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Zum zweitenmal oder, wie es im Gefängnisbericht stand, zum drittenmal, war David Felton dem Gefängnis überliefert worden. David wußte, daß der Gefängnisbericht falsch war. Noch mehr, er fühlte, daß sein erstes Vergehen keine so schwere Strafe verdient hatte. Und wenn er daran dachte, daß er diesmal nur seiner Mutter guten Namen verteidigt und versucht hatte, ihr rechtmäßiges Eigentum zurückzuerhalten, dann empörte sich die ganze Natur des Knaben unter dem Bewußtsein dieser grausamen Ungerechtigkeit.
Er würde es wieder tun, rief es laut in ihm, und wenn auch alle Richter und Polizisten der ganzen Welt auf ihn sähen. Warum sollte seiner Mutter auch der einzige Schatz, den sie besessen, genommen werden? und warum sollte er ruhig dabeistehen, wenn seine Mutter so genannt wurde, wie der alte Quirk es getan? Seine Mutter war so gut, wie nur irgendeine Frau in London, und er war bereit, mit jedermann zu kämpfen, der auf sie schalt.
Er war noch ein Knabe. In vielen Häusern würde man ihn zu den Kindern gerechnet haben, und die Fehler seines Temperaments würden entweder übersehen sein, oder man hätte mit Milde versucht, sie zu bekämpfen. Er war wegen einer Tat im Gefängnis, welche die meisten Männer an ihren Söhnen nur gelobt hätten. Jedes Mal hatte das Verhör, das ihn zu einer dreimonatigen Haft verurteilte, nicht mehr als fünf Minuten in Anspruch genommen. Polizeiämter sind geschäftige Stätten, mit einem steten Drängen, die Sachen möglichst rasch zu erledigen, und ein Polizeirichter hat keine Zeit, die Aussage der Knaben näher zu untersuchen, die in zehn Fällen neunmal lügen. David war arretiert auf frischer Tat bei einer Verletzung des Gesetzes, und das für die Uebeltäter gemachte Gesetz riß auch ihn in seinem rastlosen Strom mit sich fort zum Gefängnis.
Das Gefängnis war nicht dasselbe, aus dem er eben entlassen; aber es bestand eine traurige Aehnlichkeit zwischen beiden. Er fühlte sich dort nicht mehr wie ein Fremder – nur eine Nacht und einen Tag mit seiner sterbenden Mutter – und schon wieder lagen drei lange Monate Gefängnis vor ihm. Aber diesmal war er finster und mürrisch, wenn er an das Unrecht dachte, das ihm geschehen. Jetzt hielt ihn die Hoffnung nicht mehr aufrecht, daß er ein Geschäft erlernen würde, durch welches er einst seine Mutter und Bessy ernähren könne. Er wußte sicher, daß seine Mutter tot war, ehe diese zweite Haft verbüßt, und für die kleine Bessy war es besser, sie hatte nichts mit einem Bruder zu tun, der bereits zweimal im Gefängnis gewesen.
David war trotzig und widerspenstig. Was machte es ihm noch aus, wenn sie ihn ins schwarze Loch warfen, wohin nie ein Lichtstrahl dringen konnte? Die Dunkelheit konnte ihn nicht schrecken, oder wenn sie es tat, wollte er sich dagegen verhärten, wie er sich gegen jede Strafe und jeden Verweis verhärtete. Er konnte sein Elend nicht in Worten ausdrücken; man hätte ebenso gut von ihm verlangen können, ein Bild seiner Gefängniszelle auf Leinwand zu malen. Seine Zunge war stumm; aber sein Gedächtnis und die Leidenschaft seines Herzens war niemals still. Sie flüsterten ihm fortwährend Worte des Hasses, der Rache und der Verachtung zu. David vollendete sein vierzehntes Lebensjahr im Gefängnisse.
Kaum konnte man den finster aussehenden, mürrisch blickenden Knaben, welcher nach seiner zweiten Haft im April entlassen wurde, für denselben halten, der im letzten Oktober voller Scham, aber doch entschlossen ausgegangen war, um Hilfe für seine Mutter zu erbitten. Er ging mit schlotternden Schritten durch die sonnigen Straßen unter dem blauen Himmel; aber er achtete nicht auf Sonnenschein und Wolken. In alten Zeiten hatten Bessy und er in der schmutzigen Straße doch auch den Wechsel der Jahreszeiten bemerkt, jetzt hatten sie keine Macht mehr über seine finstere Stimmung. Er schlenderte weiter; aber nicht heimwärts, er wußte nur zu wohl, daß er keine Heimat mehr hatte; – aber doch nach der alten bekannten Stätte, dem einzigen Fleck, den er auf Erden kannte, wo er wenigstens nicht ganz fremde Gesichter sehen und vielleicht auch etwas von Bessy erfahren konnte. Aber er war nicht in großer Eile. Er hatte ja keine Mutter mehr, die nach seinem Anblick hungerte.
Doch als er das alte Haus erreicht hatte, ging er geradewegs nach der alten Türe und klopfte an. Eine Fremde öffnete ihm und sah ihn mißtrauisch an. Da war keine Frau Felton, und sie hatte nie von einer solchen gehört. Sie war vor drei Wochen erst eingezogen und hatte zu viel mit dem Erwerb ihres Lebensunterhalts zu tun, als daß sie noch mit den Nachbarn hätte schwätzen können. Sie schlug die Türe vor ihm zu, und er hörte noch, wie sie dieselbe von innen verriegelte. Er hatte nicht einmal einen Blick in das alte, dunkle Gemach tun können, das er einst sein Heim genannt.
»Ich will hinaufgehen und Victoria fragen,« sagte David zu sich selbst. Er stieg die Treppe langsam und ruhig hinauf, nicht mit dem lebendigen Schritt eines tätigen, rastlosen Knaben, sondern mit dem zögernden, lautlosen Schritt des Verbrechers. Er schämte sich, Euclid und Victoria unter die Augen zu treten, und fürchtete beinahe, sie möchten die Tür auch vor ihm schließen. Aber als er die letzte Treppe erreicht, welche nach ihrer Bodenstube führte, sah er die Tür offen und stieg rascher.
Ja, die Tür war offen gestellt mit einem Stückchen Holz, um zu verhüten, daß sie immer in ihren Angeln hin und her schlug. Aber die Bodenstube war ganz leer. Es war keine Spur von ihren früheren Bewohnern geblieben, ausgenommen die Bilder, welche Victoria über den Kamin geklebt hatte. Alles war fort, der zerbrochene Stuhl, das Eckbrett, die ärmliche Wollmatratze auf dem Fußboden, der schwarze Kessel und der kleine braune Teetopf; nichts war dort geblieben. David setzte sich in die Ecke, wo einst Victorias Bett gestanden, und verbarg sein Gesicht in den Händen. Wenn noch ein schwacher Hoffnungsstrahl in ihm gewesen, hier Freunde und eine Zufluchtsstätte zu finden, so war er setzt erloschen. Er war ganz allein auf der Welt, die so grausam gegen ihn gewesen.
Vielleicht schlief er hier vor Kummer ein; aber nach längerer Zeit, als das Dunkel des Abends bereits eingebrochen, erhob er sich und stieg langsam die Treppe hinab. Auf dem zweiten Vorplatz klopfte er mit zitternder Hand und hob leise den Drücker. Er kannte den Arbeitsmann, der dort mit Frau und Kindern wohnte. Sie saßen beim Abendbrot, und der Mann rief: »Wer ist da?« als David sein blasses Gesicht durch die Tür steckte.
»Ich suche meine Mutter,« sagte er mit zögernder Stimme.
»Deine Mutter,« wiederholte der Mann und erhob sich ärgerlich; »ich weiß wohl, was du willst, du Diebesvogel. Mache, daß du fortkommst, du schleichender Dieb.«
Aber David wartete nicht, bis derselbe die Tür erreichte. Er schloß sie eilends und lief die Treppe hinab, als wenn er verfolgt würde. Als er über die Straße lief, hörte er seinen Namen aus Blacketts offener Tür rufen. Er stand augenblicklich still, in ihm erwachte ein schwacher Hoffnungsfunke, daß Roger vielleicht etwas von Bessy wisse.
»Komm herein, David,« rief des alten Blacketts Stimme, »komm herein! Jetzt wirst du ebenso gehetzt wie meine Jungen, nun brauchst du dich nicht mehr fern von mir zu halten. Wir wollen so fest wie Diebe aneinander halten. Komm herein, David, mein Junge,« fügte er in dem freundlichsten Ton, den er nur annehmen konnte, hinzu. »Du tust mir wirklich leid, ich habe dir auch noch manches zu erzählen.«
Einen Augenblick zögerte David noch, er dachte an die Furcht seiner Mutter vor diesem Nachbar; aber Blackett kam bis zur Tür und zog ihn auf keineswegs rauhe Art hinein.
»Du wolltest nach deiner armen Mutter sehen?« fragte Blackett in ernstem Ton.
David nickte nur.
»Sie ist tot, sie starb dieselbe Nacht, als sie dich zum zweitenmal auf drei Monate einsteckten.«
David sprach nicht, es ging auch keine Veränderung über sein hartes, trotziges Gesicht. Er hatte die ganze Zeit in der trostlosen Einsamkeit seiner Gefängniszelle schon gewußt, daß er seine Mutter nie wieder sehen würde. Doch als er nun vor Blacketts Tür stand, war ihm, als sähe er sie dort in jenem Zimmer auf dem Strohsack ihrer unbequemen Bettstelle liegen, daß weiße Gesicht und die hungrigen Augen nach der Tür gerichtet, um auf ihn zu warten, wenn er käme.
»Und Bessy ist fort – niemand weiß, wohin,« fuhr Blackett fort und sah den Knaben mit einem durchdringenden, finsteren Blick an. »Irgendwo auf der Straße wird sie wohl sein. Für Bessy ist auch nicht viel zu hoffen.«
David wankte und schauderte. Würde er je Klein-Bessy Wiedersehen? Niemals so wieder, wie er gewohnt war, sie zu sehen. In seiner Erinnerung lebte sie als das zarte junge Wesen, das seiner Fürsorge stets anvertraut war. Er hatte mit ihr gespielt, für sie gekämpft, sie hatten zusammen gegessen und waren zusammen hungrig gewesen, und jedes Ereignis ihres Lebens war ihnen gemeinsam, bis zu dem Tage, wo er ins Gefängnis geschickt wurde. Warum hatten sie Klein-Bessy nicht auch ins Gefängnis geschickt? Manches ebenso junge Mädchen war schon dorthin gebracht, und es war auch wohl nicht viel Hoffnung, daß Bessy lange sich würde davon fernhalten können.
»Königin Victoria und Lord Euclid sind auch verschwunden,« fuhr Blackett hohnlachend fort; »sie sind im Mondschein davongegangen und haben nicht soviel Manier gehabt, ihre Adresse zurückzulassen. All ihr Vermögen haben sie mitgenommen.«
Noch immer sprach David kein Wort und blickte nur Blackett so trostlos und verloren an, daß selbst dieser von solch äußerster Hoffnungslosigkeit gerührt ward.
»Komm, komm, mein Junge, und sprich nicht vom Sterben,« rief er aus. »Nimm einen Tropfen aus meinem Glas und fasse neuen Mut. Nimm nur einen guten Zug, David. Aber du hast noch nicht einmal nach Roger gefragt. Der hat mehr Glück als du gehabt. Er stahl ein Paket Geld, das unter Victorias Kopfkissen lag, und mein Herr Euclid ließ ihn dafür einstecken. Ich hoffte immer, ihn auf diese Weise loszuwerden, den armseligen Galgenstrick. Aber der hatte Glück. Der alte Euclid spricht und bittet beim Gericht für ihn, und da finden sie mit einem Male, daß es eine Sünde und Schande ist, solch einen Knaben, einen Knaben von vierzehn Jahren ins Gefängnis zu schicken. Da haben sie ihn denn zur Schule geschickt. Zur Schule, David, wo er jetzt ein ganz feiner Herr geworden ist.«
Hier stieß David einen lauten, bitteren Schrei aus. Warum hatten sie nicht dasselbe mit ihm getan? O, warum hatten sie ihn dem Gefängnis überliefert und Roger zur Schule geschickt? Er verbarg das Gesicht in den Händen, und heiße Tränen des Zornes und der Verzweiflung rollten ihm die Backen hinunter.
»Ich habe Bescheid bekommen, wöchentlich eine halbe Krone für ihn zu zahlen,« fuhr Blackett nach einer Pause fort. »Sechs Wochen habe ich es nun bezahlt, jetzt will ich ihnen aber entwischen. Ich gehe diese Nacht nach Surrey, und wenn du mit mir kommen willst, werde ich sagen, daß du mein Sohn bist, und diese Nacht werde ich das Quartier für dich bezahlen. Einer alten Nachbarin Sohn soll nicht auf der Straße schlafen. Komm, David! Du hast jetzt keinen andern Freund, und ich verlange nicht von dir, daß du ein Dieb werden sollst. Du kannst dir dein Brot ehrlich verdienen, wenn es dir möglich ist. Du bist kein solch träger Hund wie Roger, sonst würde ich nichts zu dir gesagt haben. Du wirst immer dein Brot und Käse wert sein, wenn du nur Arbeit bekommst. Komm, wir wollen zu Abend essen, ehe wir fortgehen.«
»Ich will kommen,« sagte David; bei dem Worte Abendessen ward er daran erinnert, daß er sehr hungrig war und keinen Penny besaß. Blackett hatte alle seine Habe bereits an den Mieter, der sein Zimmer genommen, verkauft, und so hatte er nichts zu tun, als ein Bündel Kleider und seine Glaser-Werkzeuge mitzunehmen. Es war schon Nacht, als sie über den Fluß setzten, um dorthin zu gehen, wo Blackett bei der Polizei nicht so bekannt war. David folgte ihm als seinem einzigen Freunde.