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Zwölftes Kapitel.

Aber nirgends konnte man Blackett finden! Seinen Glaserkasten mit ein paar Glasscheiben auf dem Rücken war er fortgegangen, um auf dem Lande Arbeit, in Gestalt von zerbrochenen Scheiben, zu suchen. Es war auch keine Spur von dem gestohlenen Gelde in seinem Zimmer, und obgleich Roger in seinem Schrecken eingestanden, daß er es gestohlen und alles seinem Vater gegeben, war es doch nicht genügender Beweis, um die Wahrheit seiner Behauptungen festzustellen. Rogers erschreckte Aussage war voller Widersprüche und Unrichtigkeiten. Er war bereit, alles zu leugnen, aber auch alles einzugestehen, und darum sollte er erst wieder verhört werden, wenn sein Vater gefunden und vorbeschieden wäre. Euclid und Victoria wurden aufgefordert, sich bereit zu halten, vor Gericht zu erscheinen, wenn ihre Aussagen nötig sein würden.

In den nächsten Tagen schleppte Euclid, ein gebrochener, hoffnungsloser alter Mann, seine schwerfälligen Füße auf den alten Wegen hin und rief: »Krösse,« »Krösse,« als wenn irgendein grausamer Zauber einen Bann über ihn geworfen und er verurteilt wäre, die trostlosen Straßen mit gebeugtem Haupt und schlotternden Gliedern zu durchwandern, kein ander Wort aussprechend als »Krösse«. Seine Augen sahen nichts, als Victoria im Armensarge forttragen. Er sah sogar Blackett nicht, der am Abend seiner Rückkehr von seinem Ausflug, nach einer Woche Abwesenheit, auf ihn lauerte und hinter dem alten Mann her höhnte, als sich derselbe die Gänge und Treppen mühsam hinaufschleppte.

Es lag ein schwerer Tag hinter Euclid, und er kam später als gewöhnlich nach Hause. Bessy und Victoria hatten schon länger als eine Stunde ängstlich nach ihm ausgesehen und taten, was sie nur konnten, um ihn zu trösten. Aber er blieb immer still und niedergeschlagen und schüttelte nur seinen alten grauen Kopf, als Victoria ihm eine Tasse Tee gab.

»Väterchen,« sagte sie, »was ist dir?«

»Du weißt, Victoria,« erwiderte er traurig und niedergeschlagen, »Gott hat meinen armen Füßen nicht geholfen, dich und mich ohne Kirchspiel-Unterstützung ganz durchzubringen. Als deine arme Mutter dich sterbend im Arm hielt, sagte sie, Gott würde gewiß so viel an uns tun, und er hat es nun doch nicht getan.«

»Haben Sie um Hilfe beim Kirchspiel gebeten?« fragte Bessy, die Augen groß vor Verwunderung und Schrecken.

»Nein, mein Kind, noch nicht!« erwiderte der Alte und ein Anflug von dunklem Rot kam über sein sonst so blasses Gesicht; »so weit ist es noch nicht gekommen. Aber als ich in der Dämmerung die Straße herkam, ging ein Kirchspiel-Begräbnis neben mir, kein wirkliches Begräbnis. Ihr würdet sagen, nur der Schatten von einem, und ich weiß, es war Victorias. Es war Victorias!« wiederholte er, und seine Stimme verlor sich im Schluchzen.

»Vater,« rief Victoria, »lieber Vater, woher weißt du, daß ich schon einen Sarg und ein Begräbnis brauche?«

Euclid erhob den Kopf, unterdrückte sein Schluchzen und sah das einzige Kind, das ihm geblieben, mit seinen trüben und von Tränen verdunkelten Augen an.

»Ich habe gedacht,« fuhr sie fort, »daß wir es uns eigentlich mit Gewalt eingeredet, daß wir so bald einen Sarg gebrauchen würden. Vielleicht hat Gott uns nur darum das Geld nicht gelassen, weil er mich nicht so bald sterben lassen will. Ich habe, seit es uns genommen, viel darüber nachgedacht, und da ist mir dieser Gedanke gekommen. Vielleicht weiß Gott, daß ich nicht so bald einen Sarg gebrauche, und es ist auch nicht ganz recht gewesen, daß wir so viel dafür gesorgt.«

»Keinen Sarg gebrauchen?« erwiderte Euclid zweifelhaft.

»Nein,« sagte sie mit einem schwachen Lächeln, »ich glaube, der Gedanke daran hat mich immer mit krank gemacht. Ich konnte nach dem Polizeiamt gehen, als das Geld gestohlen war und bin nicht ein bißchen kränker danach geworden. Heute sind wir aufgefordert worden, wieder hinzukommen, und ich fühle mich kräftig und wohl genug dazu. Ich habe weit gesunder geschlafen, seit das Geld unter meinem Kopf fort ist. Mir war, als flüsterte es mir fortwährend leise ins Ohr: ›Ich will dir einen Sarg kaufen! ich will dir einen Sarg kaufen!‹ Und dann träumte ich immer von meinem Begräbnis und wie du nachher so allein sein würdest, lieber, guter Vater. Nein, ich glaube, Gott will nicht, daß ich jetzt schon einen Sarg gebrauchen soll.«

Bewegungslos und sprachlos, das gebeugte Haupt aufgerichtet, mit den Händen die Knie fest umfassend, saß der alte Euclid da und sah seine Tochter starr an. Wohl war sie blaß und mager, ein kleines, zartes, schwächliches Wesen; aber ihre Augen waren so glänzend und ihr Gesicht so glücklich, wie er sie seit ihren fröhlichen Kinderjahren nicht gesehen, als sie noch nicht alt genug gewesen, um Mühsal und Elend des Lebens zu verstehen. Als sie seinem Blick begegnete, kamen ihr einen Augenblick die Tränen in die Augen; aber sie lachte und nickte ihm zu und wischte sie rasch wieder fort. Wenn Gott gedachte, ihm Victoria zu lassen, dann wollte er wahrlich nicht um ihren Sarg sorgen.

Sein Schlaf war diese Nacht oft gestört; aber die Gedanken, die ihn wach hielten, waren glückliche. Hatte er sich wirklich vor wenigen Stunden für einen alten unbrauchbaren Mann gehalten? Warum? Noch waren Jahre der Arbeit vor ihm, und er wollte am nächsten Morgen mit neuem Mut wieder beginnen. Wenn er nur die beiden nächsten Jahre täglich zwei Pfennige beiseitelegen könnte, einen Schilling die Woche, so war sein Schatz reichlich ersetzt. Aber wie, sollte er wieder unter Victorias Kissen liegen und ihr jenen verhängnisvollen Gesang ins Ohr flüstern? Er wollte das Geld auf die Bank bringen, und dort sollte es ohne Victorias Wissen anwachsen. Hiermit besänftigte sich sein Herz auch gegen Roger. Was sollte er auch tun bei einem solchen Vater? Einer seiner Knaben, war in Rogers Alter gestorben, und er dachte mit friedevoller Trauer an ihn und verwechselte beide Knaben miteinander in seinen halb wachenden, halb träumenden Gedanken.

Bessy mußte am nächsten Morgen allein nach dem Markte gehen, Euclid blieb zurück, um auf dem Polizeiamt in Rogers Angelegenheit Zeugnis abzulegen. Er und Victoria machten sich zur rechten Zeit auf den Weg und mußten eine lange Zeit auf dem großen Eingangshof warten, wo ein schmutziger und roher Haufen Männer, Weiber und Kinder versammelt war. Durch ihre lange Abgeschlossenheit auf ihrer Giebelstube war Victoria ihren Nachbarn stets ferngeblieben, und die wilden Gesichter und das rauhe, grobe Wesen dieser Menge erschreckte sie. Sie war froh, als ein Beamter sie und ihren Vater vorrief.

Zwar waren sie schon einmal dagewesen; aber ihnen kam der Raum doch wieder sehr weit und großartig vor, wenn er auch in Wahrheit eine kleine, schwach erleuchtete Halle war. Ungefähr fünfzig Zuschauer waren da, und dieselben standen in einem kleinen Raum im Hintergründe. Roger stand vor den Schranken, dem Richter gegenüber, und sah elend und verwirrt aus. Blackett, anständig gekleidet wie ein durchaus ehrenwerter Arbeiter, sah ihn von Zeit zu Zeit mit einem Blick an, der ihn schaudern machte. Euclid und Victoria legten ihre Zeugenaussage ab, und der Polizist, der Roger arretiert hatte, erzählte, was derselbe beim Eingeständnis seines Diebstahls gesagt. Seine Schuld unterlag keinem Zweifel, aber war sein Vater mitschuldig?

Wohl hegten alle starken Verdacht; aber niemand hatte Beweise. Blackett sagte dem Gericht, daß Roger durch und durch ein Lügner wäre, wie er auch ein Dieb sei. Er habe ihn oft wegen seines schlechten Betragens geschlagen und alles versucht, um ihn zu bessern. Ihm wäre das Geld in dieser Zeit so knapp gewesen, daß er am Tage des Raubes habe ausgehen müssen, um auf dem Lande Arbeit zu suchen. Kein Schilling, kein Penny könne ihm nachgewiesen werden, und wenn der Knabe schwöre, daß er ihm alles gegeben, so sei es wieder nur eine von seinen hundert Lügen. Er würde froh sein, wenn man den Jungen ins Gefängnis schickte, wo man auf ihn achten und ihn ein Handwerk lehren würde.

»Ich habe noch etwas zu sagen,« rief Euclid aus und trat rasch in die Zeugenloge, sobald Blackett sie verlassen.

Dort stand er wie auf einer Art Kanzel und wie ein rauher, ungekämmter, alter Prediger. Sein wildes graues Haar fiel auf seine runzlige Stirn, fast bis zu den dicken Augenbrauen, unter welchen seine sonst trüben matten Augen jetzt in Ernst und Entschlossenheit glänzten. Er erfaßte das Holzwerk vor sich mit beiden Händen und wandte seinen Blick abwechselnd vom Richter zu Roger.

»Senden Sie ihn nicht ins Gefängnis, Ew. Gnaden,« rief er in einem Ton der innigsten Bitte aus. Ich vergebe ihm gerne und Victoria auch. Es war das für ihren Sarg bestimmte Geld, das er gestohlen, und sie meint nur, Gott wolle sie vielleicht noch gar nicht sterben lassen. Ich fürchtete, das Kirchspiel würde sie begraben. Das Kirchspiel,« rief er mit seiner gellenden Stimme, die durch den ganzen Saal tönte, »das war meine Furcht, sonst wäre ich nie zur Polizei gegangen. Er ist noch ein junger Bursche, Ew. Gnaden, und wenn Ihr ihn ins Gefängnis schickt, wird er ein Dieb werden. Seine beiden Brüder sind auch im Gefängnis gewesen und sind jetzt völlige Diebe. O, Ew. Gnaden, versuchen Sie es anders mit Roger. Versuchen Sie erst, ob nicht etwas Besseres aus ihm wird, wenn er nicht ins Gefängnis kommt; seinen Brüdern ist es wahrlich nicht gut gewesen. Es würde uns das Herz schwer machen zu denken, daß Victoria und ich mit daran schuld wären, daß er ein Dieb geworden. Das Gefängnis taugt nicht für junge Burschen, es taugt überall nicht viel. O, lassen Sie ihn frei, gnädiger Herr, ich vergebe ihm gerne und Victoria tut es auch. Nur lassen Sie uns nicht mit dem Gedanken zu Hause sitzen, daß er ins Gefängnis geschickt und durch uns ein Dieb geworden ist.«

Euclid hatte rasch und eifrig gesprochen und die schwachen Bemühungen des nächsten Polizisten, ihn zum Schweigen zu bringen, unbeachtet gelassen. Alle im Gerichtssaal hörten ihm aufmerksam zu, wie man es immer bei einer dringenden und herzlichen Bitte tut. Victorias trauriges kleines Gesichtchen, gegen Roger gewandt, bat auch beredt für ihn, und der Knabe verbarg das Gesicht und brach in lautes Weinen aus, als Euclid endigte. Ein Herr, der hinter dem Beamten saß, schrieb eilig einige Worte auf ein Stück Papier und reichte sie dem Richter, der hineinblickte und sich an Euclid wandte.

»Auf Ihre Bitte wird heute noch nicht das Urteil des Knaben gesprochen werden, sondern wir werden ihn nächste Woche wieder vorladen. Es sollen Erkundigungen über Blacketts Verhältnisse eingezogen werden, ob er nicht die Mittel hat, etwas für seines Sohnes Unterhalt zu zahlen, und ebenso, ob der Knabe in irgendeine Gewerbeschule ausgenommen werden kann. Blackett, wenn Ihre beiden ältesten Söhne Diebe sind, so spricht das sehr gegen Sie, und ich werde dafür sorgen, daß die Polizei Sie und Ihr ganzes Verhalten mit wachsamem Auge beobachtet. Sie können jetzt gehen.«

In Blacketts Gesicht lag ein verhängnisvoller Zug des Hasses, als er sich bei Euclid und Victoria beim Hinausgehen vorbeidrängte. Euclid bemerkte denselben, sprach aber nicht davon zu Victoria, die überglücklich war in dem Gedanken, daß Roger dem ihm drohenden Schicksal entgangen, und zugleich stolz auf ihren Vater war, der so schön vor dem Gerichte hatte sprechen können. Daran würde sie noch lange denken, und sie konnten noch oft davon miteinander sprechen.

Als Bessy am Abend die guten Nachrichten von Roger hörte, brach sie in ein leidenschaftliches Weinen und Schluchzen aus. Es war nicht, weil Roger gerettet, es war vielmehr, weil David verloren. »O Mutter, Mutter,« rief sie immer wieder, »wenn sie doch dasselbe für unsern David getan hätten! Und Mutter sagte immer, er solle ein guter Mann, wie sein Vater, werden.«


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