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John Dudley ging mit schwererem Herzen, als wie er gekommen war, die guten Nachrichten von Roger zu bringen. War ein Knabe gerettet, so war der andere wahrscheinlich unwiederbringlich verloren. Er kannte zu wohl die unvermeidliche Folge davon, wenn man Knaben ins Gefängnis schickte – es war der Verlust ihres guten Namens, der Verlust des einzigen Reichtums, den sie haben. Wenn David auch, was man kaum wagen durfte zu hoffen, weder entwürdigt noch verderbt durch die Berührung mit andern Verbrechern aus dem Gefängnisse zurückkam, so trug er doch beim Beginn seines Lebens den Makel, ein Verbrecher und eine Taugenichts zu sein, mit sich herum.
Dudleys Blut wallte heftig in ihm, und sein Herz schmerzte vor Unwillen und Kummer, als er langsam durch die engen und schmutzigen Straßen ging, welche einst David Feltons Schule und Spielplatz gewesen. Kaum begegnete er einem anständigen Mann und einer ordentlichen Frau, sein Ohr traf nichts als Flüche und Schimpfreden, und dies war die gewöhnliche Sprache, die David von seiner frühesten Jugend an gehört hatte. Und wessen war der Knabe schuldig gewesen? Sein Verbrechen war gewesen, daß er für seine vor Hunger sterbende Mutter gebettelt und den guten Namen seiner Mutter – vielleicht hitzig, aber tapfer – gegen denselben Mann verteidigt, der sie beraubt hatte.
Nur Elend, Erniedrigung und Verbrechen sah Dudley vor sich, als er heimging, und fast schien es ihm eine hoffnungslose Arbeit zu sein, diese tote Masse der niedrigsten Bevölkerung der Stadt aus ihrer Unwissenheit und Wildheit zu heben. Und wenn ihm das Gesetz gar nicht dabei half? Und wenn einer unter diesen jungen Wilden, der nur seinem natürlichen Gefühl nachgegeben, gegen ein Gesetz verstoßen, das er kaum gekannt, dann von »christlichen« Menschen eingesteckt wurde, nicht um ihn milde und weise zurechtzuweisen, sondern um ihn für immer in Feindschaft mit der ganzen menschlichen Gesellschaft zu bringen, so daß jedermanns Hand gegen ihn war und er wiederum seine Hand gegen jedermann erhob. Welche Hoffnung blieb dann noch für ihn und seine Gefährten bei diesem Werk der Befreiung?
John Dudley ging durch die Straßen; obwohl tief in Gedanken, beobachtete er doch unbewußt eine Gruppe sich herumtreibender, schlechtgekleideter und schlechtgenährter Knaben, welche den Damm beengte. Er grübelte über ein Buch nach, welches er kürzlich gelesen, ein volkstümliches Buch, das lange sehr beliebt in den oberen und mittleren Kreisen von Großbritannien gewesen. Es hieß »Tom Browns Schuljahre! Die Schule von Rugby.« Der Direktor, Dr. Arnold, war ein Mann, den Gott selbst zu seinem Posten berufen und ihn zum Vorbild und Beispiel für alle Lehrer gesetzt hatte. Alle Knaben in der Schule waren die Söhne von wohlhabenden, wenn nicht reichen Eltern. Aber in wie viele Angelegenheiten kamen diese Knaben nicht und kamen doch wieder heraus! Wie viele Verbrechen gegen das englische Gesetz begingen sie nicht! Wenn sie mit demselben Maß gemessen würden, womit man jeden Tag jene verlassenen, herabgewürdigten und ohne jede Sorgfalt aufwachsenden Straßenjungen maß, wie mancher brave und würdige englische Herr – und auch mancher Richter – wäre dann jetzt ein grauhaariger alter Verbrecher, der seine Strafe abbüßen müßte! Er hatte es schon erlebt, daß Knaben und Mädchen von noch nicht dreizehn Jahren ins Gefängnis geschickt waren, weil sie einen alten, schadhaften Zaun ganz niedergerissen oder mit einem Stein geworfen und dadurch ganz unabsichtlich ein Fenster zerbrochen; weil sie einen armseligen Apfel aus einer Bude oder ein Pennybrötchen aus einem Bäckerladen fortgenommen, oder weil sie ein Bündchen Wurzeln vom Felde oder eine Handvoll Korn aus einer Garbe entwandt hatten. Aber was waren diese Verbrechen im Vergleich zu denjenigen, welche Tag für Tag in jeder Schule des Königreichs begangen wurden! Ohne Zweifel wurden diese Schulknaben auch bestraft; aber man stieß sie doch nicht im Namen des Gesetzes in einen Abgrund, aus dem sie ihr Lebelang nicht wieder ganz herauskommen konnten.
Allmählich kehrten seine Gedanken wieder zum alten Euclid zurück. Es war ganz klar, daß er aus seiner Dachstube fort mußte, da jetzt Blacketts Haß noch mehr hervorgerufen war. Aber wohin sollte er gehen? Konnte man nichts Besseres finden als jene elende Dachstube mit dem Schieferdach und den wenigen Latten, welche als einziger Schutz gegen die Kälte und den Schnee des Winters und die heiße Sonne des Sommers dienen mußten? Kein Wunder, daß jenes Mädchen wie ein Geist aussah mit ihrem schmalen, bleichen Gesicht und ihrer abgemagerten Gestalt! Konnte nichts für sie getan werden?
Zuletzt erhellte sich sein Gesicht, und er wandte sich rasch südlich dem Flusse zu. Er ging beinahe bis zu dem Platz zwischen den Werften und trat dann in eine kurze und ruhige Straße. Ein frischer Luftzug wehte ihm hier vom Wasser entgegen, zwar eisig genug an diesem Februarabend, versprach aber doch eine prächtige Lust im Sommer. Er stand an einem kleinen Laden still, in dessen Bogenfenster mit kleinen Scheiben verschiedene Waren ausgestellt waren. Die Tür des Ladens war in der Mitte geteilt, und die obere Hälfte derselben stand offen. Als er den unteren Teil aufstieß, ertönte laut eine helle, kleine Glocke, und im nächsten Augenblick erschien eine ältliche Frau in der Tür des inneren kleinen Zimmers.
»Ich bin es, Frau Linnett,« sagte er. Die kleine Küche hinter dem Laden war nur sparsam ausgestattet mit einem Lehnstuhl, gepolstert mit selbstgemachter Flickarbeit, zwei Stühlen, einem Tisch und einem Küchenmöbel, das zugleich eine Kommode und ein Küchenbrett vorstellte. Die Wände waren mit billigen, ausländischen Merkwürdigkeiten geschmückt, und über dem Kamin hing der hell kolorierte Kupferstich eines Dreimasters, der alle Segel aufgehißt hatte. Vier kleine schwarze Gestalten, welche die Schiffsmannschaft vorstellen sollten, standen in gleicher Entfernung am Bollwerk. Ein feuerspeiender Berg im Hintergrund und das herrliche Blau des Himmels ließen die Bucht von Neapel vermuten. Unter dem Bilde standen die Worte: »Bark Jannina, Kapitän Thomas Linnett.«
In der Küche war kein anderes Licht als nur das Feuer; aber dies reichte hin, um das ruhige und angenehme Gesicht der Frau Linnett zu zeigen; allerdings war es teilweise unter einem grünen Augenschirm versteckt. John Dudley lächelte, als er sie sah.
»Ich denke, ich habe ein kleines Mädchen für Sie gefunden,« sagte er, »und auch einen Mieter, wenn ich einen kleinen Teil der Miete bezahle. Er ist ein ehrlicher alter Bursche, ich müßte mich sonst sehr irren, und ernährt sich durch den Verkauf von Brunnenkresse.«
»Das ist ein sehr ärmliches Geschäft,« bemerkte Frau Linnett ruhig.
»Er ist so arm, wie ein Mann nur sein kann, schlägt sich aber doch noch ohne Unterstützung des Kirchspiels durch,« sagte Herr Dudley; »er hat eine sehr kränkliche Tochter, die aber bald wohl und glücklich unter Ihrer mütterlichen Pflege werden wird. Dann ist da noch ein frisches, kräftiges Mädchen, das sie angenommen haben, und das ist das kleine Mädchen, von dem ich vorhin sprach.«
»Drei Personen aber!« sagte Frau Linnett.
»Sie mögen ja gerne das Haus recht voll haben,« erwiderte er überredend, »mit der Zeit wird Ihnen das ältere Mädchen im Laden gut helfen, und Bessy kann alles scheuern und rein machen. Dann haben Sie mehr Zeit, meine Bibelfrau zu sein und die armen Kranken zu lehren, was Sie von Gott und unserm HErrn JEsu wissen.«
»Und diese drei – wissen sie?« fragte Frau Linnett.
»Sie wissen nichts,« sagte Herr Dudley. »Keiner von ihnen kann lesen und schreiben, und der alte Mann hat nur den einen Gedanken, wie er ohne Hilfe des Kirchspiels durchkommen und sich und seine Kinder in eigenen Särgen begraben lassen kann. Versuchen Sie es mit ihnen, Frau Linnett! Der alte Euclid geht jeden Morgen auf den Markt, und Bessy kann noch ferner mit ihm gehen und Ihnen einen Korb voll Gemüse und Früchte zurückbringen, dann haben Sie es alle Morgen frisch. Nur versprechen Sie, es mit ihnen zu versuchen.«
»Ach, das wußten Sie recht gut, bevor Sie hereinkamen, Herr Dudley,« antwortete sie mit ruhigem Lächeln. »Ich könnte zu Ihnen nie ›nein‹ sagen, da Sie mir so viele Güte erwiesen haben, als Thomas Linnett fern auf der See starb. Wo wären meine zwanzig Pfund jährlich, wenn Sie nicht gewesen wären? Oben habe ich die vordere Stube und ein kleines Kämmerchen dabei, worin der alte Mann schlafen kann. Bessy soll bei mir schlafen. Ich habe diese Stuben eigentlich für alte Schiffskameraden von Thomas Linnett bestimmt; aber die finden auch wohl in der Nähe Quartier, und mein Herz sehnt sich nach diesen beiden jungen Mädchen, die erst alles lernen müssen. Sie werden meine freie Zeit, wenn ich mit dem Handel nichts zu tun habe, ganz ausfüllen.«
»Wie geht es jetzt mit dem Handel?« fragte Herr Dudley.
»O, besser, als Sie vielleicht denken, lieber Herr!« erwiderte sie heiter. »Es liegt hier zu bequem bei den Werften, und so kommt bald der eine, bald der andere von Thomas Linnetts alten Gefährten. Sie kommen dann zu mir herein, oder wenn es schönes Wetter ist, sitzen sie in dem Zelt vor der Haustür, und wir plaudern dann von den alten Zeiten auf der ›Jannina‹; die meisten würden noch viel mehr Geld im Laden ausgeben, wenn ich es nur zuließe. Einige lassen auch ihr Geld zur Sicherheit bei mir, und ich habe mehrere solcher Seekisten in meinem Zimmer, um sie aufzubewahren. So geht es mit dem Handel besser, als Sie vielleicht denken.« –
Der alte Euclid besah die neue Wohnung, die man ihm vorgeschlagen; denn es war keine Zeit mehr zu verlieren. Es war auch Vorsicht bei ihrem Umzug nötig, damit sie keine Spur zurückließen, durch welche Blackett sie hätte ausfindig machen können. Darum verkauften sie der größeren Sicherheit wegen unter der Hand die alte Bettstelle, die einst Frau Felton gehört, sowie die alten Stühle und Kisten. Der Rest ihrer kleinen Habe ward aufgepackt und heimlich um vier Uhr morgens hinuntergebracht, zu der Zeit, wann Euclid sonst sich auf den Weg machte. Ein Handwagen, den Herr Dudley geschickt, stand dann schon auf der Straße bereit, um die Sachen fortzubringen. Spät am Morgen stieg Victoria, blaß und zitternd und sich auf Bessy stützend, die bekannte Treppe zum letztenmal hinunter. Sie mußten an Blacketts offener Tür vorüber. Er sah sie finster an und stieß einen Fluch aus, als sie vorbeigingen, aber stand doch nicht auf, um ihnen zu folgen. Glücklich erreichten sie die Straßenecke und stiegen dort in einen bereitstehenden Wagen, der sie erst bei Frau Linnetts Tür absetzte.
Einer der alten Steuerleute, der auf der »Jannina« unter Thomas Linnett gesegelt, hatte die vordere Stube mit einer freundlichen Tapete mit roten Rosen frisch ausgeklebt und die Fenster mit Ketten aus scharlachroten, ausländischen Bohnen geschmückt. Das alte eiförmige Gitter mit den hohen Herdwänden ward so lange geputzt, bis es beim Schein des Feuers glänzte. Victorias Bett stand aufgemacht in der Ecke und Euclids seins war auch fertig in einer kleinen Kammer, die oben gleich an der Treppe lag. Ueber dem Kamin hing ein länglicher Spiegel, in der Mitte mit einem Riß, er stammte aus einer Schiffskajüte und war später in Frau Linnetts Besitz gekommen, außerdem hing auf jeder Seite ein Bild in schwarzem Rahmen. Victoria stand auf der Schwelle dieser prachtvollen Wohnung und blickte mit verwunderten Augen hinein, bis sie plötzlich in Tränen ausbrach.
»O, es ist zu groß und schön!« schluchzte sie. »Wir können niemals die Miete dafür bezahlen.«
»Gewiß werden Sie das können,« sagte Frau Linnett, sie zärtlich beruhigend; »und mit der Zeit werden Sie mir mehr als die Miete bezahlen, mein Liebchen, wenn Sie erst kräftig genug sind, mir im Laden zu helfen. Und das wird nicht lange währen, mein gutes Kind. Der frische Wind, der vom Fluß herauf weht, wird Sie stärken, und dann bin ich jetzt da, um für Sie zu sorgen, armes Kind, das nie eine Mutter gekannt. Und wie wird Ihr Vater glücklich sein, wenn er Rosen auf Ihren Backen aufblühen sieht. Und Bessy, die ist so gut wie ein Vermögen für mich, nun da sie hier ist, kann ich meine alten Füße und Arme ordentlich schonen. Und dabei ist es eine Meile näher nach dem Markt hin, und Bessy soll mir dort immer Aepfel und Orangen und Grünwaren für den Laden besorgen, und da verkaufen wir auch die Kresse, die Ihr Vater abends wieder mit nach Hause bringt. Sie sollen sehen, Liebchen, ob er dann nicht mehr als die Miete bezahlt.«