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Viertes Kapitel.

Als Frau Felton, schwer auf Bessys Arm gestützt, sich mühsam von dem traurigen Besuch beim Pfandleiher heimwärts schleppte, sah sie einen alten Mann vor sich die Straße hinuntergehen. Es war ein Nachbar, dieser alte Mann, der mit schleppendem, hinkendem Gang auf dem schlechten Pflaster auch heimwärts schlich. Die Laternen, die schon in der engen, schmutzigen Straße brannten, beleuchteten seine jammervolle Gestalt mit den tiefgebeugten Schultern. Seine grauen, zerzausten Locken hingen unter einem abgenutzten und verbogenen Hut heraus, und um diesen war ein Stückchen schwarzen Flors geschlungen, der noch nicht ganz grau von Regen und Sonnenschein geworden war. Er war ein kleiner Mann und schien, seitdem er vor vielen Jahren seine Kleider gekauft, noch bedeutend magerer geworden und mehr zusammengeschrumpft zu sein. Das Gesicht unter dem verbogenen Hut war von einem gelblichen Braun, voller Runzeln und mit dicken Augenbrauen, die bis über die Augen hingen. In diesen trüben, eingesunkenen Augen lag ein Strahl, als wenn sie mitunter lächeln könnten; freilich ward diese Möglichkeit wohl nur selten eine Tatsache. Der alte Mann sah halb verschlafen aus, wie er weiter schob und mit einer heisern Stimme träumerisch sein »Kresse« ausrief; aber durchaus nicht in einem Tone, als ob er erwartet hätte, daß einer seiner Nachbarn einen Penny für diese leicht verderbliche Ware ausgeben würde.

»Da ist der alte Euclid,« sagte Frau Felton in einem Ton voller Mitleid, als wenn sie von jemand spräche, dessen Verhältnisse ebenso schlecht, ja noch schlechter als ihre eigenen wären. Des alten Mannes Taufname war Euclid, sein Familienname Jones; aber da so viele diesen Namen führten, hatte man ihn nie bei demselben genannt, und er war fast vergessen. Er war der Sohn eines Dorfschulmeisters in einem ruhigen Flecken von Wales, den sein einziges Kind Euclid genannt hatte, in der unbestimmten Hoffnung, ihn noch einmal als einen bedeutenden mathematischen Gelehrten zu sehen. Aber der Schulmeister und seine Frau starben beide, ehe der kleine Euclid nur sein Alphabet ganz innehatte, und von dieser Zeit an lebte er bei den Nachbarn, bald bei dem einen, bald bei dem andern, bis er alt genug war, Krähen zu verscheuchen und Ferkel zu hüten. Wenig lernte der verwaiste Euclid bei diesen frühen Beschäftigungen. Im Lauf der Zeit kam er nach London, wo er an den Wegen arbeitete, bis er durch einen Unglücksfall ganz unfähig ward. Er hatte eine Frau geheiratet, die ihm acht Kinder schenkte. Diese aber starben alle bis auf eins, gerade wenn sie alt genug gewesen wären, um ein wenig für sich selbst zu sorgen, nachdem sie ihres Vaters Liebe und Aufopferung bis auf das Aeußerste erprobt hatten. Seine Frau war auch gestorben. Er hatte sie alle in ihren eigenen Särgen ohne Hilfe des Kirchspiels begraben lassen, und dies war eine Erinnerung, welche sein niedergeschlagenes Herz mit einem Gefühl von ehrlichem Stolz erfüllte, wenn er daran dachte.

Das Leben hatte dem alten Euclid eine Aufgabe gestellt, schwieriger und verwickelter als das größte mathematische Problem – nämlich, wie er sich und die Seinen sein ganzes Leben durchbringen und schließlich begraben lassen sollte ohne die gefürchtete und erniedrigende Hilfe des Kirchspiels. Noch war die Aufgabe aber nicht ganz gelöst, sein jüngstes Kind mußte noch sterben und begraben werden.

Endlich trat der alte Mann in dieselbe Tür, zu der sich Frau Felton hinschleppte. Er wohnte in einer Dachstube des Hauses und hatte den großen Vorteil vor Frau Felton, daß er dort weit mehr Licht und frische Luft und auch die Ruhe einer ganzen Etage genoß. Andere Vorteile besaß er aber wenige. Sein ganzes Hausgerät war ebenso ärmlich, wie das ihrige, ehe sie alles, was nur noch irgend Wert hatte, zum Pfandleiher gebracht. Der Kamin bestand aus drei eisernen Stangen, welche in den Schornstein führten, mit einem losen Ziegelstein auf jeder Seite als Herdwand. Auf demselben stand ein brauner irdener Teetopf, leise singend, als wenn der Tee schon längere Zeit gekocht hätte. Ein Bett war auf dem Fußboden, dicht bei dem Feuer, und Euclids erster Blick fiel darauf; aber es war leer, denn ein kränklich aussehendes Mädchen von achtzehn Jahren saß auf einem zerbrochenen Stuhl vor dem Feuer und kauerte sich über dasselbe mit ausgestreckten Händen. Sie hatte sich in einen Schawl gehüllt und hielt ihn fest um sich, als wenn sie die Kälte des November-Abends fühlte; doch lächelte sie freundlich, als sie des alten Mannes runzliges Gesicht und trübe Augen sah, wie er noch einen Augenblick in der Tür stand und sie ängstlich und traurig anblickte.

»Komm herein, Väterchen, und schließe die Tür,« sagte sie heiter, »ich fühle mich heute nicht so schlecht; aber du kommst ja später als gewöhnlich. Es ist schon nach sechs Uhr, und ich fürchtete schon, du würdest gar nicht wiederkommen.«

»Die Leute kauften bei diesem schlechten Wetter nicht recht Kresse,« antwortete er und bemühte sich, seiner heisern Stimme einen sanfteren Klang zu geben, »aber Victoria, mein liebes Kind, du hast doch nicht mit dem Tee auf mich gewartet?«

»Das sollte ich meinen!« sagte die Tochter, stand von dem einzigen Stuhl auf und zwang mit ihren schwachen Kräften den Vater, sich auf denselben zu setzen, während sie auf einer alten Kiste daneben Platz nahm. »Ich konnte unmöglich den besten Tee allein zu dieser Nachtzeit austrinken und dich auf der Straße wissen, Väterchen. So, nun wollen wir ihn gleich trinken, denn er ist schon vor einigen Stunden gemacht – oder wenigstens ist es doch eine Stunde her, nach der Uhr gesehen. Jene Uhr, Vater, ist mir ein wahrer Gesellschafter und Gefährte,« fügte sie hinzu und sah stolz auf eine kleine, laut tickende Uhr an der Wand, das beste und geschäftigste Ding in dem öden Zimmer.

»Ich habe gar keinen Hering heute für dich mitgebracht, Victoria,« sagte der alte Mann bedauernd, »und auch nichts anderes zu deiner Erquickung als ein bißchen Kresse, auch fürchte ich fast, die ist heute zu kalt für deinen Magen, mein Liebling. Hast du auch zu irgend etwas Appetit? sage es! Ich nehme dann ein oder zwei Pennies von unserm kleinen Schatz. Er ist doch in guter Sicherheit, mein Kind?«

»Ja, ja!« erwiderte sie und ein Schatten verdunkelte einen Augenblick ihr Gesicht, »du brauchst dich nicht zu sorgen, daß der nicht sicher wäre. Und ich habe nicht das geringste Verlangen zu etwas Besonderem.«

»Wieviel ist es jetzt,« fragte der alte Mann, und seine Augen glänzten vor Erregung.

»Es sind jetzt zwei Pfund, sechzehn Schillinge, neun Pennies und drei Heller!« antwortete das Mädchen ohne Zögern. »Ich achte gut darauf!«

»Ich denke, es wird bald reichen, Victoria,« sagte er mit einer Miene der Genugtuung, »dann bin ich nur noch übrig, mein liebes Kind; und da bin ich nicht bange; dafür werde ich noch genug sparen können. Nein, nein, ich möchte nicht wie ein Taugenichts sterben und in einem Armensarg begraben werden.«

Victoria hatte die beiden zerbrochenen Tassen und das Brot von einem Eckschrank geholt, und wie sie jetzt vor dem Feuer stand und aufmerksam hineinschaute, hatte ihr blasses Gesicht einen Anflug zarter Schönheit. Unter dem Kopfkissen, auf dem jede Nacht ihr Kopf lag und auf welchem sie manche lange Stunde des ermüdenden Tages schon geruht, war ein kostbarer Schatz verborgen, der sich langsam Penny für Penny angehäuft hatte – es war das Kapital, womit ihr Sarg und die anderen Kosten ihres ärmlichen Begräbnisses bezahlt werden sollten. Ihr Sterbehemd, aus grobem Stoff, hatte sie sich bereits genäht und bewahrte es sorgfältig auf für die Zeit, wo es nötig sein würde. Es war ihr und ihrem Vater keine Frage mehr, daß dies Geld wahrscheinlich schon vor dem nächsten Sommer gebraucht werden müßte. Ihr Arzt, ein Drogist in der nächsten Straße, hatte ihr zwar gesagt, daß gute Nahrung, bessere Kleidung und eine warme Wohnung alles wäre, was ihr fehlte, aber ebensogut hätte er verordnen können, den Winter im Süden zu verleben. Es war Euclids Hauptsorge, daß die Summe sich so rasch als möglich vergrößern möge, wenn ein ungewöhnlich harter Winter sie vielleicht schon eher nötig machte. Für Victoria war diese Sache ebenso wie für ihren Vater ein Gegenstand der Sorge. Oft rechnete sie die Kosten des Grabes und des Sarges zusammen und zählte dann wieder die Summe, die bestimmt war, ihr beides zu verschaffen. Wie sie nun vor dem Feuer stand und hineinsah, sah sie plötzlich so deutlich und so flüchtig wie einen Blitz ihr eigenes Begräbnis vor sich, wie es die enge, gemeinsame Treppe hinunterging, einige Kinder nebenherlaufend, und nur ihr alter, weinender Vater als Leidtragender folgte. Sie beugte sich zu ihm und küßte ihn; ihr war, als müsse sie ihn jetzt im voraus schon trösten für all das kommende Leid.

»Fehlt dir etwas, Victoria?« fragte er in einem so sanften Tone, wie er nur irgend konnte.

»Nichts Neues, Väterchen,« antwortete sie, »nur es wird dir so einsam sein, wenn ich nicht mehr bei dir bin.«

»Ja, ja,« sagte der alte Euclid, »es wird hier trüb und dunkel sein ohne dich, mein liebes Kind.«

Er sprach nicht weiter, sondern saß still vor dem Feuer und rieb seine Füße, einen gegen den andern. Sein Gedächtnis ging über die fünfundzwanzig Jahre zurück, die verflossen waren, seit er ein kräftiger Mann gewesen, fähig und willig, schwer zu arbeiten und ein rauhes Leben zu führen um seines Weibes und seiner Kinder willen. Victoria sah, wie er seine Kinder an den Fingern abzählte und dabei leise ihre Namen murmelte. Er sah sie alle vor sich, seine Knaben und Mädchen, welche aus dieser mühevollen Welt ihm vorangegangen waren in das dunkle Geheimnis des Grabes. In seiner Erinnerung lebten sie alle, sein Weib auch, welches denselben fremden und doch so bekannten Weg vor achtzehn Jahren gegangen war. Er hatte sie alle begraben und nie einen Penny dazu vom Kirchspiel genommen. Sein faltenreiches Gesicht hellte sich auf bei diesem Gedanken.

»Victoria,« sagte er, als er sich plötzlich an Frau Felton erinnerte, »unten in der Hinterstube des Erdgeschosses ist, glaube ich, unendlich viel Kummer und Sorge. Der armen Frau Felton geht es noch viel schlechter als uns, obgleich sie Hilfe vom Kirchspiel annimmt. Aber Kirchspielgeld hat keinen Segen, das weiß ich. Und ich glaube, sie ist todkrank; ich sah sie erst vom Pfandhause zurückkommen, und sie sah wie eine Leiche aus. Ihr Sohn David ist fort, niemand weiß, wohin, und ihr bricht das Herz vor Jammer. Ich sah vorhin in ihre Stube, und da war auch kein Fünkchen Feuer. So, meine liebe Victoria, wenn es dir nicht unangenehm wäre, könnten wir sie bitten, ein wenig heraufzukommen, wenn wir unsern Tee getrunken haben. Leider ist nicht genug für uns alle da, sonst könnten wir sie bitten, mit uns zu trinken; aber sie hat kein Feuer, und vier werden wärmer sein als zwei. Wenn es dir nur recht ist?«

»Ob es mir recht ist!« wiederholte Victoria. »Ich werde mich sehr freuen, wenn sie kommt.«

Gar oft hatte Victoria sehnsüchtig nach Frau Feltons Zimmer geblickt, wenn sie an deren Tür vorübergegangen war, und gewünscht, dieselbe möchte sie rufen und auffordern hineinzukommen. Aber Frau Felton hatte sich für vornehmer gehalten als Euclid – eine Wäscherin nahm jedenfalls eine höhere gesellschaftliche Stellung ein, als ein Kresseverkäufer, ganz abgesehen davon, daß sie im Erdgeschoß und er im Bodenraum wohnte – und sie hatte Euclids Tochter wenig beachtet zwischen den stets wechselnden Bewohnern des Hauses. Bessy war schon besser mit Victoria bekannt, und David hatte ihr öfters kleine Gefälligkeiten erwiesen und ihr Gänge besorgt, wenn sie zu schwach gewesen, um selbst auszugehen. Nun, nachdem der Vater diesen Vorschlag gemacht, konnte sie keinen Bissen mehr hinunterbringen. Sobald sie ihren Tee getrunken, die Tassen und überhaupt jede Spur ihres ärmlichen Mahls fortgeräumt hatte, ging Euclid hinunter, um in eigener Person Frau Felton einzuladen; während Victoria ein oder zwei leere Kisten, die als Sitze dienen sollten, an das Feuer setzte und noch rasch eine Handvoll Kohlen daraufwarf. Ihre Farbe wechselte schnell, als sie die langsamen Fußtritte der Frau Felton hörte, die mühsam die Treppe nach der Giebelstube hinaufstieg. Schüchtern, aber freundlich, begrüßte sie dieselbe bei ihrem Eintreten, Bessy und Euclid kamen nach.

»Es ist sehr gütig von Ihnen und Herrn Euclid,« sagte Frau Felton keuchend, und der Schatten eines Lächelns glitt über ihr Gesicht. »Ich nehme Ihre Freundlichkeit auch nachbarlichst an, und wenn je Bessy und ich irgendwie« –

»Bitte, setzen Sie sich in diesen Stuhl,« sagte Victoria, sie sanft unterbrechend, da die arme Frau noch immer nach Luft rang. Sie saß bald auf dem Stuhl, der gerade vor das Feuer gestellt war, während Euclid auf einer alten Kiste neben ihr und Bessy und Victoria auf einer anderen ihr gegenüber saßen. Der flackernde Schein des Feuers war das einzige Licht, bei welchem sie einander sahen, aber in wenig Minuten fühlten sie sich wie alte Freunde.

»Sie ist das letzte Kind, das uns geschenkt ward,« sagte der alte Euclid, Victoria zunickend, die mit Bessy sprach. »Ihre Mutter starb vor achtzehn Jahren bei ihrer Geburt. Sie war zu schwach, um wieder besser zu werden, und so mußte sie sterben. Ich hatte fünf kleine Kinder, als sie starb. Victoria hat ihr Leiden geerbt,« fuhr er in einem leiseren Ton fort, »und sie wird das letzte von den acht Kindern sein.«

»Es ist sein Wille, und er muß alles am besten wissen, Herr Euclid,« sagte Frau Felton mit einem schweren Seufzer.

»Ich denke so,« erwiderte Euclid, »ich will hoffen, daß er es weiß; ich weiß es natürlich nicht. Ich habe nie Zeit, an anderes zu denken, als nur, wie ich ohne Hilfe des Kirchspiels fertig werden kann. Nicht, daß ich ein Wort gegen eine Frau sagen möchte, die Unterstützung vom Kirchspiel annimmt, gegen eine arme schwache Frau, wie Sie es sind. Aber es wäre eine bittere Schande für einen Mann, dem Kirchspiel zur Last zu fallen, und wenn es auch nur mit seinem Begräbnisse wäre.«

Frau Felton seufzte wieder und blickte in die roten Kohlen des Feuers, als wenn sie die hellen Tage ihrer Ehe wieder vor sich sähe. »Ich habe niemand verloren als meinen armen David, ich meine meinen Gatten,« sagte sie, »und zum guten Glück war er in einer Totenlade und erhielt ein sehr gutes Begräbnis, einen Leichenwagen und eine Trauerkutsche für mich und die beiden Kinder und Ehrenzeichen auch. Mich zu begraben aber ist Sache des Kirchspiels, denn Bessy ist nur noch ein Kind, und David ist fort.«

»Wohin ist er gegangen,« fragte Victoria.

»Er wollte vor beinahe einem Monate einen kleinen Ausflug machen,« antwortete Frau Felton, »wir haben nie etwas wieder von ihm gehört, seit er mir damals ›adieu, Mutter!‹ zurief. Er ist nicht wiedergekommen. Ihm muß etwas zugestoßen sein; denn er war immer gut gegen mich und Bessy. Es kann sich niemand denken, wie gut er immer war. Nun ängstige ich mich um ihn mehr, als ich es Ihnen je sagen könnte, und das reibt mich völlig auf. Aber es ist Gottes Wille, wie die guten Menschen sagen, und niemand kann etwas dagegen tun.«

»Bessy sagte mir, Sie wären gezwungen gewesen, sich von Ihrem Trauring zu trennen,« erwiderte Victoria mit einem schüchternen Blick der Teilnahme.

Die Tränen traten in Frau Feltons Augen, und Bessy sah voller Scham vor sich hin. Es war der erste Abend in dem Leben der armen Frau, wo sie, wenn sie von der Arbeit ruhte, nicht das kostbare Zeichen ihres kurzen Ehestandes am Finger fühlte. Sie konnte nun für eine Unverheiratete gelten, für eines jener elenden Geschöpfe, auf die sie immer mit einer Art ehrenhaften Stolz und ein wenig Härte herabgesehen hatte. Sie legte ihre rechte Hand auf den ungeschmückten Finger und blickte mit einem Ausdruck des tiefsten Kummers in Victorias teilnehmendes Gesicht.

»Ich will arbeiten, soviel ich irgend kann, damit wir ihn wiederbekommen,« rief Bessy mit Energie.

»Ich möchte, meine gute Frau lebte noch,« sagte Euclid. »Ich wünsche es immer, sie war eine gute Frau und wußte mehr von Gott als die meisten Menschen und von ihm, der für uns gestorben ist. Ich bin niemals recht gelehrt gewesen; aber sie konnte prachtvoll lesen und wußte eine Menge Dinge. Sie hat mich auch ein ganzes Teil gelehrt, und ich habe es lange genug behalten, um es Victoria wieder zu lehren. Victoria, mein liebes Kind, du weißt die Verse, die Lieblingsverse deiner Mutter; ich lehrte sie dich, als du noch ein kleines Kind warst. Ich habe sie vergessen; aber Victoria weiß sie ganz schön und genau, und sie sagt sie mir immer jetzt, wo ich sie nicht behalten kann. Oft denke ich dann, daß ihre Mutter sie mir wieder vorsagt. ›Der HErr‹ –, du weißt ja, mein Liebling.«

Victorias Gesicht errötete, und ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie zu sprechen anfing, während Bessy ihre dunkeln Augen eifrig auf sie heftete, und Euclid und Frau Felton mit ihren abgehärmten und sorgenvollen Gesichtern in das Feuer sahen und bei dem Schluß jedes Verses mit dem Kopfe nickten, als wenn sie ein stilles Amen dazu sprächen.

 

»Der HErr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

Er erquicket meine Seele und führet mich auf rechter Straße, um seines Namens willen.

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich.

Du bereitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde.

Du salbest mein Haupt mit Oel und schenkest mir voll ein.

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Lebelang, und ich werde bleiben im Hause des HErrn immerdar.«


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