf Vorhalle und Treppe hinausstürzten. Frau Felton lag in einer tiefen Ohnmacht, und Bessy kniete bei ihr, indem sie die Mutter immerfort rief und versuchte, sie aufzurichten. Blackett war der erste, der herbeikam, und der halbbetrunkene Mann gab ihr einen rohen Stoß mit dem Fuß, indem er einen wilden Fluch ausstieß.

»Laßt sie in Ruhe,« rief der alte Euclid, indem er die Treppe hinuntereilte und sich gerade vor Blackett mit einem Mut hinstellte, über den er sich selbst, wenn er später daran dachte, wundern mußte. »Laßt Frau Felton allein, sie hat den heutigen Abend mit mir und meiner Tochter verlebt, und ich will für sie sorgen. Ihr seid kein Mann, wenn ihr solch arme Frau schlagt. Ein Feigling seid Ihr, wenn ihr sie wieder berührt. Ist er es nicht?« rief er mit seiner heiseren Stimme aus und wandte sich an den Haufen umherstehender Nachbarn.

»Ja, das ist er!« rief die Menge mit einer so einmütigen Stimme, daß sogar Blackett dadurch eingeschüchtert ward und sich mit einigen schlechten Redensarten in seine Stube zurückzog. Zwei oder drei der Nachbarn halfen die arme Frau nach ihrem Zimmer tragen. Selbst diesen, die doch alle gewiß an die äußerste Dürftigkeit gewöhnt waren, schien dasselbe auch von dem Notwendigsten entblößt zu sein. Es war kein Sitz mehr in der Stube, wenn man nicht ein Paar Mauersteine, die sie auf der Straße gefunden, so nennen wollte, und zum Schlafen hatten sie nur den harten Sack der Bettstelle, alle Betten und Ueberzüge waren längst verschwunden. Euclid blickte umher und tiefes Mitleid bewegte sein Herz, gemischt mit dem Bewußtsein, wieviel besser seine Verhältnisse doch wären; er fühlte sich beinahe wie ein reicher Mann.

»Hier ist es traurig, weit trauriger als bei einem von uns,« sagte er; »und sie hätte meine Witwe sein können, wenn ich zuerst, anstatt meines Weibes gestorben wäre, oder auch die Witwe von einem unter euch. Ich stimme dafür, wir sammeln für sie im Hause, und ich will den Anfang mit einem Schilling machen; das ist mehr, als ich heute eingenommen. Viele unter euch können es weit besser als ich.«

»Sie erhält jeden Donnerstag vier Schillinge und acht Pennies Unterstützung vom Kirchspiel,« warf eine der herumstehenden Frauen schnell ein.

»Und muß die Woche eine halbe Krone als Miete bezahlen,« erwiderte Euclid; »es ist viel zu wenig dann.«

»Sie ist immer ganz ausgehungert,« schluchzte Bessy. »Es ist nie genug Essen für Mutter da.«

»Sie sollte in das Armenhaus gehen, dort würde sie Arznei und alles übrige bekommen,« rief eine andere Stimme; »der Beamte sagt es auch!«

»Wer sagt, sie sollte in das Armenhaus gehen?« fragte Euclid und sah mit einem Blick voller Entrüstung umher. »Sie, die wir als eine ordentliche und arbeitsame Frau und eines ehrenwerten Mannes Witwe kennen. Sie gehört nicht zu der Art, die in das Armenhaus geht. Wir wissen, was für Menschen dorthin gehen – schlechte Weiber, die kein anständiger Mann ansieht, und betrunkene, schwörende Weiber. Niemand spreche ein Wort vom Armenhaus, wenn ich dabei bin!«

Der alte Euclid war bei allen seinen Nachbarn als ein ruhiger, furchtsamer, alter Mann bekannt, der keinem Kinde ein böses Wort sagte, und seine heftigen Worte und seine aufgeregten Bewegungen waren ihnen etwas so Ungewöhnliches, daß einer nach dem anderen still aus dem Zimmer schlich und ihm und Bessy es allein überließen, die ohnmächtige Frau wieder in das Leben zurückzurufen. Sie hielt noch immer den Brief krampfhaft mit den Fingern fest, aber als Bessy dieselben öffnete, um die kalten Finger zu reiben, fiel er auf den Fußboden. Euclid nahm ihn auf und ging damit an das Licht, das irgend jemand mitgebracht und auf dem Herde hatte stehen lassen.

»Von wem ist er?« fragte Bessy ängstlich. »Ist er von David?«

»Ach, David Felton dein lieber Sohn,« las er; »aber er kommt aus dem Gefängnis! Er ist im Gefängnis!«

Euclid ließ sein alter graues Haupt hängen, und seine Stimme ward zum heisern Geflüster. Nun war es ihm kein Wunder mehr, daß Frau Felton in Ohnmacht gefallen war. Das Arbeitshaus war schrecklich; aber das Gefängnis doch noch weit entsetzlicher. Er stand ein paar Minuten lang still, in Gedanken versunken. David war immer sein Liebling gewesen, er mochte sein frisches Knabengesicht und sein lustiges Pfeifen, wenn er rasch hinauslief, so gerne. Und der Junge hatte ihm so oft den Korb getragen und mit seiner klaren Stimme »Kresse« gerufen, wenn ihm der Hals schon trocken und heiser von all dem Rufen auf der Straße geworden war, und nun war David Felton ein »Sträfling«.

In diesem Augenblick hörte er, wie Davids Mutter seinen Namen mit schwacher Stimme rief, und er eilte an ihre Seite und blickte auf ihr aschbleiches Gesicht mit einem Ausdruck von milder Güte.

»Bitte, lesen Sie laut,« sagte sie mühsam flüsternd, als wenn sie kaum noch Kraft hätte, diese Worte mit ihren zitternden Lippen auszusprechen. Euclid las den Brief mit halblauter Stimme vor, indem er jedes Wort klar und deutlich aussprach, und legte ihn schließlich dicht neben der armen Mutter Hand hin.

»Es ist nur, weil er gebettelt hat,« rief er dann aus. »Drei Monate dafür, daß er für seine Mutter gebettelt hat. Gott helfe uns allen! Dabei ist ein großes Unrecht geschehen! Diese Richter haben doch auch Herzen, so gut wie wir, sollte ich denken, und doch schicken sie David auf drei Monate ins Gefängnis, weil er für seine Mutter gebettelt hat. Wenn sie sich nur die Zeit nehmen wollten zu untersuchen, was die Leute getan haben. Aber das ist das Unglück, dazu haben sie keine Zeit, sonst würden sie nie einen Knaben wie David bestrafen, den Sohn einer anständigen, hart arbeitenden Frau, welche mit zwei kleinen Kindern Witwe geworden ist.«

»Es ist nur, weil er gebettelt hat,« sagte Frau Felton leise vor sich hin, und Tränen strömten ihr die Backen hinunter, »es ist nur, weil er gebettelt hat.«

»Grämt Euch nicht zu sehr,« tröstete Euclid, »er wird wohlbehalten zurückkommen, und ich werde statt Eurer nach dem Knaben sehen.«

Aber es war schwer für Frau Felton, sich über David zu trösten. Es war allerdings nicht so ungewöhnlich, daß Knaben aus ihrer Straße ins Gefängnis kamen; aber es war immer wegen Diebereien, und sie wußte, keiner würde glauben, daß David nur gebettelt hätte. Wie würde Blackett nun triumphieren! Seine beiden älteren Söhne waren als Diebe bekannt, und er suchte fortwährend, Roger in dieselbe Laufbahn zu drängen, in der Hoffnung, er würde ihn damit von der Tasche loswerden. Aber es war ihr niemals auch nur der Gedanke gekommen, daß ihr Sohn David je in das Gefängnis kommen würde. Sein Vater war ein ehrenwerter, fleißiger Handwerker gewesen, dessen Stolz es war, nie seines Nachbars Gut auch nur mit einem Finger angerührt zu haben, und nie war ihr auch nur der Gedanke gekommen, daß David selbst in den schwersten Versuchungen wanken und nicht in seine Fußstapfen treten würde. David war zwar kein Dieb; aber er war doch im Gefängnis! Sie flüsterte immer wieder vor sich hin: »Es ist nur wegen Bettelei!« Aber war die Bitterkeit vielleicht geringer in dem Gedanken, daß ihr einziger Sohn um solch kleiner Uebertretung willen eine so schwere Strafe erleiden mußte? Er würde gebrandmarkt zurückkehren, als wäre er ein Dieb gewesen, und die Schande des Gefängnisses würde ihm sein ganzes Leben anhangen. Und sie hatte immer ihren Kopf so hoch gehalten unter ihren Nachbarn! Wie sollte sie es ertragen, daß man auf sie zeigte, als auf die Mutter eines »Diebes«, eines »Sträflings«? Der Schmerz war mehr, als sie ertragen konnte! Ach, es fehlte der armen Frau ja der beste und sicherste Trost – Gottes Wort.

Euclid und Victoria waren sehr gut gegen die arme Frau in ihrem neuen Kummer und halfen ihr, soweit es ihre Mittel erlaubten. Der kleine für Victorias Begräbnis bestimmte Schatz litt freilich dabei. Manche von den Nachbarn dachten ihrer auch in dieser Zeit und brachten ihr mitunter ein bißchen von ihrer auch nicht überreichen Nahrung. Selbst Blackett bot seine Hilfe an, doch wandte sie sich von dem mit wehem Herzen. So war sie nun allerdings nicht so verhungert und freundlos wie früher, als ihre traurigen Verhältnisse noch nicht so bekannt waren; aber ihr Herz war gebrochen, und nichts konnte sie trösten. Victoria wiederholte ihr immer wieder ihre Lieder und Verse; aber in ihrem Kummer schienen es ihr nur Worte ohne Bedeutung zu sein. Es war ihr ganzes Streben gewesen, daß ihre Kinder ehrenwert und tadellos in das Leben treten sollten, wie es deren Vater einst gewesen. Dies zu erreichen, hatte sie Tag und Nacht gearbeitet und sich alles versagt. Sie hatte sich keine Ruhe gegönnt und hatte in kummervollen Schmerzen und in großer Betrübnis des Geistes gekämpft, und nun war es doch vergebens! Der schwere Kampf war gekämpft, und sie war unterlegen.

»David wäre ein guter Mann geworden,« seufzte sie in den langen, kummervollen Nächten, wenn sie an den Sohn im Gefängnis dachte; »er würde wie sein Vater geworden sein, wenn ich mich nur noch ein oder zwei Jahre hätte aufrecht halten können. Es kam zu früh mit mir. Jetzt trägt er nun einen Fleck und Makel an sich, den er nie abwaschen kann, und wenn er noch so lange lebt. Er ist im Gefängnis gewesen, werden die Leute sagen. Und was wird aus Bessy werden, wenn es mit David schlecht geht. Er würde sie beschützt haben, wenn er ein guter Mann geworden wäre. O Gott! er wäre ein guter Mann geworden, wenn dies nicht gekommen wäre! Und jetzt ist er im Gefängnis.«

Bessy war jetzt alles, was ihr geblieben, und sie konnte es nicht ertragen, wenn sie ihr nur einen Augenblick aus den Augen ging. Blackett, welcher mit allen fluchte und tobte, fing an, freundlich mit Bessy zu sprechen, und dies erfüllte das Herz der armen sterbenden Mutter mit unaussprechlichem Schrecken. Sie war oft stolz auf ihres Kindes schwarze Augen und schönes Haar gewesen und hatte dann an ihr eigenes Gesicht gedacht, als David Felton sich um sie bewarb. Wenn David nur erst wieder zu Hause wäre, immer bei Bessy und sie vor unzähligen Gefahren behütete! Wenn sie nun gar sterben sollte, ehe Davids Zeit vorüber war! Wenn sie ihres armen Knaben Gesicht nie wieder sehen sollte! Und Bessy allein, ganz allein zurücklassen!

Es wäre ihr immer ein schwerer, bitterer Kummer gewesen, ihre Kinder zu verlassen, auch wenn sie gegründete Hoffnung gehabt hätte, daß dieselben in der Welt gut fortkommen würden; aber wie unendlich viel bitterer und schwerer war es zu sterben, während David im Gefängnis war und Blackett freundlich mit Klein-Bessy sprach.

Wohl versuchte sie zu sagen: »Es ist Gottes Wille« und »er weiß es am besten«; aber ihr war, als wenn etwas sie daran hinderte. Sie konnte diese Worte nicht sagen, selbst nicht zu ihrem eigenen Herzen.


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