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Fünftes Kapitel.

Es war schon beinah dunkle Nacht, als der Gefängniskarren mit David und den andern überführten Verbrechern das Gefängnis erreichte, dem sie nun überliefert werden sollten. Er fühlte sich noch ganz verwirrt und bestürzt, und als die schweren Türen des Gefängnisses sich hinter ihm schlossen, und er die langen, engen Gänge sah, durch welche er geführt ward, steigerte sich seine innere Angst nur noch mehr. Er war fast nie von andern Mauern umschlossen gewesen, als von denen jenes ärmlichen Hauses, das, solange er sich erinnern konnte, sein Heim gewesen war. Das Gefängnis schien ihm unermeßlich groß, als er seine müden Schritte über die Fliesen des Korridors schleppte. Die fleckenlose Sauberkeit von Flur und Wänden schien ihn gleichfalls ganz der Welt zu entrücken, in der er sonst gewohnt war zu leben. Der Schmutz und die Unsauberkeit des alten Gefängnisses würden ihm heimischer gewesen sein. Als ihm nun noch gar die Haare kurz geschoren wurden und man ihm das Gefangenenkleid an Stelle seiner eigenen, gewohnten, vom langen Gebrauch zerrissenen und beschmutzten Kleidung anlegte, begann er fast seine Identität zu bezweifeln. War er wirklich derselbe Knabe, der das freieste Leben, das nur denkbar, stets geführt, den ganzen Tag in den geschäftigen Straßen umhergelaufen war, ohne daß ihm dies jemals verboten gewesen oder er nur danach gefragt wäre. David Felton konnte es nicht sein, der hier eingeschlossen war, ganz allein in einer kleinen Zelle, die durch eine Gasflamme schwach erleuchtet ward; und sogar dieses kleine Licht war noch unter Schloß und Riegel, damit er es nicht berühren könnte. Kein Ton erreichte sein Ohr, wie scharf er auch hinhören mochte. Wo war das alte Lärmen und Toben der Straßen, das Schreien der Kinder, die gellenden Stimmen der Frauen, das Getöse, der Tumult und das Lärmen und Leben, an welches er bisher gewöhnt war? Noch nie hatte er einen Traum, so schrecklich wie diese Stille und Einsamkeit, gehabt.

Lange konnte er nicht schlafen, obgleich er auch die vorige Nacht auf der Polizeistation wachend verbracht hatte. Sein Lager war bequem, weit bequemer als irgendein Bett, worin er je geschlafen hatte, und seine Decke war warm. Aber gerade diese Bequemlichkeit und Wärme erinnerten ihn an seine Mutter und Klein-Bessy. Was mochten die nun tun? Zitterten sie vielleicht vor Kälte auf ihren harten Matratzen, unter ihrer fadenscheinigen Bettdecke, die ihnen allein geblieben war, um die Kälte der Nacht abzuhalten? Vielleicht sahen sie nach ihm aus? Welcher Tag war heute? War heute nicht Sonnabend? Und er hatte versprochen, am Sonnabend wieder zu Hause zu sein!

Wie anders würde alles gewesen sein, wenn er nur nicht abgefaßt worden wäre! Dann hätten sie sich gewiß heute abend ein kleines Feuer auf dem Herd gemacht und aus Freude über seine Rückkehr ein kleines Fest bereitet. Er sah im Geiste, wie sie alle drei um das Feuer saßen und er ihnen die Geschichte seiner Wanderungen erzählte und ihnen all die guten reichen Leute zu beschreiben suchte, die freundlich gegen ihn gewesen waren. Ach, und wenn der Polizist ihm auch all das Geld genommen und ihn nur mit dem Versprechen, nie wieder zu betteln, nach Hause hätte gehen lassen, so wäre das auch nichts gewesen gegen diese Trübsal. Ihm war, als sähe er seiner Mutter Gesicht, blaß, doch lächelnd, wie sie von seiner Gefahr hörte und wie er derselben noch soeben entgangen, und die kleine Bessy, wie sie mit leuchtendem Auge und gefalteten Händen auf dem Fußboden vor ihm saß und eifrig auf jedes Wort horchte. Warum hatten sie ihn nur ins Gefängnis gebracht? Zuletzt weinte er sich in den Schlaf; aber wenn nur ein Ohr dagewesen wäre zu hören, so hätte es die ganze Nacht hindurch tiefe Seufzer, die aus des Knaben überschwerem Herzen aufstiegen, vernehmen können.

Er ward früh am Morgen geweckt, und man sagte ihm kurz, was er tun müsse, bevor er seine Zelle verließ. Dann aß er sein Frühstück allein in der trostlosen Einsamkeit des Gefängnisses, und ihm war, als wenn er am Essen ersticken sollte. Es war dem Knaben, gewöhnt an die ungebundenste Freiheit, als wenn seine Glieder gefesselt wären und er weder Hand noch Fuß frei bewegen könne. Sein Körper schien ihm nicht mehr zu gehören. Er war weder hungrig, noch fror er, wie er es wahrscheinlich zu Hause getan haben würde; aber sein Kopf schmerzte, und sein Herz ward bitter in dem Gedanken an seine Mutter, und er fühlte sich unsagbar krank und unglücklich. Kälte und Hunger waren ihm gewissermaßen vertraute Freunde; aber er kannte nicht diese Schwäche und Schwere, diese Dumpfheit, welche ihn an seinen Gefängnissitz gefesselt hielt. Es erschien ihm fast wie eine Unmöglichkeit, daß er noch vor ein oder zwei Tagen, solange er mochte und wohin es ihm gefiel, in der weiten, freien Welt, außerhalb der Gefängnismauern, umhergeschweift war. Gab es wirklich noch Knaben wie er, die umherliefen und sprangen und jubelten, draußen im schönen Herbstsonnenschein?

Es war Sonntagmorgen, und man ließ ihn länger als gewöhnlich allein. Dann ward er in die Kapelle geführt. Er saß auf seinem Platze während des Lesens der Gebete und der darauf folgenden Predigt, aber er war noch immer zu verwirrt, um auch nur ein Wort zu fassen. Ziemlich ebenso war es an den Wochentagen in der Schule. Er hatte schon ein bißchen Lesen und Schreiben gelernt; aber er konnte seine Aufmerksamkeit nicht genug fesseln, um das, was er wußte, anzuwenden. Er sagte das Alphabet mechanisch her und schrieb seine erste Abschrift schlecht. Er konnte sich nicht dazu zwingen, seine Aufmerksamkeit auf diese Dinge zu lenken. Alle seine Gedanken drehten sich um das eine, daß er im Gefängnis war, und er quälte sich, was nun ohne ihn aus seiner Mutter und Klein-Bessy werden solle.

David war von Natur ein lebhafter Knabe, tätig an Geist und Körper; aber er war durch die plötzliche und außerordentliche Strafe wie gebrochen. Wohl hatte er längst gewußt, daß die Polizei ein scharfes Auge auf die Bettelei hatte, aber nie war ihm auch nur der Gedanke gekommen, daß er in das Gefängnis kommen würde, wenn er nicht gestohlen hätte. Verschiedene Knaben seiner Bekanntschaft waren schon auf kurze Zeit wegen kleiner Diebereien in das Gefängnis gesteckt, aber wenige von diesen waren zu drei Monaten verurteilt worden. Und er hatte immer seine Hände rein von Raub und Diebstahl gehalten – der einzige Begriff von Pflicht gegen seine Mitmenschen, der ihm von seiner Mutter eingeprägt war. Er würde nicht gebettelt haben, wenn er hätte arbeiten können; aber keiner von den Hunderten und Tausenden um ihn herum hatte ihm je Arbeit angeboten oder danach gesehen, daß sie ihm gelehrt wurde. Und nun war er hier im Gefängnis, ein Knabe, der nie einen Willen gekannt, der ihn geführt, als seine eigene, ungezähmte und unstäte Natur und seiner Mutter gütige und schwache Nachsicht.

Der erste Hoffnungsschimmer erwachte in ihm, als man anfing, ihn das Schusterhandwerk zu lehren. Das war doch ein Handwerk, durch welches er sich seinen Unterhalt verdienen konnte, wenn es auch nicht das war, was er sich erwählt haben würde. Sein Ehrgeiz war, ein Zimmermann zu werden, wie einst sein Vater, den er nie gekannt; – aber es war doch ehrliche, wirkliche Arbeit. Er nahm seinen ersten Unterricht in dieser Arbeit mit größtem Eifer und saß, einen alten Schuh auf den Knien, unermüdlich, denselben in Stücke zu zerlegen. Wenn er nur, bis seine Zeit verflossen war, so viel gelernt hatte, daß er seiner Mutter Schuhe ausbessern konnte! Die Tränen stürzten in seine trüben, blutunterlaufenen Augen, und seine Lippen zitterten bei dem Gedanken daran. Er wollte auf jeden Fall sein Bestes tun, um zu lernen.

Es war ein großes Gefängnis und die Zahl der Gefangenen groß. David wurde gefragt, ob er Protestant oder römisch-katholisch wäre, eine Frage, die er nicht verstand und nicht beantworten konnte. Er ward den Protestanten zugeteilt und unter die Aufsicht des Gefängnisgeistlichen gestellt, der ihn zwischen den Gefangenen sah und ihn in einer Klasse seine Pflicht gegen Gott lehrte, aber keine Zeit hatte, ihm irgendwelche persönliche Aufmerksamkeit zu schenken. Der Prediger sagte ihm, wie den übrigen, daß er die Gesetze Gottes und des Landes übertreten und daß die Strafe der gerechte Lohn für seine Sünde wäre. Davids Begriffe von Recht und Unrecht waren außerordentlich begrenzt und unklar; aber das konnte er nicht glauben, daß er unrecht getan, und das glaubte er auch nicht. Seine Mutter war dem Hungertode nahe, und er hatte um Hilfe für sie gebeten. Wenn die Gesetze ihm verboten, das zu tun, waren sie im Unrecht.

Er hätte seine Gedanken nicht in Worte bringen können; aber sie waren darum nicht weniger in seinem Herzen; – trübe, verwirrt und niedergedrückt grübelte er Tag und Nacht darüber nach. Nur selten sprach jemand mit ihm, und er war niemals zur Antwort rasch bereit. Diejenigen, welche ihn unterrichteten, hielten ihn für einen Dummkopf oder glaubten, daß er sich nur unfähig und geistesabwesend stelle. Tatsache war, daß er nie, außer in den Schuhflickerstunden, völlig bei der Sache war; denn er grübelte unaufhörlich über die Erinnerung an sein freies Leben und das elende Heim, aus dem er plötzlich gerissen.

David hatte keine Ahnung davon, daß er seiner Mutter schreiben und auch wiederum von ihr etwas erfahren könne. Solange er denken konnte, hatten sie niemals einen Brief erhalten und auch nie einen geschrieben. Der Polizist war in jenen Gegenden weit bekannter als der Postbote, und dennoch sehnte er sich danach, sie wissen zu lassen, wo er war. Einen Tag nach dem andern sann er darüber nach, wie es wohl seiner Mutter und Bessy gehen möge, und wußte recht gut, wie sie sich um ihn sorgen und bangen würden. Sein einziger Trost war der schwache Hoffnungsschimmer, daß er, wenn er zurückkäme, seiner Mutter Schuhe wieder ausbessern könnte.

Es war ihm daher wie ein plötzlicher Sonnenstrahl in seinem dunkeln Leben, als er vernahm, daß Gefangene einmal in drei Monaten an ihre Angehörigen schreiben dürften. Der Schulmeister verschaffte ihm Schreibmaterialien, und er gab sich die äußerste Mühe, einen Brief an seine Mutter zu schreiben. Das Blatt enthielt zuerst die Adresse des Gefängnisses, und darunter schrieb David mit seinen schiefen, schlecht geformten Buchstaben folgenden Brief:

 

» Liebe Muther.

Ich wart weil ich betteln tat eingestecht ins Gefenknis und ich lern nu schu ausfliggen. Sei nich bang um mir. Ich liebe dir und Bessy. Nach drei Monaten bin ich wider frei, dann fligge ich deine schu. Ich hab meine Hand von raup und dibstahl rein gehalt, wie Mutter sacht. Gott segne euch.

Von David Felton,
dein lieber son.«

 

Er schlief die Nacht zum erstenmal ruhig und fest, seitdem ihn die Mauern des Gefängnisses einschlossen, und träumte heitere Träume, daß er für seine Mutter arbeitete und ihr und Bessy von dem Geld, das er verdiente, alles kaufte, was sie haben mußten.


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