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Erstes Kapitel.

Das kleine Hinterzimmer, welches einer Familie zur Wohnung diente, war nicht viel größer als eine Gefängniszelle, stand aber jedenfalls in bezug auf Licht, Reinlichkeit und Luft weit unter ihr. Das Glas des einzigen kleinen Fensters war zerbrochen und durch Papier und alte, völlig unbrauchbare Lumpen ersetzt worden. Außerdem lagen die gegenüberliegenden Häuser der engen Gasse in diesem dichtbevölkerten Stadtteil Londons so nahe, daß sie jeden Sonnenstrahl aus der unteren Wohnung eines vierstöckigen Hauses notwendig ausschließen mußten. Die ganze Straße war ursprünglich für eine Klasse Menschen aus besseren Ständen gebaut, aber aus unbekannten Gründen nun den Aermsten überlassen worden, und jedes Zimmer wurde anscheinend als genügend und ausreichend für eine ganze Familie befunden.

Dies kleine, dunkle Hinterzimmer war eigentlich eine Küche. Ganz nahe am Fenster stand das Kehrichtfaß, das allen Schmutz des ganzen Hauses aufnahm, der nicht auf die Straße geworfen wurde. Glücklicherweise waren nicht viele Reste von Nahrungsmitteln darunter, denn jede Kruste, jeder Brocken pflegte gierig genug verschlungen zu werden. Das war gut, denn es kümmerte sich fast niemand um das Kehrichtfaß, da die vielen Bewohner dieses Hauses wenig oder nichts wußten von Gesundheitsrücksichten und -gesetzen. Selbst die arme, hart arbeitende Frau, welche seit Jahren sich abmühte, um die Miete für dies ungesunde Loch, das ihr und ihrer Kinder Heim war, zu bezahlen, verschwendete kaum einen Gedanken an die verpestete Luft, die sie alle miteinander einatmeten, mochte das Fenster offen oder geschlossen sein. Sie seufzte wohl hin und wieder nach besserem Licht und frischer, kühler Luft; aber das natürliche Los für alle um sie her schien Dunkelheit und drückende Schwüle, Murren aber und Klagen lag ihrem Wesen im ganzen fern. Sie war müde geworden in dem langen, einförmigen Kampf des Lebens, und wenn sie zu sich selbst sagte, daß alles so nach Gottes Willen sei, pflegte ein leises unbestimmtes Gefühl von Frieden sie zu erfüllen. In die dunkelste Tiefe des menschlichen Elends, da man glaubt, daß es keinen Gott gibt, war sie noch nicht hinabgesunken.

Ihr Mann war seit zehn Jahren tot, und wegen der zwei kleinen Kinder, die er ihr hinterlassen, war es ihr nicht möglich gewesen, sich aus der Armut herauszureißen. Es war ihr niemals gelungen, mehr zu verdienen wie nötig war, um sie alle drei vor Hunger und Kälte zu schützen, und sie hatte gelernt, zu entbehren, wenig zu essen, hart zu arbeiten und die schlechtesten Kleider zu tragen. Die Kinder brachten fast den ganzen Tag auf der Straße zu, denn die Mutter wusch für einige unverheiratete Arbeiter und benutzte jeden freien Raum des kleinen Gemaches. Bei schlechtem Wetter spielten sie auf der gemeinsamen Treppe, wo ihnen das Böse in jeder Form und Gestalt entgegentrat und sie umgab, wie andere Kinder ein stilles, friedevolles Heim. In der Mutter Herzen lebte noch eine unklare Erinnerung ferner schöner Zeiten vor ihrer Heirat. Zuweilen war es ihr, als ob ein Lichtstrahl aus der dunklen Vergangenheit ihr Innerstes erhellte. Sie sah dann ihr Vaterhaus weit unten im Dorfe und die Schule, in die sie mit andern Kindern zu gehen pflegte; das Pfarrhaus, in dem sie ihren ersten Dienst antrat und die Pfarrfrau, welche sich bemühte, sie noch weiter im Katechismus und in der Bibel zu unterrichten. Wohl waren die meisten Gebete und beinahe alle Sprüche aus ihrem Gedächtnis entschwunden; aber an stillen Sonntagabenden hatte sie ihren Kindern oft von dem Pfarrgarten erzählt, in dem die Blumen so schön geblüht, und von dem Rasen im Dorfe, auf dem die Knaben und Mädchen ungestört gespielt hatten, und wie sie später dann ihre Heimat verlassen, um in London höhern Lohn zu erhalten, und dieselbe dann nie wiedergesehen. Auch von all den herrlichen, schönen Dingen, die sie in den großen Häusern, wo sie gedient, gesehen, pflegte sie ihnen dann wohl zu erzählen, und wie sie nachher aus Liebe zu ihrem Vater allen Luxus und alle Größe aufgegeben und ihm mit Freuden in ein bescheidenes Heim gefolgt wäre. Dann fing aber ihre Stimme gewöhnlich an zu zittern, wenn sie darauf von seinem Tode sprach und all der Trübsal, die nach diesem rasch aufeinander gefolgt, so daß sie nun noch dankbar sein müßte, eine Wohnung wie diese zu haben.

Wohl war die arme Mutter unwissend; aber ihre Unwissenheit war noch hell und licht im Vergleich zu der ihrer Kinder. Diese wußten und dachten nichts, als was sie um sich herum sahen und hörten. David konnte nur wenig lesen, Bessy aber gar nicht. Es schwärmten so viele Kinder in dem dichten Straßennetz umher, daß es ein leichtes war, der Beachtung des Schulinspektors bei seinen gelegentlichen Besuchen zu entgehen, um so mehr als Bessy schon dreizehn und David beinahe vierzehn Jahre alt war. Der Knabe hatte sich zuerst ein paar Pennies mit dem Verkauf von Streichhölzern verdient; aber jetzt hatte er angefangen, sich durch Gänge, Laufen u.s.w. einen allerdings ungewissen Lebensunterhalt zu erwerben.

Der Sonntagnachmittag und -abend, wenn ihre Arbeit für ein paar Stunden ruhte, war für die Mutter der einzige Festtag, und wenn sie auch kein Sonntagskleid mehr besaß, das sie hätte anziehen können, unterließ sie es doch nie, ihren Trauring aufzustecken, den sie an Wochentagen sorgfältig beiseitelegte, damit er nicht zu sehr von der schweren Arbeit abgenutzt würde. Bessy und David fühlten, daß ihre Mutter nicht war, wie die andern Frauen auf der Straße. Sie trank nicht, auch fluchte und zankte sie nicht, und jeder aus ihrer kleinen Bekanntschaft wußte, daß sie ehrlich war. Die Kinder waren, sich selbst unbewußt, stolz auf den guten Namen ihrer Mutter, und David fing an eine Art beschützende Zärtlichkeit für sie zu hegen, welche er allerdings nicht in Worten ausdrücken konnte.

Längere Zeit hindurch hatte keines von ihnen eine Ahnung, daß sie an einem gefährlichen und schmerzvollen Krebsleiden litt, welches seine tiefen Wurzeln in ihr innerstes Leben geschlagen hatte. Als David es endlich erfuhr, brannte sein Herz in ihm, wenn er seine Mutter dessen ungeachtet immer so tapfer am Waschfaß stehen sah, die fürchterlichsten Leiden mit der größten Geduld ertragend. Zuletzt war die arme Frau gezwungen, die Hilfe des Distrikts, in dem sie wohnte, in Anspruch zu nehmen, und der Armenpfleger, der sie besuchte, wies ihr eine Unterstützung an. Es unterlag keinem Zweifel mehr, welches Ende ihr Leben nehmen mußte, und es war auch wohl ziemlich sicher vorauszusehen, wie bald dies Ende kommen würde. Vier bis fünf Schillinge die Woche waren noch immer eine geringere Ausgabe für den Distrikt, als wenn man die Frau und ihre Tochter im Armenhaus untergebracht hätte, selbst wenn der Knabe für seinen eigenen Lebensunterhalt hätte Sorge tragen müssen, und dies um so mehr, da man dort verpflichtet gewesen wäre, ihr alle vom Arzt verordneten Bedürfnisse und Bequemlichkeiten angedeihen zu lassen. Man wies ihr daher die sorgfältig ausgerechnete Summe von vier Schillingen und acht Pennies die Woche an.

Frau Felton war mehr als zufrieden. Die Trennung von ihren Kindern war für sie schlimmer als der Tod, und nun konnte sie doch Bessy und David bei sich behalten, solange der Tod ihr nur fern blieb. Mit den vier Schillingen und acht Pennies konnte sie ihre Miete bezahlen, und es blieben ihr dann noch beinahe vier Pennies den Tag für andere Ausgaben. Wenn sie sich nur durch den Winter schleppte und eine Heimat für Bessy und David behielt, dann wollte sie nicht murren, und wenn die Schmerzen auch noch so schrecklich würden. Aus Liebe zu ihren Kindern hätte sie noch viel größere Qualen erlitten.

Aber nun kam noch ein Feind, an den sie bis jetzt noch nicht gedacht hatte. Das Schwinden aller Kräfte verursachte einen nagenden Hunger, der womöglich noch schlimmer zu ertragen war als die Krankheit selbst. Jetzt war es nicht mehr möglich, sich selbst zu täuschen, wie sie es sonst wohl oft getan, und ihren Hunger hinzuhalten, bis er zuletzt in dumpfe Schwachheit übergegangen war. Die nagende Pein der armen Dulderin zeigte sich nur zu deutlich in dem verzweiflungsvollen Knirschen der Zähne und in dem unverkennbaren Verlangen ihrer eingesunkenen Augen. Ihre Pennies reichten lange nicht hin, um einen solchen Feind in Ruhe zu halten, und es war vorauszusehen, daß sie demselben unterliegen würde, und zwar vielleicht noch vor Ende des Winters.

»Es ist gerade, als wenn ein Wolf in mir nagt,« sagte sie eines Abends zu David, als er ihr ein Brot und ein Stück gekochten Fisch mitbrachte, das er in einem benachbarten Laden gekauft hatte. »Zwar habe ich nur einmal einen Wolf gesehen, als dein Vater noch lebte und du ein kleines Kind warst; da wollten wir uns einmal ein besonderes Vergnügen bereiten und gingen in den Zoologischen Garten. Mir ist, als wenn all der Hunger, den ich meine Lebtage gefühlt, sich bis dahin irgendwo verborgen und aufgehäuft hat und jetzt mit einem Male auf mich losgelassen ist. Liebe Kinder, nehmt erst euer Teil, ich fürchte, sonst möchte ich alles aufessen und euch nichts übriglassen.«

»Es ist alles für dich und Bessy, Mutter,« sagte David rasch, »ich habe mein Abendbrot schon im Laden gegessen.«

Der arme Junge sagte aber nicht, daß sein ganzes Abendbrot aus einer Kruste verschimmelten Brots bestanden hatte, welches er auf der Straße gefunden, und daß er noch so hungrig war, wie es eben ein wachsender Knabe gewöhnlich ist; er war schon wie seine Mutter daran gewöhnt, die dringenden Forderungen seines Appetits unbeachtet zu lassen. Er setzte sich auf das Ende von seiner Mutter Plättbrett und beobachtete sie bei dem schwachen Lampenlicht, wie sie so gierig die mitgebrachte Nahrung verzehrte. Da war es ihm mit einem Male, als wenn er sie klarer denn je zuvor sähe, und ihr Gesicht prägte sich seinem Gedächtnis unauslöschlich ein. Zum erstenmal betrachtete er recht ihre eingefallenen Backen, ihr dünnes, schon stark ergrauendes Haar, ihre gierigen, glänzenden Augen und das Leiden, das sich auf ihrem ganzen Gesichte ausprägte. Tränen verdunkelten einen Augenblick die Augen des Knaben, und ein leiser Schauder überlief ihn, als er sie aufmerksam betrachtete.

»Mutter,« sagte er dann plötzlich, »ich habe heute trotz aller Mühe nur zwei Aufträge erhalten und nur vier Pennies verdient. Mutter, ich muß anfangen zu betteln.«

»Nein, nein!« erwiderte diese, indem sie von ihrem eifrigen Essen aufsah.

»Ich muß es,« fuhr der Knabe fort, »auf diese Weise kann man eine Menge Geld verdienen. Alle sagen so, und ich brauche nicht hungriger auszusehen als ich bin; ich will auch nur die Wahrheit sagen, daß du am Krebs todkrank bist und vor Hunger stirbst. Gewiß, ich glaube, es wird Leute geben, die uns helfen werden. Ich hasse den Gedanken zu betteln ebensosehr wie du; aber es geht doch noch besser für mich als für Bessy. Klein Bessy würde sich zu sehr ängstigen,« fügte er hinzu, indem er seine kleine zerlumpte Schwester liebevoll ansah, er hatte um ihretwillen schon so manchen Kampf und so manche Schlägerei auf der Straße ertragen.

»Ich dachte immer, es würde doch nie zum Betteln mit uns kommen,« sagte die Mutter traurig und mit zitternder Stimme.

»Ich habe es auch nicht geglaubt,« fuhr David fort, »aber es gibt fast keine Arbeit für einen Knaben, wie ich bin. Ich wäre so gern Zimmermann wie der Vater geworden; aber daran ist wohl kein Gedanke. Weine nicht, Mutter, du hast für uns getan, was du nur konntest, jetzt ist an mir die Reihe, für euch etwas zu tun. Und betteln ist das Beste, was ich für jetzt tun kann.«

David fühlte es schwer, wie traurig weit es mit ihm gekommen war. Ohne Unterricht und unwissend wie er war, hatte er doch seine eigenen Träume von der Zukunft gehabt und immer gehofft, er würde einst ein Zimmermann werden und Lohn verdienen wie sein Vater. Er war zuweilen in eine Abendschule gegangen und hatte dort ein bißchen Lesen und Schreiben gelernt; aber es gab leider keine Schule, wo ein zerlumpter Knabe wie er irgendein Handwerk erlernte, um damit einst sein Brot zu verdienen. Wenn es eine solche Schule gegeben hätte, wie gern wäre er hingegangen, und mit welcher Freude hätte er angefangen zu arbeiten! Es war vielleicht niemand zu tadeln; aber es war doch ein schweres Los, ein Bettler zu werden.

»Ich will es tun,« sagte er nach langem Stillschweigen, »nicht hier in der Nähe; aber draußen auf dem Lande, wo die Leute nicht so viele Eile haben. Ich will mich vor der Polizei in acht nehmen, und ich werde vor dem Sonntag wieder zurück sein; du hast Bessy, und so wird es dir nicht einsam werden. Es gibt gewiß gute reiche Leute, die gern etwas tun würden, wenn sie es nur wüßten; und nun will ich hingehen und sie suchen. Nimm es dir nicht so sehr zu Herzen und quäle dich nicht um meinetwillen. Ich will ja nicht stehlen, Mutter!«

»Ich will während der Nacht darüber nachdenken, David,« antwortete die arme Frau traurig.

In den schmerzvollen, schlaflosen Stunden der Nacht sah die arme Frau in Gedanken ihren Knaben in seiner zerlumpten Kleidung und mit beinahe nackten Füßen die Straßen durcheilen und die Vorübergehenden anhalten und um Almosen bitten. Es war das Ziel ihres arbeitsamen Lebens gewesen, sich und ihre Kinder vor dem Betteln zu bewahren. O, wenn diese grausame Krankheit sie nur noch ein bis zwei Jahre verschont hätte, bis David männlicher und Bessy ein erwachsenes Mädchen gewesen wäre. Dann hätte sie sich dankbar hinlegen können, um zu sterben, während sie jetzt eine entsetzliche Angst bei dem Gedanken erfaßte. Aber wie es ihr schien, blieb nichts anderes für David übrig, und es gab gewiß auch gute reiche Leute, wie David meinte. Wenn er sie nur finden würde! So mußte sie ihn denn gehen lassen, um sie zu suchen.

»Du magst gehen,« sagte sie am Morgen, nachdem sie die geringen Reste, die ihr Hunger am Abend vorher hatte übriglassen können, aufgegessen hatte, »und Gott segne dich, David! Aber denke nie an etwas anderes als zu betteln. Das ist schon schlimm genug! Aber denkt stets beide an das, was ich euch immer gesagt. Haltet eure Hände rein vom Raub und Diebstahl! Das sind gute Worte mit auf den Weg zu nehmen. Und David, komm bald zurück, denn ich hungere mehr auch deinem Anblick als ich es nach Nahrung könnte. Erzähle immer, was du zu sagen hast, ruhig und wahr, daß deine Mutter todkrank am Krebs und sterbend vor Hunger ist, und wenn die Leute ›nein‹ antworten, oder mit dem Kopfe schütteln, gehe sofort weiter und versuche es bei andern. Halte auch nicht die Leute an, die in Eile sind. Küsse mich, ehe du gehst, David.«

David war bei diesen Worten der Mutter ernst und feierlich ums Herz geworden; tiefbewegt und ohne ein Wort hervorbringen zu können, beugte er sich herab, um sie zärtlich zu küssen. Dann umarmte er seine Schwester, küßte sie auch, und nachdem er dann rasch seine fadenscheinige Mütze ergriffen hatte, ging er zur Tür hinaus und versuchte eine lustige Straßenweise zu pfeifen. Im Torweg stand er noch einmal still und blickte nach Mutter und Schwester zurück.

»Adieu, Mutter!« rief er, »ängstige dich nicht um meintwillen!«


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