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Bessy stand, wie gewöhnlich, am frühen Morgen auf; David wäre mit ihr gegangen, wenn Euclid nicht gewesen wäre. Er scheute die Begegnung mit irgendeinem seiner Nachbarn; am liebsten wäre er nicht eher ausgegangen, als bis sein Haar wieder die gewöhnliche Länge gehabt hätte. Er blieb den ganzen Tag in der dumpfen, ungesunden Stube; manchmal sprach er mit seiner Mutter; meistens aber saß er schweigend da, den Kopf auf die Hände gestützt. Die Stunden schienen endlos zu sein; Hunger und Kälte hatte er mutig ertragen, und konnte es auch jetzt noch; aber die Schande konnte er nicht ertragen. Der Stolz auf einen guten Namen war die einzige Sittenlehre, die ihm je eingeprägt war, und nun war dieser verloren. Seine Mutter hatte Teilnahme genug, um zu ahnen, was ihn drückte; aber sie wußte nicht, wie sie ihn trösten sollte. Sie hatte ein unsicheres, unbestimmtes Bewußtsein davon, daß er seinen guten Namen nicht verwirkt, sondern daß man ihm denselben geraubt hatte.
Endlich kam der Abend und Bessy ging wieder aus, um das teure Pfand einzulösen. David und seine Mutter vergaßen einen Augenblick ihren Kummer bei dem Gedanken, daß der Ring nun bald wieder an der magern, runzligen Hand glänzen würde, die kaum noch der einst so kräftigen jungen Hand glich, die ihn zuerst getragen hatte. Es war ein nagelneuer Ring gewesen, als David Felton ihn kaufte; kein anderer genügte dem jungen stolzen Handwerker – ein dicker schwerer Ring, wie ihn die vornehmste Dame hätte tragen können.
»Hier ist er, Mutter!« rief Bessy, als sie beinahe atemlos mit dem kleinen, kostbaren Paket eintrat. David zündete das Licht an und leuchtete seiner Mutter, als diese mit zitternden Händen das Papier aufmachte. Aber was war dies? Ein dünner, abgenutzter, zu einem Faden abgetragener Ring! Er War dem, den sie alle kannten, ebenso ungleich, wie diese elende kahle Stube der freundlichen Wohnung, die David Felton einst für seine junge Frau eingerichtet hatte. Frau Felton stieß einen Schrei der Enttäuschung und Furcht aus.
»O David,« rief sie, »es ist nicht mein Ring! Meiner ist es nicht!«
Zwei Minuten nach jenem verhängnisvollen Schrei der Verzweiflung stand David atemlos, barhaupt, beinahe wahnsinnig vor Leidenschaft auf dem Straßenpflaster vor dem Leihhause. Er brauchte nicht hineinzugehen; denn Herr Quirk ging vor seinem Grundstück auf und ab, indem er die Vorübergehenden einlud, seine Waren zu betrachten. Er war ein kurzer, untersetzter Mann mit einem Gaunergesicht. David trat ihm mit totenbleichem Antlitz und flammenden Augen entgegen, indem er ihm den Ring hinhielt.
»Es ist nicht meiner Mutter Ring,« keuchte er, »Sie haben Bessy einen falschen Ring gegeben. Dies ist meiner Mutter Ring nicht!«
»Das ist der Ring der Mary Felton,« sprach Herr Quirk gedehnt und so verächtlich und kalt, als hätte er sich auf diesen Fall vorbereitet. »Das ist ihr Ring, den sie vor zwei Monaten bei mir verpfändet hat.«
»Geben Sie mir meiner Mutter eigenen Ring,« schrie David, und jeder Nerv und Muskel bebte vor Zorn in ihm, »geben Sie mir den Ring, Sie Spitzbube!«
»Es ist der Ring der Mary Felton,« beharrte der Pfandleiher hartnäckig, »und die ist als Säuferin und Diebin und wer weiß noch was alles bekannt.«
Kaum waren die Worte, die seiner Mutter guten Ruf angriffen, ausgesprochen, als David sich in seiner Wut und der ungewohnten Kraft, die er im Gefängnis erlangt hatte, auf den kleinen Mann, der auf keinen Angriff vorbereitet war, stürzte. Der Jüngling und der Mann waren keine ungleichen Kämpfer, und Schlag auf Schlag fiel. Der alte abgenutzte Ring fiel auf das Pflaster und wurde zertreten. Wie auf Zauberschlag stand ein Kreis von Zuschauern um sie herum, aber keinem fiel es ein, den Wettkampf, der sie belustigte, zu unterbrechen. Man hörte von allen Seiten Rufe der Ermutigung, bis die Kämpfenden niederfielen, David obendrauf.
»Geben Sie mir meiner Mutter Ring!« schrie er.
»Ich erhebe Anklage gegen ihn,« rief Herr Quirk, dem das Dazwischenkommen des Polizeidieners sehr willkommen war; David aber war zum Tode erschrocken, als er sah, welche Hand ihn hielt. »Ich tat nichts, und er stürzte wie ein Tiger auf mich los,« fügte der Leihhausbesitzer hinzu.
»Ja, das tat er; ich hab's gesehen,« rief eine Frau, die in der Ladentür stand; »er ist ein junger Sträfling; das kann jedermann sehen.«
Es war nur zu deutlich zu sehen. David hielt jetzt dem Griff des Polizeidieners mit einer Armensündermiene still; seine Blässe, sein Schreck zeugte mächtig gegen ihn.
Einer der Vorübergehenden, ein klug aussehender, wohlgekleideter Handwerker, drängte sich ein wenig vor und fragte: »Wie kamst du mit dem Mann in Streit? Was ist das mit dem Ring?« Aber der Polizist ließ David nicht antworten.
»Das geht mich nichts an,« sprach er scharf; »Sie erheben eine Anklage?«
Er redete Herrn Quirk an, der kläglich antwortete: »Ich bin Hausbesitzer und Steuerzahler und klage ihn an.«
»Dann wirst du dich vor Gericht verantworten,« sprach der Polizist zu David. »Fort mit dir.«
David blickte schnell auf die ihn umgebenden Gesichter. Einige kannte er, da stand Blackett und grinste triumphierend, und Roger guckte hinter ihm vor, halbbange, daß sein Vater ihn packen möchte. Euclid war einen Augenblick mit seinem Korbe stehengeblieben und sah mit verwundertem Gesichte zu. David wagte keinen bei Namen zu nennen; er rief nur mit einer so klagenden Stimme, daß mancher der gleichgültigen Zuschauer gerührt und aufmerksam wurde: »Will irgend jemand meiner Mutter sagen, was mir zugestoßen ist?«
Er sah, daß Roger ihm ein Zeichen machte, daß er seine Bitte erfüllen würde, dann mußte er fort nach der Polizeistation, um eine Nacht dort zuzubringen – kein unbekanntes und noch nicht dagewesenes Ereignis für David.
Bessy hatte die Tür halboffen gelassen und wartete sehnsüchtig auf Davids Rückkehr. Ihre Mutter hatte seit dem Augenblicke, daß sie das abgenutzte, schlechte Ding erblickt, fortwährend über den verlorenen Ring geschluchzt. Sie hatte gehört, daß auch andern Frauen der Trauring vertauscht oder unterschlagen worden und sie ihn nie wiederbekommen hätten. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß eine andere glücklichere Frau nun ihren Trauring tragen und gleich ihr schätzen würde. Tausend dunkle Erinnerungen und unausgesprochene Gedanken knüpften sich an den Ring, und diese waren darum nicht weniger wahr und tief, weil die arme Witwe nur eine ungebildete Frau war und ihre Gefühle nicht in Worte kleiden konnte. In äußerster Hilf- und Hoffnungslosigkeit lag sie stöhnend da, sie wußte nur zu gut, daß er für immer verloren war. Ehe sie David noch zurückerwarten konnten, kam Roger atemlos hereingelaufen. Das Licht brannte noch, und sie sahen deutlich sein erregtes Gesicht und seine heftigen Gebärden.
»Er ist wieder ins Gefängnis abgeführt,« rief er in abgebrochenen Sätzen aus. »Ich sah alles mit an. Er sprang auf den alten Quirk los, mutig wie eine Bulldogge. Er hatte ihn im Augenblick zu Boden geschlagen. Er hatte gesagt, Sie wären eine Säuferin, eine Diebin und wer weiß, was noch; das konnte David nicht ertragen. Ich hätt' ihm beigestanden; aber er hatte ihn im Augenblick niedergeworfen, und er hat tüchtig für Sie gekämpft.«
»Aber wo ist er?« keuchte die Mutter, ihre entsetzten Augen auf die Tür gerichtet, wo Bessy stand, als wartete sie noch auf David, um ihn einzulassen und dann zuzumachen.
»Ins Gefängnis abgeführt,« antwortete Roger mit einem der Flüche, die er von Kindheit an gehört hatte. »Mit einem Male war ein Büttel da, ehe ich ihn warnen konnte, er drängte sich durch alles durch, und der alte Quirk klagte ihn an; darauf brachten sie ihn nach der Polizeistation, um ihn bis morgen früh einzusperren. Er rief noch: ›sag's jemand meiner Mutter, was mir zugestoßen ist.‹ Er sah mich gerade an, und ich lief schnurstracks her. Vielleicht lassen sie ihn morgen früh wieder frei.«
Selbst Rogers ungeübtes Auge konnte die tödliche Blässe und die Veränderung, die das Antlitz der Kranken überzog, bemerken, als sie hörte, was er zu sagen hatte. Kein Wort, kein Schrei kam über ihre Lippen, aber sie sank auf ihr armseliges Sterbelager zurück und kehrte ihr verzweiflungsvolles Antlitz der Wand zu. Bessy schickte Roger fort, machte vorsorglich das Licht aus, kroch auf das harte Lager neben der Mutter, schlang ihren Arm um sie und sprach ihr Hoffnung zu, daß David befreit und Quirk bestraft würde, sobald die Wahrheit herauskäme. Aber der armen Frau war das Herz gebrochen, sie antwortete kein Wort, selbst der kleinen Bessy nicht, die sich endlich leise in den Schlaf weinte.
Wer kann sagen, wie lange die Stunden der Nacht waren? Draußen Finsternis und drinnen die schwarze Nacht der Verzweiflung! der quälende Hunger der Krankheit und der Seelenhunger nach dem Wohl ihrer Kinder; der kalte Todesschweiß und der eisige Todesstoß, den jede ihrer Hoffnungen für David erhalten. Als Bessy am frühen Morgen erwachte, lag ihre Mutter noch immer sprachlos da, sie wagte daher nicht, sie zu verlassen. Euclid trat seine tägliche Arbeit allein an. Es gab niemand, den sie hätte zu Hilfe rufen können, und so machte sie sich daran, ihre kleinen Pflichten zu erfüllen, ein spärliches Feuer anzumachen und eine Tasse Tee zu bereiten, die ihre Mutter jedoch nicht anrührte. Es war ein dunkler, trüber Wintermorgen, so dunkel war's in ihrer Wohnung, daß sie kaum ihrer Mutter Antlitz sehen konnte.
Der Nachmittag machte schon dem Abend Platz, der eine zweite Nacht der Verzweiflung und des Elends heraufführte, als Roger sich leise ins Zimmer stahl und lautlos ans Bett der Kranken schlich. Bessy saß neben ihr und hielt ihre Hand, als ob sie dadurch hier auf dieser für sie so schmerzreichen Erde festgehalten werden könnte. Seit Roger am vorigen Abend jene verhängnisvolle Nachricht gebracht, war keine Silbe über ihre Lippen gekommen, und kaum hatte sie sich bewegt. Nun aber, als ihr Ohr den Ton seiner Stimme hörte, öffnete sie die Augen noch einmal und richtete sie auf ihn. Er beugte sich nieder und flüsterte mitleidsvoll: »Er hat wieder drei Monate gekriegt, aber es tut nichts! Alle Menschen kommen im Leben mal ins Gefängnis.«
Die Lippen der Kranken zitterten, und die Augenlider sanken über ihre trüben Augen nieder. Bessy entschwand ihrem Blick, obwohl diese sich über sie beugte und »Mutter!« rief.
»Er hätte ein guter Mensch wie sein Vater werden können!« stöhnte sie mit ihrem letzten Atemzuge.