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Siebzehntes Kapitel.

Blackett hielt Wort. Er legte David nie ein Hindernis in den Weg, sich Arbeit zu verschaffen, um auf ehrliche Weise sein Brot zu verdienen. Er wußte nur zu gut, welchen Erfolg seine Bemühungen voraussichtlich haben würden, und wenn er David Morgen für Morgen auf sein fruchtloses Suchen gehen sah, pflegte er nur ein höhnisches Gesicht zu machen und verächtlich zu lachen, wodurch des armen Knaben Herz nur noch schwerer wurde. Aber niemand war sonst, freundlich gegen ihn, und obgleich er eine heimliche Furcht und ein gewisses Mißtrauen Blackett gegenüber hatte, so gab ihm doch keiner sonst auch nur einen Bissen Brot. Blackett gab ihm beides, Nahrung und Obdach, und eines Abends nahm er ihn mit sich in die Schlupfwinkel von Männern seines Schlags; hier vollendete David die Schule, die im Gefängnis für ihn begonnen hatte.

Der Mut des Knaben war gebrochen, die Kraft zu ertragen erschöpft. Er konnte dem nagenden Hunger und dem Verlangen des Durstes nicht mehr widerstehen, wie zu der Zeit, da er sein Haupt noch hoch halten konnte, wie jeder seiner Mitmenschen. Vor jedem Polizisten schlich er jetzt eilend hinweg, denn ihm war immer, als ob jeder ihn kenne. Und er trug in der Tat auch das unauslöschliche Brandmal des Gefängnisses an sich. Er hatte einen finsteren Verbrecher-Ausdruck, eine lauernde feige Haltung, ein erschrecktes Auge und einen ruhelosen Blick, der allenthalben Gegenstände der Furcht sah. Wenn er jetzt hungrig war – und wie oft kam das nicht vor! – zögerte er nicht lange, sich ein Stück Fleisch oder ein Bund Wurzeln rasch aus einem Laden an der Straße zu nehmen, wenn er Aussicht hatte, damit zu entwischen. Aber pfeifend durch die Straßen zu gehen, mit erhobenem Haupt und freiem Schritt, war eine längst vergangene Sache.

Er bemühte sich auch nicht mehr, Bessy zu finden. Wenn in seinem Herzen, zuerst als er aus dem Gefängnis kam, noch eine schwache Hoffnung gewesen war, etwas Besseres zu tun, als wieder dorthin zurückzukehren, so war diese völlig in ihm erstorben, als er vierzehn Tage mit Blackett verlebt hatte. Der Mut, den er einst gehabt, war verwandelt in rücksichtslose Verachtung der Gesetze und der Gesellschaft, die so grausam mit ihm verfahren waren. Was schuldete er der Gesellschaft? Warum sollte er ihre Gesetze halten? Bald hatte er schon zu sagen gelernt, daß er nicht um seine Einwilligung gefragt wäre, als sie dieselben gemacht hätten, und warum sollte er denn durch dieselben gebunden sein? Eines reichen Mannes Sohn hatte alles, was sein Herz nur wünschte, und konnte ruhig gegen manches Gesetz des Landes verstoßen, denn er konnte ja eine Geldbuße dafür zahlen; aber David Felton, von der Gesellschaft der Erniedrigung und der gezwungenen Trägheit überlassen, war wegen harmloser Vergehen sofort ins Gefängnis geworfen. Ein starkes Gefühl der Kränkung und erlittenen Unrechts lebte in seinem jungen Herzen.

Der Sommer kam und ging, und ein zweiter Winter brachte über die Armen wieder die jährlichen Tiefen des Leidens und der Entbehrung. David war schon wieder im Gefängnis, diesmal um eines Diebstahls willen, und er lachte darüber. Das Gefängnis war ein bequemer Zufluchtsort vor der Kälte und dem Hunger des trostlosen Winters, und wenn er nur so viel Glück hatte, sich im Sommer daraus fernzuhalten, war es gar nicht so schlimm als Winterquartier. Er hatte noch mehr Unterricht im Schuhmachen, wodurch er sich aber nicht mehr seinen Lebensunterhalt ehrlich unter ehrlichen Menschen verdienen konnte. Er versuchte auch gar nicht mehr, Arbeit zu finden, als er wieder frei war. Von nun an war die Arbeit, die Davids Hände taten, nur eine solche, die göttliche sowie menschliche Gesetze, ein Christ sowohl als die Welt nur Verbrechen nennen können. –

Beinahe ein und ein halbes Jahr waren schon verflossen, seit Euclid, Bessy und Victoria ihre Heimat bei Frau Linnett gefunden. Obgleich Herr Dudley alles getan, was nur irgend in seiner Macht stand, um David zu entdecken, war doch jede Bemühung vergeblich gewesen. Eines Abends, im Juli, ging Bessy über London-Bridge. Das Licht der untergehenden Sonne schien auf den Fluß, der in ruhigen, klaren Linien mit dem friedlichen Zufluß der Flut kräuselte. Bessy stand einige Minuten still und sah gen Westen nach dem goldenen Himmel. Sie war viel hübscher geworden, als je ihre arme Mutter gedacht hatte. Heute abend war ihr Gesicht glänzender als gewöhnlich, um ihre Lippen spielte ein Lächeln, und ihre Gedanken weilten sichtlich bei einem noch angenehmeren Gegenstand, als der untergehenden Sonne. Sie achtete nicht auf die Müßiggänger zu beiden Seiten, die, wie sie selbst, sich über die Brüstung der Brücke lehnten und in den Fluß hinabsahen. Doch als sie sich aufrichtete von ihrer angenehmen, mädchenhaften Träumerei und sich umwandte, ward eine Hand auf ihren Arm gelegt, und eine Stimme sagte in leisem Ton: »Bessy!«

Sie fuhr zurück, zitternd vor Hoffnung und Freude. Es war Davids Stimme, dessen Stimme, den sie immer vergebens gesucht, seitdem sie ihn verloren hatte. Als sie ihn ansah mit ihren geöffneten Lippen und ihren glänzenden Augen, ging eine Veränderung über ihr Gesicht. Konnte dieser Taugenichts, dieser elende und schlecht aussehende Bursche ihr David sein? Doch als sie ihn so anstarrte, zog auch ein Wechsel über sein Gesicht. Der harte, trotzige Mund ward sanfter, und hinter den geröteten, blutunterlaufenen Augen tauchte etwas auf von dem alten zärtlichen Licht der Liebe, die er für sie gehegt, als sie noch seine kleine Bessy war.

»David!« rief sie.

»Ja!« sagte er.

Dann waren beide still. Was sollten sie sich auch sagen? Es schien eine große Kluft zwischen ihnen zu sein. So standen sie beieinander, die eine durch Gottes rettende Gnade einfach und fromm und gut; der andere durch der Menschen und seine eigene Schuld elend und lasterhaft. Wie weit getrennt fühlten sich beide!

»David,« sagte Bessy zuletzt mit zögernder Stimme, »du mußt nach Hause mit mir kommen.«

»Nein,« erwiderte er traurig. »Ich will dein Glück nicht trüben, Klein-Bessy. Mit dir ist alles gut gegangen, wie ich sehe, du bist nicht auf schlechte Wege geraten, und niemals will ich die deinigen kreuzen. Ich freue mich sehr, dich einmal gesehen zu haben; aber ich habe mir keine Mühe darum gegeben. Ach, Bessy, wie stolz würde ich auf dich gewesen sein, wenn alles anders gekommen wäre!«

»Wo lebst du jetzt?« fragte Bessy und legte einen Augenblick ihre Hand auf seinen schmutzigen Aermel, nahm sie aber ebenso rasch wieder fort in ihrem mädchenhaften Widerwillen.

»Ich lebe meist immer mit Blackett,« antwortete David. »Ich habe keinen andern Freund, mitunter ist er ganz gut, aber dann tobt er auch wieder. Bessy,« fuhr er fort, und seine Stimme sank zum Flüstern, »ich war wieder im Gefängnis.«

»David, David,« stöhnte das junge Mädchen.

»Ja,« fuhr David fort; »es ist die einzige Heimat, die ich noch habe, die und das Arbeitshaus, und dann ist es im Gefängnis doch noch besser. So muß ich mich von dir fernhalten, oder ich würde dir schaden. Sage mir gar nicht, wo du wohnst, ich möchte sonst doch einmal hinkommen, um dich zu sehen, und das würde dir nur schaden, kleine, liebe Bessy, und mir würde es auch nicht helfen.«

»Ach, wenn Herr Dudley nun doch vorbeikäme!« rief Bessy.

»Wer ist Herr Dudley?« fragte David.

»Er würde Rat wissen und dir sagen, wohin du gehen müßtest, um passende Arbeit zu finden,« erwiderte Bessy. »Ich weiß, er würde es tun, und dann, David, würdest du durch Gottes Gnade doch noch ein guter Mann werden, wie unser Vater!«

»Ein guter Mann wie Vater!« wiederholte David, »das kann ich nicht mehr werden. Ich mag diese Art zu leben, jetzt schon gerne. Ich mag spielen und trinken und all die anderen Dinge, die man Schlechtigkeiten nennt. Ich kann nichts anders mehr werden als ein Dieb! Es gibt gute Leute, wie Vater und Mutter, aber mich hat man zu den schlechten wie Blackett getrieben, und nun kann ich nie mehr werden wie ihr. Die Mutter war eine gute Frau, und wie ist es ihr ergangen? Vor Hunger ist sie gestorben, das hat mir Blackett oft genug erzählt, und darin hat er recht. Und sie konnte mich nicht vor dem Gefängnis schützen, und jetzt gehöre ich zu den schlechten Menschen.«

»O David, David,« klagte Bessy.

»Leb' wohl, Klein-Bessy,« sagte David tiefbetrübt, »ich will dich nie wiedersehen. Wenn Blackett dich jetzt sähe! Nein, Bessy, wir beide sind für immer getrennt. Gibt es eine Hölle, so gehe ich dahin, und du kommst in den Himmel, wenn es einen gibt. Darum lebe wohl, Bessy.«

»Ach, warum kommt Herr Dudley jetzt nicht vorbei,« rief Bessy wieder, die nicht wußte, was sie tun sollte. Denn wenn David mit Blackett lebte, mußte sie auch vor ihm verbergen, wo Euclid und Victoria eine Zufluchtsstätte vor ihrem alten Feinde gefunden hatten. Wie konnte sie David mit nach Hause nehmen, oder ihm auch nur sagen, wo ihre Heimat war, wenn sie ihre Freunde damit in Gefahr brachte!

»Warum haben sie mich ins Gefängnis geworfen und Roger zur Schule geschickt?« sagte David mit tiefer Bitterkeit; »das war nicht recht! Er hatte Geld gestohlen, und ich hatte nur für Mutter gebettelt. Mir haben sie nie Gelegenheit zum Lernen gegeben, und Roger wird nun alles gelehrt. Niemand kann mir jetzt noch helfen. Ich bin noch nicht sechzehn Jahre alt und schon dreimal im Gefängnis gewesen; aber niemand hat mich je unterwiesen, wie ich mir meinen Unterhalt verdienen sollte, als erst im Gefängnis; und welchen Nutzen hat ein Handwerk, das man dort gelernt? Wer nimmt einen Menschen, der im Gefängnis gewesen? Der Vater war ein guter Mann; aber an der Seite eines Sträflings würde auch er nicht haben arbeiten mögen. Und so kann ich mich nie wieder von den schlechten Menschen frei machen, niemals wieder.«

»Was soll ich nur tun?« rief Bessy weinend und drückte seinen Arm zwischen ihre beiden Hände. »Ach, David, ich kann dich nicht gehen lassen, und nach Hause darf ich dich auch nicht mitnehmen.«

»Wenn du mich einmal küssen möchtest, nur einmal und dann laß mich gehen. Du kannst nichts für mich tun; es ist zu spät! Ich bin schlecht und jetzt ein Dieb, und alles, was vor mir liegt, ist Gefängnis, nichts als Gefängnis. Sage mir nicht, wo du wohnst, tu es nicht! Es könnte mir eines Tages doch zu schwer werden, und ich möchte zu dir kommen und dir dein Glück noch stören. Vergiß David nicht! Küsse mich, Bessy! einmal küsse mich und dann laß mich gehen.«

Sie erhob ihr hübsches, junges Gesichtchen mit gesenkten Augenlidern und zitterndem Munde, und er drückte seine heißen, fieberhaften Lippen auf dasselbe. Dann riß er sich los, lief rasch fort und war in wenigen Minuten verschwunden in der Menge, die sich unaufhörlich auf London-Bridge drängt.


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