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Als sich Bessy nach einigen Minuten tödlichen Schmerzes mühsam hinaufschleppte fand sie Frau Linnett noch neben Euclid am Boden knien. Auf dem Kaminsims stand die Laterne des Polizeidieners und ließ des alten Mannes blutiges Gesicht und die Unordnung des Zimmers erkennen. Sie half Frau Linnett, den Bewußtlosen aufs Bett zu legen, dann eilte sie abermals fort, um einen Arzt zu rufen, freilich nicht so geschwind als sie vorhin gelaufen war, um Hilfe gegen die Räuber zu holen. Würde sie wohl jemals wieder so schnell laufen?
Als sie zurückkam, war eine Frau da, die man von der Polizeistation geschickt hatte, und ein Polizeidiener hielt Wache. Der Arzt, der gleichfalls bald kam, erklärte nach kurzer Untersuchung, daß er keine schwere Verwundung entdecken könne, daß es ihm aber unmöglich sei anzugeben, welche Folgen die ausgestandene Mißhandlung haben möge. Er ließ ihm das Blut aus Haar und Gesicht waschen, darauf lag Euclid still da, beinahe als ob er schliefe; sein Puls ging sehr schwach, und das Lebenslicht schien am Verlöschen.
Der Morgen graute, Polizisten kamen und gingen den ganzen Tag, untersuchten und wiederholten immer dieselben Fragen, wenigstens schien es Bessy so. Die Nachbarinnen kamen, um mit Frau Linnett über die ausgestandene Gefahr zu schwatzen und einen Blick auf den bewußtlosen Mann zu werfen, der beinahe ermordet worden war. Es war nur die Frage, ob er sterben würde oder nicht. David weigerte sich, seinen Mitschuldigen anzugeben, aber Blackett war auf Verdacht hin verhaftet worden. Weiter ließ sich nichts tun, ehe nicht Euclids Bewußtsein wiederkehrte und er Zeugnis ablegen konnte. Ein Polizeidiener blieb an Ort und Stelle, bis dieser Fall eintrat. Endlich kam die Nacht, und Bessy, die ihren alten Freund nicht verlassen wollte, überredete Frau Linnett zu Bett zu gehen. Der Arzt, der noch einmal kam, fand drei oder vier flüsternde und plaudernde Nachbarinnen im Zimmer, er schickte sie alle fort und bedeutete Bessy, daß sie allein wachen solle. Stunde auf Stunde saß sie neben ihm, sie schlief nicht, aber sie war wie betäubt von ihrem Schmerz. Konnte es denn nur wahr sein, daß David diese böse, grausame Tat vollbracht hatte? Und ach, wenn Euclid starb, was würde man mit ihm machen? Verzweiflung ergriff ihr junges Herz, als dieser Gedanke immer wiederkehrte, so sehr sie sich auch bemühte, ihn fernzuhalten.
»Bessy,« flüsterte eine leise schwache Stimme in der Totenstille der Nacht, »es war unser David!«
»Ja,« hauchte sie leise zurück in Euclids Ohr. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie, als sie ihn sagen hörte, es sei David gewesen.
»Er focht für mich gegen Blackett,« sagte Euclid; »er rettete mir das Leben. »Blackett hätte mich umgebracht.«
Mit einem tiefen Seufzer sank Bessy neben dem Bett auf die Knie. Gott sei Dank, David war kein Mörder! O, welche Last fiel plötzlich von ihrem jungen Herzen! Ihr Bruder war bloß ein Dieb!
»Er hat mir das Leben gerettet,« murmelte Euclid immer wieder, als ob er noch ein wenig verwirrt sei; »Bessy, er hat mir das Leben gerettet.«
Nur langsam kehrten die Kräfte des armen Alten wieder, und es dauerte zwei bis drei Tage, ehe er eine Erklärung vor einer Gerichtsperson ablegen konnte. Blackett und David blieben in Haft, um vor das Kriminalgericht gestellt zu werden. Victoria war zurückgekommen, um ihren Vater pflegen zu helfen, und für kurze Zeit nahm ihre Lebensweise ihren früheren Charakter an, nur ging Euclid nicht mehr jeden Morgen zum Markt.
Aber endlich erschien der gefürchtete Tag, an dem Euclid, Frau Linnett und sogar die arme Bessy vor den Schranken erscheinen sollten, um in betreff Davids und Blacketts Zeugnis abzulegen. Herr Dudley hatte einen Advokaten zu Davids Verteidigung bestellt, damit jeder Umstand, der zu seinen Gunsten sprach, ans Licht gezogen und sein Urteil infolge davon gemildert würde. Kein Schimmer von Hoffnung auf Freisprechung war vorhanden.
Als Bessy in der Zeugenloge stand, konnte sie nur zwei Gesichter deutlich erkennen. Sie sah David bleich, niedergeschlagen, ängstlich; seine trüben, traurigen Augen waren auf sie gerichtet; sie sah ferner den Richter, ihr gegenübersitzend, ruhig und ernst, mit prüfender Strenge im Blick. Als sie ihren Namen nannte, zitterten Davids Lippen ein wenig, als ob er ihn sich wiederholte.
Unbewußt, einfach die ihr gestellten Fragen beantwortend, erzählte Bessy die Geschichte von den beiden ersten Verhaftungen ihres Bruders und von dem Kummer, den sie verursacht hatten.
»Er war immer gut gegen Mutter und mich,« schluchzte sie, »und er ist jetzt noch gut gegen mich. Er wollte nicht wissen, wo ich wohnte, damit er mein Leben nicht störte. O David, David!«
Sie brach in Tränen aus und breitete ihre Arme ihm entgegen, als ob sie ihn trotz seiner Schande vor aller Augen umarmen wollte. David legte seinen Kopf auf die Schranken, vor welchen er stand, und bebte vor unterdrücktem Schluchzen.
Er blickte erst wieder auf, als Euclid vereidigt wurde. Der alte Mann erschien um viele Jahre gealtert, seit dem auf ihn gemachten mörderischen Angriff. Sein Haar war weiß geworden, seine Züge greisenhaft, aber er lächelte und nickte David freundlich zu. Er reinigte ihn vollständig von dem Verdacht eines mörderischen Angriffs auf seine Person; es war Blackett allein, der ihn mißhandelt hatte.
»David Felton hat seine Hand nicht gegen mich erhoben, Herr Richter,« erklärte Euclid mit Wärme und Bestimmtheit. »Er kämpfte für mich, und ohne ihn wäre ich gemordet. Er ist von Stufe zu Stufe gesunken, seit er ins Gefängnis gekommen ist, und seine Mutter war eine gute Frau, wie nur je eine gelebt hat.«
Bei der Erwähnung seiner Mutter wurde David bleich wie der Tod, und seine Lippen zitterten. Es war ihm, als rief sie ihn bei seinem Namen. Jahrelang hatte er versucht, die Erinnerung an sie zum Schweigen zu bringen, jetzt aber war es ihm, als sähe er sie deutlich bei dem roten Schein einiger verglühender Kohlen vor sich sitzen, wie sie ihm und Bessy von ihrem Vater erzählte und ihn bat, fleißig und ernstlich zu arbeiten, wie sein Vater. Gott sei Dank, seine Mutter ruhte im Grabe und wußte nichts von seiner Schuld und Schande!
Seine Gedanken verwirrten sich, und er konnte nichts mehr wahrnehmen. Verschiedene Leute standen auf und redeten, einige nur ein oder zwei Minuten, andere länger, aber er verstand sie nicht, es war ihm, als redeten sie in einer fremden Sprache.
Die beiden ersten Male war man sehr summarisch verfahren, diesmal erschien die Sache verwickelt und verworren. Warum hielt man sich bei dieser Untersuchung so lange auf? Jedermann wußte, daß er in einem Hause eingebrochen war, um zu stehlen und zu rauben. Die beiden ersten Verhöre, als er ein junger Bursche war, hatten jedes nur fünf Minuten gedauert. Warum gab man sich nun, da es zu spät war, soviel Mühe?
Endlich wurde seine Aufmerksamkeit wieder durch Nennung des Namens seiner Mutter gefesselt. Er wandte seine Augen dem Sprecher zu und hielt sie fest auf ihn gerichtet, bis er zu reden aufhörte. Es war der Advokat, den Herr Dudley für ihn angenommen hatte.
»Elisabeth Felton verwitwete mit vierundzwanzig Jahren, die Sorge für einen Knaben und ein Mädchen lag ihr ob. Was für Hilfe boten wir ihr? Wir sagten ihr, sie könne ins Armenhaus gehen unter die Ausgestoßnen und Verworfenen ihres Geschlechts. Von ihren Kindern, die sie so liebhatte, wie wir die unsern, hätte sie sich in diesem Falle trennen müssen, man hätte dieselben anderswo aufgezogen. Schlug sie dies Anerbieten aus, so mußte sie allein den Kampf ums Dasein aufnehmen. Sie wählte Hunger und Elend, sogar Krankheit und Tod, ehe sie diese Art von Hilfe annahm.
»Als sie, von Hunger geplagt, auf dem Sterbebette lag, war die ihr gereichte Unterstützung durchaus unzureichend, da entschloß sich ihr Sohn, ein noch nicht vierzehnjähriger Knabe, für seine Mutter zu betteln. Er schämte sich zu betteln, gern hätte er gearbeitet und wäre in die Fußstapfen seines geschickten und fleißigen Vaters getreten. Was taten wir nun für das Kind der armen Elisabeth Felton? Wir arretierten es, stellten es vor ein eiliges und mit Arbeit überladenes Gericht, unterließen es, seine Aussagen zu prüfen, und nach einer kurzen Untersuchung von fünf Minuten, schickten wir ihn auf drei Monate ins Gefängnis. Dies geschah in England!
»Als seine erste Haft zu Ende war, eilte er heim, er fand seine Mutter noch am Leben, aber ihrem Ende nahe. In der äußersten Not hatte sie sich von ihrem größten Heiligtum, ihrem Trauringe getrennt, sie und ihre kleine Tochter hatten buchstäblich gehungert, um ihn wiederzuerlangen. Gerade am Tage nach David Feltons Freilassung sollte er eingelöst werden, aber der Ring, den der Pfand-Verleiher zurückgab, war nicht die teure, kostbare Reliquie, welche sie alle so gut kannten. Entweder war er von dem gewissenlosen Pfandverleiher unterschlagen, oder er war mit einem andern dünneren Ringe verwechselt worden. Der Knabe, von Zorn und Entrüstung erfüllt, stürzt fort, um seiner Mutter richtigen Trauring zu erlangen. Der Mann greift den guten Ruf seiner sterbenden Mutter an, fast wahnsinnig vor Entrüstung und ohne an die Folgen zu denken, stürzt sich David Felton auf ihn und schlägt ihn zu Boden. Der Pfandverleiher war Hausbesitzer und Steuerzahler. Wieder wurde keine Untersuchung angestellt, den zornigen und verwirrten Aussagen des Knaben kein Glauben geschenkt. Wir schickten ihn wieder auf drei Monate ins Gefängnis.
»Dies waren die beiden ersten Schritte – zwei breite Stufen – auf dem Wege zum Untergang, dem Wege, der ihn heute vor diese Schranken geführt hat.
»Wer ist vor allen zu tadeln? Der Jüngling, bereit zu arbeiten, aber ungeübt und ungeschickt, mit keiner anderen Erziehung als der der Straße, den niemand in Dienst nehmen wollte, weil ihm überall Gewandtheit und Anstelligkeit fehlte? Oder die Obrigkeit, die durch den Druck wichtiger Angelegenheiten überlastet ist? Oder die Polizei, mit ihrer Legion jugendlicher Verbrecher, deren Aussagen meistens Lügen sind? Die Obrigkeit kann sich die Zeit nicht nehmen, die Polizei die Mühe nicht geben, Fälle, wie den des David Felton, zu untersuchen.
»Der Knabe war, wie andere Knaben, unsere Söhne, wohlgemut und sorglos. Bitten nicht auch unsere Söhne und bitten sie nicht ungestüm um das, was sie brauchen? Haben sie nicht mitunter auch Schlägerei, ohne nur im entferntesten so gereizt zu werden, wie dieser Knabe? Ich will weitergehen. Ist keiner von ihnen jemals eines kleinen Diebstahls schuldig gewesen? Würden Sie diese Ihre gedankenlosen, leidenschaftlichen Knaben, die Ihnen in der bürgerlichen Stellung, die Sie ihnen bereiten, nachfolgen sollen, würden Sie dieselben für Vergehen, wie sie David Felton beging, der für seine sterbende Mutter bat und ihren guten Ruf verteidigte, in den schwarzen Schatten eines Gefängnisses schicken und dem Brandmal der Einkerkerung preisgeben? Würden Sie Ihren Knaben Hände und Füße binden und sie in einen Abgrund hinabstoßen, und wenn sie sich herausgearbeitet hätten, sie wieder hinunterstoßen, weil ihnen der Kot und Lehm der Grube noch anklebt? Und doch ist dies die Art, wie wir mit jugendlichen Verbrechern umgehen.
»Der Gefangene ist des nächtlichen Einbruchs schuldig. Er ist noch nicht neunzehn Jahre alt und war schon viermal im Gefängnis. Ich frage wieder, wessen Schuld ist es?
»Er muß bestraft werden! Allerdings. Aber lassen Sie die Strafe – diesmal nur zu wohl verdient – durch Barmherzigkeit gemildert werden. Wir haben es mit Strenge versucht. Wir haben sein Urteil über Recht und Unrecht verwirrt, wir sind's, die das schwache Fünklein, das seine arme Mutter in seinem Gewissen angezündet hatte, ausgelöscht haben. Ich bitte Sie, der traurigen Laufbahn des Gefangenen zu gedenken, der Liebe zu seiner Mutter und Schwester, der Verteidigung des alten Mannes bei dem auf ihn gemachten mörderischen Angriff. Ich bitte Sie, auch daran zu denken, daß er in diesem unserm christlichen Lande, während er noch ein Kind war, zweimal ins Gefängnis geschickt wurde, als passende Strafe für kindliche Vergehen!«
Weiter hörte David nichts, auch hatte er die Worte, denen er zugehört, nicht alle verstanden. Seine Kehle war ausgetrocknet und sein Auge trübe. Der Gerichtshof schien mit Nebel angefüllt, der alle Gesichter umher undeutlich machte. Er stand noch lange Zeit an den Schranken, endlich bedeutete ihn der zunächst stehende Polizist, er möge achtgeben.
»Hast du irgend etwas für dich vorzubringen?« fragte der Richter.
»Nichts; nur, daß ich mich lieber ertränkt hätte, als Klein-Bessy oder dem alten Euclid etwas zuleide zu tun,« stammelte er. Einige Minuten später wurde er eine Treppe hinuntergeführt in ein unter dem Gerichtssaal befindliches Zimmer, wo ihm Handschellen angelegt wurden.
»Was wollen sie mit Blackett und mir machen?« fragte er.
»Hast du das Urteil nicht gehört?« erwiderte der Polizeidiener.
»Nein,« antwortete er, »ich kann nichts deutlich sehen und hören.«
»Zehn Jahre für Blackett und zwei für dich,« war die Antwort. »Du bist noch ziemlich leicht weggekommen.«