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Nach zwei oder drei Tagen, als Bessy und Euclid abends bereits von ihrem Kresseverkaufen heimgekehrt waren, wurden die Bewohner des kleinen Dachstübchens durch ein lautes, fremdes Klopfen an der Tür erschreckt. Blackett hatte sie allerdings bis dahin noch nicht belästigt; aber sie lebten in steter Furcht vor ihm, und einige ihrer Nachbarn hatten sie schon vor ihm gewarnt. Victoria und Bessy stießen einen leisen Schrei aus, und Euclid wankte nach der Tür, um die Krampe besser zu befestigen. Aber eine Hand hatte erstere von außen bereits weit aufgestoßen, und Euclid sah in dem Dämmerlicht, daß es ein fremder Herr und keiner in Polizeitracht war.
»Darf ich hereinkommen?« fragte eine freundliche Stimme.
»Seid Ihr Freund oder Feind?« fragte Euclid.
»Sicherlich ein Freund!« antwortete der Fremde. »Mein Name ist Dudley, John Dudley, und ich bringe Euch gute Nachricht von Roger Blackett, ich habe Euch und Eure Tochter neulich auf dem Polizeiamte gesehen.«
»Kommen Sie, kommen Sie!« rief Euclid aus. »Sie sind herzlich willkommen.«
Der letzte Schimmer des Tages erleuchtete noch schwach die kleine Giebelstube, und sie konnten alle das freundliche und doch so ernste Gesicht des fremden Herrn sehen, dessen einfaches und freies Benehmen ihnen sofort Vertrauen einflößte. Victoria setzte ihm den einzigen Stuhl hin, und er nahm ihn wie ein vertrauter Gast, während Euclid sich auf die Seifenkiste und die beiden Mädchen auf den Rand der Bettstelle setzten. Herr Dudley blickte sie fragend an.
»Ihr wart in Angst, als ich an die Tür klopfte?« sagte er.
»Ja, ja,« erwiderte Euclid, »wir sind in großer Furcht vor Blackett. Er ist wie ein wütender Löwe, und wir können nicht ein und aus gehen, ohne bei seiner Tür vorbei zu müssen.«
»Ich fürchte, er wird noch viel schlimmer werden,« sagte Herr Dudley; »denn er muß von nun an eine halbe Krone die Woche für Rogers Unterhalt bezahlen.«
»Dann werden wir fortziehen müssen,« sagte der Alte kummervoll, »und Victoria und ich haben hier beinahe zehn Jahre gelebt. Es ist sehr schwer für friedliche Leute, wie wir es sind, und Victoria kann ihre hübschen Bilder nicht mitnehmen. Sehen Sie, es hat zehn Jahre gewährt, daß wir sie zusammenbekommen haben, und wenn wir nun gezwungen werden umzuziehen, so müssen wir sie alle zurücklassen.«
Ueber dem Kamin war eine Sammlung ärmlicher, grober Holzschnitte, aus billigen illustrierten Zeitungen an die weiße Wand geklebt; der Reihe nach, wie sie in Victorias Besitz gekommen waren. Euclid zeigte auf dieselben mit Stolz, vermischt mit Kummer in dem Gedanken, daß er diese Schätze zurücklassen müsse, wenn sie die Giebelstube verlassen würden. Er setzte sich mit einem schweren Seufzer wieder hin, nachdem er Herrn Dudley auf Victorias Bilder aufmerksam gemacht hatte.
»Mögt Ihr ebensogerne lesen, wie Bilder sehen?« fragte Herr Dudley.
»Ach, keiner von uns kann lesen!« erwiderte Euclid; »Victoria war immer zu schwach, um mit einer Menge wilder Burschen und Mädchen zur Schule zu gehen, sie ist immer gar weich und zart gewesen. Und die kleine Bessy ist auch in keiner Schule, sie verdient sich ihr Brot, ebenso wie ich, mit Kresseverkaufen. Bessy ist das Kind einer alten Nachbarin, und Blackett haßt mich, seit ich sie zu mir genommen. Er sagte damals, er wolle die Stelle zu heiß für mich machen und nun –«
Er schüttelte seinen alten grauen Kopf traurig und sah die Bildersammlung mit bedauernden, liebevollen Blicken an.
»Ich glaubte fast, als ich Sie neulich vorm Gericht für den armen Roger bitten hörte, Sie wären ein religiöser Mann!« sagte Herr Dudley.
»Ach, lieber Herr, nein!« antwortete Euclid in erstauntem Ton. »Ich weiß nicht viel von Religion, das ist zu hoch für mich, denn ich bin nicht gelehrt. Ich würde es gewiß mögen, wenn ich davon wüßte, und meine Frau, ach, sie war eine gute Frau.«
»Wisset Ihr nichts von unserem HErr JEsu Christo?« fragte Herr Dudley.
»Ich habe den Namen schon gehört,« sagte der alte Mann nachdenklich. »O ja, natürlich habe ich den Namen gehört, aber ich habe nie Zeit gehabt, um nach solchen Dingen zu fragen, sie verwirren nur meinen Kopf, wenn ich davon sprechen höre. JEsus Christus, ach, ich kenne den Namen ganz gut. Ich glaube, meine Frau wußte alles von ihm. Sie starb, als Victoria geboren ward! Sie wußte eine Menge Sprüche und Lieder – ich habe sie nur wieder vergessen; aber einige von ihnen habe ich lange genug behalten, um sie Victoria zu lehren. Victoria, mein liebes Kind, weißt du etwas von dem HErrn JEsus?«
»Nicht viel, Vater!« erwiderte diese mit zitternder Stimme, sie beugte sich mit ihrem blassen Gesicht vorwärts und blickte unverwandt den fremden Herrn an, der anfing, von dem zu reden, wonach sie sich so lange gesehnt.
»Ihr habt doch von der Königin Victoria gehört?« sagte Herr Dudley.
»Gewiß!« antwortete Euclid, »eine Menge Straßen und Gasthäuser werden ja nach ihr genannt.«
»Wenn Ihr nun erführt,« sagte der Fremde mit einer sehr ruhigen, aber doch klaren, eindringlichen Stimme, »daß die Königin Victoria voll Jammer ist über all das Leid und den Kummer der armen Leute, wie ihr es seid, daß sie ihren eigenen Sohn fortschickt, und der verläßt auch ganz willig den herrlichen und schönen Palast, wo sie leben, um zu euch zu kommen und mit euch in dieser Straße zu leben und dort für sein Brot zu arbeiten, wie ihr es tut. Und seine freie Zeit dazu verwendet, die Kinder zu unterrichten und die Leute zu pflegen und den Nachbarn zu helfen, und niemals der Leute müde wird und immer wieder versucht, sie so gut zu machen, wie er es selbst ist – was würdet ihr von dem denken?«
»Ich würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen,« rief Bessy lebhaft aus.
»So große Güte gibt es gar nicht auf der Welt,« sagte Euclid.
»Und wenn er nun so weiter lebt,« sagte Herr Dudley, »Woche um Woche, Jahr um Jahr, niemals nach Hause zu dem Palast seiner Mutter geht und ihr nur mitunter eine Botschaft schickt. Und dies alles, um euch gut und glücklich zu machen, damit ihr zu ihm kommen und mit ihm und seinen Freunden in dem herrlichen Palast leben könnt. – Und wenn dann wohl einige von euch ihn lieben, aber die Mehrzahl ihn haßt und diese einen großen Aufruhr erheben und den guten Königssohn töten und er nur Zeit hat, noch eine letzte Botschaft an seine Mutter zu schicken, und diese lautet: ›Mutter vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹ Ja, wenn er für diese Feinde sich selbst ins Gefängnis werfen und alle ihre Schuld für sie bezahlen würde, was würdet ihr dann sagen?«
»Solche Güte ist nicht möglich!« rief Euclid aus, während Victorias dunkles Auge an dem Mund des Fremden hing.
»Nehmt an, er wäre gerade jetzt auf der Straße, und ihr hörtet seine Stimme allen trostlosen und schuldbeladenen Menschen zurufen: ›Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken‹, würdet ihr zu ihm gehen?« fragte Herr Dudley.
»Ich würde ihm folgen bis ans Ende der Welt!« rief der alte Euclid und erhob sich von seinem Sitz, als wenn er sofort seine Pilgerschaft antreten wollte.
»Das ist einer von Mutter ihren Sprüchen,« sagte Victoria schüchtern.
»Ja,« fuhr Herr Dudley fort, »es sind Worte unseres HErrn JEsu Christi, des Gottes Sohnes. Habt ihr dies Wort nie gehört: ›Es wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut‹? Glaubt ihr nicht, daß es wahr ist?«
»Ja, es muß wahr sein,« antwortete Euclid; »denn meine Frau ist in den Himmel gegangen, und sie wird sich über Roger freuen, wenn er sich zum Guten kehrt.«
»Es sind die Worte JEsu Christi, des Sohnes Gottes,« sagte Herr Dudley. »Wenn ihr nun jetzt den Mann fändet, von dem wir sprachen, den Sohn der Königin! Und wenn ihr ihn dann traurig herumblicken sähet auf all die betrunkenen Männer und elenden Frauen und verkommenen Kinder, und er dann sagte: ›Ich bin gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist‹, würdet ihr ihm glauben?«
»Ich würde es gewiß, ich würde es!« sagte Euclid mit Tränen in seinen alten, trüben Augen.
»JEsus sagt das,« fuhr Herr Dudley fort, »und wenn ihr nun hörtet, wie er zu Euch und Victoria und Bessy sagt: ›Euer Herz erschrecke nicht. Glaubet ihr an Gott, so glaubet ihr auch an mich. In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, so wollte ich zu euch sagen: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und ob ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich doch wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin.‹ Sagt mir, was würdet ihr dazu sagen? was würdet ihr von ihm denken?«
»Gott segne ihn!« rief der alte Euclid schluchzend, während Victorias Augen in einem hellen Glanz leuchteten und Bessy mit geöffneten Lippen zuhörte.
»In der Nacht, ehe seine Feinde JEsum töteten, hat er dies gesagt und hat es als eine Botschaft zurückgelassen für alle, die an ihn glauben,« sagte Herr Dudley. »Welch ein Jammer, daß Ihr nicht schon Euer ganzes Leben geglaubt habt. ›Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.‹ Wenn Ihr lesen könntet, Euclid, ist hier ein kleines Buch, worin alles steht, was wir von JEsu, dem Sohne Gottes, wissen, und alles, was er gesagt und getan, hat er wahrlich auch für uns gesagt und getan.«
»Ich fürchte, ich bin zu alt, um noch zu lernen,« sagte Euclid voller Bedauern; »aber Victoria hat Zeit genug dazu, wenn jemand sie nur unterrichten will, und wenn sie nicht so bald stirbt, würde das kleine Buch ihr Gesellschaft leisten. Und Bessy muß auch etwas lernen. Ich habe nie gewußt, daß JEsus so gesprochen hat, wie: ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken‹, und ›Es wird Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut‹, und ›Ich bin gekommen, selig zu machen, was verloren ist.‹ Ach, und all die andern Worte.«
»Ich werde schon jemand finden, der Bessy und Victoria unterrichten wird,« sagte der Fremde, »und Roger wird auch hoffentlich etwas Tüchtiges lernen. Er fährt jetzt stromabwärts nach dem Schiff Cleopatra, wo er zum Seemann erzogen wird und auch lesen und schreiben lernt.«
»O, wenn David doch auch dahin kommen könnte, wohin Roger nun geht!« sagte Bessy kummervoll.
Herr Dudley hörte aufmerksam auf die Geschichte von Davids Verbrechen gegen die Gesetze seines Vaterlandes und die ihm dafür zuerkannten Strafen, er ließ sich auch den Namen des Gefängnisses, in dem er jetzt war, sagen und ging dann fort mit dem Versprechen, sie bald wieder zu besuchen.